Tag 5 – Aufgalopp

„Meine Toleranz beginnt zu bröckeln, Osvaldo!“ höre ich meine Frau rufen, als ich mit meinem Freund Moritz das Haus verlasse. Wollen einen trinken gehen. Mitten in der Woche. Normalerweise gehe ich ja nur am Wochenende aus, aber … … aber es dürstet uns eben jetzt gerade. In diesem Moment. Kann man nix machen.

Bisher kamen mir ja nur Wunibald und Marliese in die Quere. Meine Frau blieb bis jetzt zum Glück außen vor. Bis jetzt wohlgemerkt. War mir klar, dass das nicht lange gut gehen konnte, wenn ich so etwas Wichtiges wie die Teilnahme an einer Fußball-Weltmeisterschaft plane. War ja schon in Brasilien so.

Nach einer relativ kurzen Wegstrecke fasse ich mir an die Hosentasche, um zu prüfen, ob ich auch an mein Handy gedacht habe. Das brauche ich für eventuelle Notfälle. Man weiß ja nie, was einen so des Nachts erwartet, wenn man in einem kleinen Dorf auf Tour geht. Merke, dass ich es vergessen habe. Gehe also wieder zurück zum Haus, schleiche mich so gut es geht an, drehe den Schlüssel vorsichtig, ganz leise, um und tapse wie ein Braunbär auf Zehenspitzen – immer schön gleichmäßig – in den Flur, gucke nach links, gucke nach rechts. Pfft, Glück gehabt, meine Frau scheint mich nicht zu hören …

„Osvaldo!“ Meine Frau taucht wie aus einem Paralleluniversum plötzlich und unerwartet direkt vor mir auf.

Sie baut sich über mir auf, die Arme angewinkelt in den Seiten, die Finger der beiden Hände wie ein Tiger zum Sprung auf sein Opfer gespreizt. Wie konnte ich vergessen, nach vorne zu gucken! Manchmal stelle ich mich an wie Oliver Hardy bei Dick und Doof, denke ich noch, als ich meine Frau sprechen höre: „Du hast Dein Handy vergessen, stimmt’s?“

Woher weiß die das?

„In letzter Zeit vergisst Du einfach alles, Osvaldo. Mit Dir geht es noch richtig bergab, wenn Du Dich nicht zusammenreißt. Benimm Dich doch mal wie ein ganz normaler erwachsener Mensch! Kann doch nicht so schwer sein. Jedes Mal muss ich Dir aus der Patsche helfen. Du gehst viel zu oft aus. Da passiert immer was, kann jeder drauf gehen. Das mache ich nicht mehr lange mit, hörst Du!?“

„Hab‘ doch bloß mein Handy vergessen. Damit ich Dich anrufen kann, falls wir mitten in der Nacht in Schwierigkeiten geraten sollten oder es gefährlich werden sollte oder wir irgendwo gestrandet sind. Meine es doch nur gut mit dir.“

Oh je. Kaum ausgesprochen, bemerke ich meinen fatalen Fehler. Schaue jetzt in zwei ungläubige Augen. Merke sofort, dass ich das besser nicht gesagt hätte. Wünsche mir jetzt, dass sie richtig laut mit mir rumhaust. Dann ist das zwar laut, aber es vergeht dann auch schnell wieder. Stattdessen guckt sie ganz ernst. Und beim Umdrehen höre ich sie mit leicht geneigtem Kopf leise, aber bestimmt sagen: „Mach langsam heute Nacht, hörst du. Komm wieder gesund nach Hause und mach‘ mir nicht schon wieder Kummer mit irgendeinem Blödsinn, Osvaldo. Versprichst Du mir das?“

„Klar!“, entgegne ich ihr sofort und ohne zu überlegen, „kennst mich doch!“

Beim Kehrtmachen meine ich noch, so etwas wie „eben deshalb“ gehört zu haben. Ist aber auch egal. Ich war jedenfalls wieder frei.

„Das lief jetzt besser als ich ursprünglich vermutete“, denke ich, „soll ich den Abend mit Moritz und den anderen Jungs vielleicht absagen und komplett auf gut Wetter machen?“ Langfristig gesehen wäre das bestimmt von Vorteil, aber da sehe ich schon meine Hände, die schon nach dem Handy greifen. Wie ferngesteuert. „Nun gut, dagegen bin ich schlicht machtlos“, rede ich mir ein und verlasse wieder das Haus, in Gedanken noch etwas bei der übriggebliebenen Toleranz. Aber – Gott sei Dank! – da ruft Moritz schon, wo ich denn bleiben würde. Die Kumpels hätten schon gefragt, wann wir denn endlich erscheinen würden. Na gut. Los geht’s!

Der FC Bayern spielt heute Champions-League. Muss mindestens mit vier Toren Unterschied gegen Paris St. Germain gewinnen, um Vorrunden-Gruppensieger zu werden. Wir begrüßen unsere Freunde, die im vereinbarten Lokal „Treff am Brunnen“ schon auf uns warten. Ich klopfe kurz auf den Tisch und gucke dabei in die Runde. Michel und drei weitere Freunde grüßen klopfend zurück.

Moritz, mein Freund aus Berlin, geboren in Süd-Dänemark, also ganz oben in Norddeutschland, derzeit für rund eine Woche bei mir zu Hause spontan auf Besuch, gibt dagegen jedem höflicherweise persönlich die Hand. Michel hat er tags zuvor schon kennengelernt. Auch mit Joe und Easy hatte er schon Gelegenheit, ein Bier zu schlumpsen. Nur die beiden älteren, unscheinbaren Herren daneben kennt er nicht. Ich auch nicht. Er geht trotzdem forsch hin und sagt freundlich „Guten Abend, ich bin der Moritz!“ Der eine Herr lächelt freundlich zurück, will aufstehen, schafft es aber nicht, und stellt sich dann ebenfalls vor: „Guten Abend, Maurer.“ Was dann passiert, schaffte erstmal ganz große Verwirrung, vor allem bei den beiden älteren Herren. „Ah, ok, so geht das hier!“, höre ich Moritz erfreut und laut ausrufen, „na gut, dann eben nochmal von vorne: Moritz, Schauspieler.“

Rätselraten. Auch wir anderen sehen uns fragend an. Moritz ist im wirklichen Leben, also wenn er nicht bei mir wohnt, von Beruf her echter Schauspieler. Und wer konnte schon ahnen, dass der eine der beiden Herren ausgerechnet „Maurer“ mit Nachnamen hieß. Ist aber auch egal. Das Eis war gebrochen.

Weiter ging’s. Moritz, der von Grund auf gut drauf ist, macht dann diesen „Abend in der Provinz“ zu einem wahren Erlebnis.

Die Wirtin kommt rein. „Habt Ihr noch alle?“

Moritz, den ich erstmals in meinem Leben total entgeistert und so etwas wie fassungslos erblicke, erstarrt für einen Moment, findet dann aber doch schnell wieder Worte und fährt ihr augenblicklich in die Parade: „Sagen Sie mal, haben Sie uns jetzt etwa gefragt, ob wir noch noch alle Tassen im Schrank haben? Ist das Ihr Ernst?“

„Nein, habe ich nicht. Dann hätte ich nämlich anders gefragt, und zwar: ‚Habt ihr sie noch alle?’“ Moritz ist erstmal wieder beruhigt, ist er doch neu bei uns im Dorf. Was so ein kleines Wort alles ausmachen kann.

Moritz, ausgewiesener Bayern-Gegner, läuft bei einer schnellen 2:0 Führung der Münchner mittlerweile ungeduldig im Raum auf und ab und hin und her.

„Was ist das hier?“, fragt er in die Runde.

Joe: „Das ist ein Witwentröster.“

„Ein was bitte …?“

Joe, nochmal ganz langsam und deutlichm mit bedeutungsgeschwängerter Miene: „Ein WIT –       WEN – TRÖ – STER.“

„Nee, oder!?“

„Nee, natürlich nicht. Das ist eine Art dicker Doppelhammer. Den braucht man, um den Brunnen vor der Tür auf- und wieder zuzudrehen.“

„ … ??? … Ach so …“

Insgesamt wurde das dann ein wunderschöner Abend. Auch weil Bayern nicht Gruppenerster wurde. Die kamen aber trotzdem weiter in die K.O.-Phase. Wer weiß, vielleicht bringt das bei der Auslosung ja auch Glück, wenn sie nur Gruppenzweiter werden. Wer weiß.

Während des Spiels bekomme ich sogar etwas „geschafft“. Ich bringe nämlich alle WM-Spielorte mit den Daten der jeweiligen Spieltage in eine selbstgemalte Übersicht. Müssen ja wissen, wo wir wann sein müssten, um unser Team durch Russland zu begleiten. Und um zu wissen, wo wir sein könnten, um mit Fans anderer Länder gemeinsam zu feiern.

Hier jedenfalls unser Planungsvorbereitungsgrundlagenzettel:

Obere Reihe:       Kalendertage

Linke Spalte:       Spielorte

X                     Spieltag an dem jeweiligen Spielort

(X)                   Spieltag der deutschen Mannschaft

(X)-s                 Spieltag der senegalesischen Mannschaft. Was das auf sich hat? Aufklärung folgt!

(X)-1                Möglicher Spieltag in der K-O.-Phase, wenn wir Gruppenerster werden

(X)-2                Möglicher Spieltag in der K-O.-Phase, wenn wir bloß Gruppenzweiter werden

==>                Mögliche Anreise

→                    Mögliche Weiterreise

→!                   Möglicherweise letzte Station

ohne Kennzeichnung:       Stationen bei Ausscheiden in der Gruppenphase (unvorstellbar)

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