„Stalinistische Haftstrafe“: russische Stimmen zur Verurteilung von Wladimir Kara-Mursa

„Stalinistische Haftstrafe“: russische Stimmen zur Verurteilung von Wladimir Kara-Mursa

Der russische oppositionelle Politiker, Journalist und Publizist ist am Montag zu 25 Jahren Haft wegen Hochverrats und „Fake-News“ über die russische Armee verurteilt worden. Kara-Mursa gilt als einer der Autoren des sogenannten Magnitsky Act – eines Gesetzes, das 2012 vom US-Kongress verabschiedet wurdet. Das Gesetz sollte russische Beamte bestrafen, die für den Tod des russischen Steuerberaters Sergei Magnitski, der 2009 in einem Moskauer Gefängnis starb, verantwortlich waren.

In seinem letzten Wort sagte Kara-Mursa: „Aber ich weiß auch, dass der Tag kommen wird, an dem sich die Finsternis über unserem Land lichten wird. Wenn Schwarz schwarz genannt wird und Weiß weiß; wenn offiziell anerkannt wird, dass zwei mal zwei immer noch vier ist; wenn der Krieg ein Krieg genannt wird und der Usurpator ein Usurpator; und wenn diejenigen, die den Krieg angezettelt und entfesselt haben, als Verbrecher anerkannt werden und nicht als diejenigen, die versucht haben, ihn zu verhindern. Dieser Tag wird so unausweichlich kommen, wie der Frühling selbst den kältesten Winter ablöst. Und dann wird unsere Gesellschaft ihre Augen öffnen und entsetzt sein über die schrecklichen Verbrechen, die in ihrem Namen begangen wurden. Mit diesem Bewusstsein, mit diesem Verständnis wird der lange, schwierige, aber für uns alle so wichtige Weg der Erholung und Wiederherstellung Russlands, seiner Rückkehr in die Gemeinschaft der zivilisierten Länder beginnen.“

Viele russische Journalisten, Oppositionelle, Politologen und Juristen reagierten entsetzt auf das drakonische Urteil.

Abbas Galljamow, Politologe:

„Aus Sicht der öffentlichen Meinung liegen solch gigantischen Haftstrafen nicht im Interesse der Regierung. Die überwältigende Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger des Landes hat Angst vor Machtmissbrauch und möchte diesem nicht ausgesetzt sein. Aus diesem Grund hat der Kreml viele Jahre lang versucht, offene politische Repressionen zu vermeiden. Er hat darauf geachtet, dass die Strafe in einem angemessenen Verhältnis zur Straftat steht. Wenn jemals ein Oppositioneller verhaftet wurde, so geschah dies als Ausnahme von der Regel, und die Strafen waren nicht sehr einschüchternd. Die entscheidende Veränderung in dieser Hinsicht ist das Ergebnis davon, dass die Kontrolle über den politischen Prozess im Land jetzt von den Sicherheitskräften übernommen wird, nicht mehr vom Kreml. Diese Menschen, in ihrer überwältigenden Mehrheit, verstehen so etwas wie „öffentliche Meinung“, „Legitimität“, „Einschaltquoten“ und „Image“ überhaupt nicht. Das ist für sie ein Buch mit sieben Siegeln. Der Großteil der Uniformierten begreift nicht, dass sie mit ihrem Handeln die soziale Basis des Regimes und seine langfristigen Perspektiven vernichtet.“

Maria Eismont, Anwältin von Wladimir Kara-Mursa:

 „25 Jahre. Das ist die Höchststrafe. Nach dem Wortlaut des Gesetzes hätte man eine solche Strafe kaum verhängt werden können. Man hat den Eindruck, dass, wenn mehr hätte verhängt werden können, hätten sie das auch gemacht. Das ist genau das, was der Staatsanwalt gefordert hat. Das ist eine sehr beängstigende, aber hohe Einschätzung von Wladimirs Arbeit als Politiker, als Bürger. So nimmt er dieses Urteil wahr. Als er es hörte, sagte er: „Mein Selbstwertgefühl ist sogar gestiegen. Mir wurde klar, dass ich alles richtig gemacht habe. 25 Jahre ist die höchste Punktzahl, die ich für das bekommen konnte, was ich getan habe, woran ich als Bürger, als Patriot, als Politiker geglaubt habe. Ich habe also alles richtig gemacht.“

Fjodor Krasheninnikow, Politikwissenschaftler:

„25 Jahre – ich kann diese Zahl nicht begreifen! Staatsanwälte und all diese stinkenden Putin-Schleimer – verstehen die überhaupt, dass es einfach lächerlich ist, einem Mann, der niemanden umgebracht oder etwas gestohlen hat, eine solche Haftstrafe aufzuerlegen? Sie sind völlig von Sinnen.“

Alexej Wenediktow, Journalist:

„Ich möchte wiederholen, dass Wladimir Kara-Mursa (meiner Meinung nach) ein ehrlicher und anständiger Mann ist, der Russland liebt und keinen „Staatsverrat“ begangen hat. Seine heutige Verurteilung zu 25 Jahren Gefängnis ist ein politisches Urteil, unfair und ungerecht. Dieses Urteil sollte aufgehoben werden, und Wladimir sollte freigelassen werden und eine Entschuldigung erhalten.“

 Lew Schlosberg, Politiker:

 „Wenn ein Gericht ein Urteil in einer politisch motivierten Strafsache fällt, verurteilt es nicht den Angeklagten, sondern den Staat, auch sich selbst. Politische Repression ist immer ein Urteil gegen den Staat.“

Julia Galjamina, Politikerin:

„Es gab überhaupt keine Hoffnung. Das war nicht der Sinn des Ganzen, dass es eine Art Befreiung geben würde. Es ist klar, dass diese Leute weder Barmherzigkeit noch Menschlichkeit besitzen, ganz zu schweigen von Gerechtigkeit und Rechtmäßigkeit. Es geht nicht um sie. Es sind Menschen, die das Böse in ihrer Seele haben und nach diesem Bösen handeln.“

Tamara Edelmann, Geschichtslehrerin und Bloggerin:

„Heute wurde ein stalinistisches Urteil über Wolodja Kara-Mursa verhängt, den Sohn meiner Studienfreunde, einen Jungen, den ich noch im Kinderwagen sah und der später zu einem mutigen Mann heranwuchs, einem Menschenrechtsaktivisten, der eine der wichtigsten Entscheidungen der letzten Jahrzehnte erwirkte – den Magnitsky Act –, einem Mann, der wegen seiner Ansichten zu vergiften versucht wurde.

Ich werde nicht schreiben, dass er vor dem Ende seiner Haftstrafe entlassen wird, oder über die „Agonie des Regimes“ spekulieren. Ich weiß nicht, wann er entlassen wird. Sie werden versuchen, sich an ihm zu rächen. Es wird sehr schwer für ihn sein.

Ich werde nicht schreiben: „Verdammt seid ihr“ und ausrufen, dass ihnen Vergeltung zuteil wird, und wir werden uns an diejenigen erinnern, die diese Entscheidung getroffen haben. Ich bin Lehrerin und verstehe, dass Phrasendrescherei nicht viel verändern wird. Was kann die Situation ändern?

Ich würde mit einer einfachen Sache beginnen. Zunächst einmal sollten wir Kara-Mursa und Nawalny und Jaschin und Dmitrijew und Gorinow nicht vergessen … Wir sollten nicht ausrufen: „Wir werden nicht vergessen, wir werden nicht vergeben“, aber das sollten wir wirklich. Es ist sehr schwierig. So sehr uns die politischen Gefangenen auch leidtun, wir haben unsere eigenen Dinge zu tun. Wir stehen morgens auf, schauen, wie das Wetter ist, und dann bekommen wir Kopfschmerzen – das ist ganz natürlich. Was ist zu tun? Wie ein Mantra die Namen der Märtyrer wiederholen?

Vielleicht nicht vor beunruhigenden Informationen flüchten, sondern beobachten, was vor sich geht. Wir gewöhnen uns an die schrecklichsten Dinge, sie werden zur Routine, und dann fängt man an, durch die Berichte über einen weiteren Bombenanschlag in der Ukraine, eine weitere Verhaftung in Russland zu scrollen. Das Gehirn wehrt sich gegen die Schrecken. Man muss es zwingen.“

Der russische Botschafter in London, Andrei Kelin, wurde im Zusammenhang mit der Verurteilung von Wladimir Kara-Mursa vor das Foreign and Commonwealth Office zitiert. Wladimir Kara-Mursa besitzt die russische und die britische Staatsbürgerschaft. London bezeichnete das Urteil als politisch motiviert“, hieß es in einer Erklärung des britischen Außenministeriums.

Der lettische Außenminister Edgar Rinkewitsch teilte auf Twitter mit, dass er im Zusammenhang mit der Strafverfolgung des Politikers Vladimir Kara-Mursa zehn russischen Staatsbürgern die Einreise nach Lettland untersagt hat. Wer genau mit einem Einreiseverbot belegt wurde, sagte der lettische Minister nicht.

Wladimir Kara-Mursa wurde wegen Hochverrats (Artikel 275 des Strafgesetzbuches), öffentlicher Verbreitung falscher Informationen über die Armee (Punkt e, Teil 2, Artikel 207.3 des Strafgesetzbuches) und Durchführung von Aktivitäten einer unerwünschten Organisation (Teil 1, Artikel 284.1 des Strafgesetzbuches) verurteilt. Seit April 2022 befindet er sich in Untersuchungshaft. Die Anhörungen fanden unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt, da sie als „geheim“ eingestuft wurden. Sein Fall ist der erste in Russland, in dem der neue Wortlaut des Hochverratsparagrafen angewandt wurde: Nun wird nicht nur die Weitergabe geheimer Informationen als Hochverrat eingestuft, sondern auch die Unterstützung anderer Länder oder Organisationen bei Aktivitäten, die gegen die Sicherheit Russlands gerichtet sind.

Nach Angaben des Pressedienstes des Moskauer Stadtgerichts waren bei der Urteilsverkündung gegen Wladimir Kara-Mursa Diplomaten aus 40 Ländern anwesend, darunter aus Dänemark, Deutschland, Estland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Kanada, Lettland, Litauen, Schweden, der Schweiz und den USA.

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