Tag 1 – Ein denkbar ungünstiger Start in die WM-Vorbereitungen

Wunibald wird sich wundern. Freue mich wie Bolle drauf, zu ihm zu gehen. Er hatte mal erwähnt, dass er in seinem Wirtshaus, das er im Nachbarort betreibt, die Auslosung zur Fußball-Weltmeisterschaft 2018 in Russland auf seinem Großbild-TV anschauen wird. „Gäste dürfen mitgucken“, meinte er.

Damit ich bei ihm was trinken kann, lasse ich mich von meiner Frau mit dem Auto dorthin bringen. Kurz vor vier trete ich in seine gute Stube ein. Ab 16.05 Uhr soll die Übertragung losgehen. Der Fernseher läuft schon. Ist echt ein Riesen-Teil. Hängt zentral an der Wand direkt gegenüber der Theke. „Genau mein Platz“, denke ich mir. Freudig begrüßt er mich. „Wäre er ein Hundchen, würde er mit dem Schwanz wackeln“, glaube ich. Auf Details und Mutmaßungen möchte ich an dieser Stelle aber nicht eingehen.

Na ja, jedenfalls läuft der Fernseher.

„Wunibald, kommt die Live-Übertragung auch in diesem Programm? Ich meine, du hast Programm Nummer 337 an?“, möchte ich auf Nummer sicher gehen, ob er auch weiß, was er tut.

„Ja, ja, das kommt nachher“, antwortet er und wirkt dabei irgendwie geistesabwesend.

Gucke nochmal genau hin. Sehe da ein paar Buchstaben oben rechts. „RBB“, lese ich da. „Was bedeutet RBB?“

„RBB bedeutet Rundfunk Berlin-Brandenburg“, meint Wunibald wichtig.

Oha.

„Das ist mein Lieblingssender, Osvaldo“, und schaut mich dabei vielsagend an.

Mir schwant Böses.

„Was kommt denn da jetzt?“

„Na, meine Lieblingssendung. Und auch die meiner Frau Marliese.“

„Und w-w-w-was ist eure Lieblings… eure Lieb… Lieblingssendung? Und warum kommt die ausgerechnet jetzt?“ Ich klinge schon leicht verzweifelt.

„Gefragt – Gejagt. Eine 1-A-Ratesendung. Raten wir jeden Nachmittag mit, die Marliese und ich. Und vorher kommt rbb-AKTUELL. Immer die neuesten Nachrichten. Man muss ja auf dem Laufenden bleiben.“

Eieiei.

„Kommt eure Sendung auch freitags, auch heute, wo doch in der ARD die Weltmeisterschaft ausgelost wird?“

„Ja, klar. Die Sendung kommt täglich. Beginnt um 16.15 Uhr. Dauert aber bloß 45 Minuten. Die Zeit geht sau-schnell rum, wirst sehen.“

Ich fass‘ es nicht. Das meint der doch niemals im Ernst. Ich versuche, Land zu gewinnen. „Jo, jo, Wunibald, du alter Scherzkeks. Jetzt schalt‘ bitte um. Die Auslosung läuft schon!“ Mittlerweile ist es 16.10 Uhr.

„Ja, ja, die Auslosung läuft ja noch eine Weile. Die reden am Anfang ja nur. Über die Vorberichte rege ich mich doch immer so auf.“

Werde immer fassungsloser. Verliere, glaube ich, nach und nach auch meine Gesichtsfarbe. Das darf alles nicht wahr sein. Wie lange will er mich noch auf die Folter spannen? Wie konnte ich mich bloß darauf einlassen? Wie konnte ich bloß so blauäugig sein, obwohl ich doch genau wusste, dass der Wunibald mit Sport noch nie was am Hut hatte und lieber zwölf Schachpartien nacheinander beobachtet als ein Endspiel einer Fußball-Weltmeisterschaft mit deutscher Beteiligung live anzuschauen.

Es ist 16:25 Uhr, „Gefragt – Gejagt“ läuft mittlerweile. So langsam wird es bedrohlich. Unsere deutsche Mannschaft ist bestimmt mittlerweile schon Kolumbien, Island und Nigeria zugelost worden. Wie soll ich ihr beistehen, wenn ich ausgebremst werde? Immerhin bin ich mit meinen Freunden Norberto, Michel und Herrmann so was wie Titelverteidiger!

Wie schön war das vor vier Jahren, als wir vier gemeinsam – zum Händchenhalten hätte nicht mehr viel gefehlt – und zitternd vor Aufregung die Auslosung live am TV verfolgten? Und wie wir dann schließlich den Titel mit nach Deutschland gebracht haben. Der Jogi ist uns heute noch dankbar. Glaube ich zumindest.

Und jetzt?

Mittlerweile ist es 16.30 Uhr. Mit Michel stehe ich per WhatsApp in Kontakt. Schreibe ihm: „Wunibald und Marliese starren jetzt seit 15 Minuten völlig gebannt auf den Bildschirm. Haben aber das falsche Programm an. Außer mir keine Gäste.“

Michel schreibt zurück: „Scherzkeks!“

Au Mann. Das hätte er jetzt besser nicht schreiben sollen. Das trifft mich.

Versuche, ihm zu vermitteln, dass ich nicht zum Spaßen aufgelegt und quasi in einer hoffnungslosen Situation gefangen bin. Komme ja nicht weg, habe ja das Auto unbedachterweise meiner Frau überlassen. Schildere ihm (in fünf weiteren, teils dramatischen) Nachrichten noch einmal eindringlich meine aktuelle Situation. Er bedauert mich. Aufrichtig. „Au Mann“ antwortet er. Um 16.39 Uhr und 43 Sekunden dann meine letzte verzweifelte Nachricht: „Bitte schreib mir alles Wichtige.“ Ich habe das Gefühl, er nickt mir durch WhatsApp zu.

Wunibald und Marliese begucken weiter intensiv den riesigen, meines Erachtens zweckentfremdeten Bildschirm und hauen ab und an ein paar Wortfetzen raus. Manchmal wiederholen die Kandidaten die zuvor von ihnen genannten Wörter. Dann freuen sie sich. Denn dann lagen sie richtig.

Irgendwie möchte ich mich meinem Schicksal aber nicht einfach so ergeben und starte einen allerletzten Versuch. „Hör mal, Wunibald, meinst Du, ich könnte mich selbst hinter der Theke bedienen?“ Wunibald weiß, was es bedeutet, wenn ich mich nicht vor, sondern hinter der Theke zu schaffen mache. „Das zieht jetzt aber bestimmt!“ grinse ich siegessicher. „Ja, ja, greif zu, Osvaldo, es ist ja außer dir niemand da.“ Bäng! Das saß. Gebe endgültig auf.

Ich schaue dann mal näher hin und höre zu, was sich auf dem Bildschirm so abspielt. Vielleicht kann ich sie doch noch irgendwie aus dem Konzept bringen. Gelingt mir sonst ja auch schon mal ab und zu bei weitaus schwierigeren Situationen.

„Welcher Bundeskanzler wurde ‚Der Dicke‘ genannt?“, fragt der Moderator.

Ganz klar, das war der Kohl. Der ließ kein Fettnäpfchen aus. Aber er war um Klassen besser als die Frau, die wir heute haben, ich meine die Frau … Na, wie lautet der Name nochmal? Was soll’s. Fällt mir im Moment nicht ein. Ist aber nicht wichtig, wird in der Sendung ja nicht danach gefragt. Ich frage mich, mit welcher Bezeichnung wird die Frau wohl in die Geschichtsbücher eingehen? Ich kann es mir irgendwie vorstellen und bin überzeugt, dass sie bestimmt nicht so gut wegkommen wird wie „Der Dicke“.

„Welche Blume hat manchmal auch etwas mit einem Auge zu tun?“

„Veilchen!“ stoße ich hervor. Das ist ja einfach.

„Wer war der Endspielgegner der deutschen Fußball-Nationalmannschaft 2014?“

„Argentinien, das war Argentinien!“, rufe ich – mittlerweile fast begeistert – in die kleine Runde. Wunibald und Marliese nicken anerkennend in meine Richtung. Damit hätten die jetzt wohl nicht gerechnet. Ha! So langsam macht mir die Sendung Spaß.

Die restliche Zeit der Sendung geht dann wirklich rum wie im Flug. Mit den meisten Fragen konnte ich zwar nix anfangen. Aber der Wunibald und die Marliese, die wussten fast alles.

„Was, schon aus?“, frage ich um 17 Uhr, mittlerweile schon etwas enttäuscht.

„Wir können jetzt ja zur Auslosung umschalten, Osvaldo. Das wolltest Du doch, oder nicht?“

Oh mein Gott! Die Auslosung! „Ja, bitte, schalt‘ ganz schnell um!“

Höre dann nur noch, wie es heißt „So viel für heute zur spannenden Auslosung zur Fußball-Weltmeisterschaft 2018 in Russland. Wir danken Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und auf Wiedersehen.“

Das war’s dann. Sitze wie ein Häufchen Elend – um einiges, meines Erachtens aber unnützes Wissen reicher – an Wunibalds Theke und kippe ein weiteres Bier in mich rein. Der Abend ist gelaufen.

Schaue in WhatsApp rein. Sehe, dass der Michel Wort gehalten hat und folgende Nachrichten übermittelt hat:

01.12.17, 16:42:59: Michel: México

01.12.17, 16:49:49: Michel: Schweden

01.12.17, 16:58:57: Michel: Südkorea

01.12.17, 16:59:12: Michel: Wir beraten uns später.

Na ja, immerhin, denke ich – machbare Aufgaben. Und ziemlich interessant obendrein.

 

COMMENTS