Tag 14 – Auf den Spuren Michael Strogoffs (morgens)

„Ich fahre heute Abend noch zu Norberto und Michel, zum Planen“, rufe ich meiner Frau hinterher, als wir uns auf der Treppe begegnen.

„Was, die wohnen jetzt schon zusammen?“

„Nee. Wie kommst Du denn darauf?“

„Na, Du hast doch gerade gesagt, Du fährst jetzt zu Norberto und Michel. Das würde sich ja     wohl jeder wünschen, wenn die beiden zusammen wohnen würden. Und du könntest auch      noch mit einziehen. Dann wären viele Probleme auf einmal behoben. Das wäre überhaupt für     alle die Lösung schlechthin.“

Etwas ratlos komme ich im unteren Stockwerk an. Manchmal meine ich wirklich, meine Frau will mich loswerden. Egal.

Was ich noch erzählen muss: Wir haben einen neuen Freund. Der hat jetzt gesagt, er würde gerne mit uns mitfahren nach Russland. Da unser Herrmann ja nicht mehr dabei wäre. Herrmann meinte, für ihn sein das mit Russland zu große Strapazen. Brasilien sei sein Lebenshöhepunkt gewesen. Wir akzeptieren das.

Unser Neuer? Ein toller Typ. So ein bisschen geheimnisvoll. Sagen wir mal, sein Name wäre D’Artagnan. So wie das Musketier. So ist er auch: Ohne Furcht und Tadel.

Gut, das mit dem Tadel weiß ich nicht so genau. Und Furcht? Höchstens vor seiner Gattin. Gut. Oder … nein … Vielleicht nennen wir ihn doch lieber anders.

Vielleicht sagen wir lieber „Der Graf von Monte Christo“ zu ihm. So sieht er jedenfalls in etwa aus. Wie Edmond Dantès in der berühmten Verfilmung des Romans von Alexandre Dumas. Also wie jemand, der nach 14 Jahren Kerkerhaft gerade endlich wieder frei kommt. Steht ihm aber gut. Hat so was Verruchtes. Ich glaube, darauf stehen die russischen Frauen. Wild, verrucht, unzüchtig. So wie ein Zottelbär, den man den ganzen Tag knuddeln möchte. Ob ihm das gefallen wird, wenn ich ihm das so sage? Besser nicht.

Schaue nach … Spaziere ins Internet und recherchiere nach großen russischen Romanen. Aha! Da haben wir’s doch: „Der Kurier des Zaren“ von Jules Vernes. Erzählt wird die Geschichte des Sibiriers Michael Strogoff, eines Offiziers, der als Kurier im Dienste des Zaren steht.

Na, wer sagt’s denn. Nennen wir unseren Neuen einfach … nein, nicht Michel, den haben wir ja schon … Sagen wir … er heißt „Strogoff“. Oder „Stroganoff“, das würde auch noch gehen. Damit kann man definitiv was anfangen. Der wird sich bestimmt freuen, wenn wir ihn so rufen. Ist dem Trunke ja auch nicht völlig abgeneigt.

Hoffentlich bringen die dann in Russland nicht immer karrenweise Wodka, wenn wir nach unserem Freund rufen. „Wodka Stroganoff“ soll es ja auch als eigenes Getränk geben. Egal. Einfach mal abwarten, was sich in Russland so auftut und auf uns zukommt. Das erste, was wir in Russland gemeinsam machen, schwebt mir jetzt schon deutlich – und zwar sehr, sehr deutlich – vor Augen: Wir graben die geschmuggelte Wodka-Stroganoff-Flasche aus unserem Koffer aus und stoßen auf unseren neuen Freund an. Direkt beim Eintritt in russisches Hoheitsgebiet. Da freue ich mich jetzt schon drauf! Vielleicht wollen die von der Grenzkontrolle ja sogar mittrinken und mit uns anprosten? Vielleicht fragen wir die einfach mal, wenn es so weit ist. Mal schauen.

Schaue jetzt aber erstmal weiter. Was steht denn da noch über den Helden im „Kurier des Zaren“? Ich lese bei Wikipedia:

„Strogoff ist ein athletischer Sibirier, von herausragenden Körperkräften und bestem Charakter, und er ist ein tapferer Soldat, der seine einfachen Wurzeln nicht vergessen hat. Er liebt innig seine Mutter und sein Vaterland. Wegen der herumstreunenden räuberischen Tataren kann Michael Strogoff nicht in offizieller Mission, sondern nur inkognito als Kaufmann (Tuchhändler) Nikolaus Korpanoff reisen. Mit der Eisenbahn, per Dampfschiff, mit Pferd und Wagen und zu Fuß macht sich Strogoff auf den gefährlichen Weg durch Sibirien. Auf dem Weg lernt er die junge Nadja Fedor kennen, die ebenfalls nach Irkutsk unterwegs ist. Sie will bei ihrem Vater bleiben, der dort in der Verbannung lebt. Außerdem macht Strogoff die Bekanntschaft zweier Kriegsberichterstatter, des Briten Harry Blount vom Londoner „Daily Telegraph“ und des Franzosen Alcide Jolivet aus Paris, die ebenfalls nach Sibirien unterwegs sind, um von der Tatarenrebellion zu berichten. Strogoff hat ein Abenteuer nach dem anderen zu bestehen, und dass Ogareff seinen Auftrag kennt, macht die Sache für ihn noch gefährlicher.

Ach was! Das erinnert mich irgendwie schwer an unsere bevorstehende Zeit. Unser Stroganoff ist ja auch athletisch. Zumindest war er das mal. Gut, schon etwa 30 Jahre her, aber immerhin. Er hat sich jedenfalls besser gehalten als ich. „Herausragende Körperkräfte“ hat er auch. Was damit wohl gemeint ist? Muss mal seine Frau fragen, vielleicht weiß die das, kennt ihn ja besser. Haben immerhin eigene Kinder. „Bester Charakter“? Nun gut, er ist mit uns unterwegs. Das spricht erstmal total gegen ihn. So gut kann sein Charakter also gar nicht sein. Aber lassen wir das trotzdem mal so stehen. „Räuberische Tataren“? Gibt es die immer noch? Keine Ahnung. Werde ich mir später mal genauer ansehen. Und er reist „inkognito“. Das muss er nun aber echt nicht machen. Er hat ja uns, Norberto, Michel und mich, den Osvaldo. … …

Oha, jetzt kommt’s: „… lernt dann ein junges Mädel kennen …“ Oioioio. Wenn das rauskommt. Ist vielleicht doch besser , er reist inkognito. Wir machen einfach so, als ob wir ihn nicht kennen. Ist eben unabsichtlich bei uns. Eine Bekanntschaft, die rein zufällig den ganzen Weg durch Russland die gleiche Strecke nimmt wie wir. Ja, das geht, glaube ich.

Und „ein Abenteuer nach dem anderen zu bestehen …?“ Wir und Abenteuer? Kann das gut gehen? Für uns ist es normalerweise ja schon Abenteuer, wenn wir ins Geschäft müssen. Einkaufen ist für jeden von uns eine Qual. Egal. Wir nehmen die Herausforderungen an. Wir haben unseren Helden ja dabei. Stroganoff ist unser „hero“.

Nun, lassen wir einfach alles auf uns zukommen. Stroganoff sei mit uns.

 

COMMENTS