Selbstjustiz in Grosny: Niemand will gegen Kadyrow ermitteln

Selbstjustiz in Grosny: Niemand will gegen Kadyrow ermitteln

Die Veröffentlichung eines Videos durch den tschetschenischen Staatschef Ramsan Kadyrow, auf dem zu sehen ist, wie sein Sohn in einem tschetschenischen Untersuchungsgefängnis auf den wegen Koranverbrennung angeklagten Wolgograder Nikita Schurawel einprügelt, hat keine offizielle Reaktion der Strafverfolgungsbehörden hervorgerufen. Auch der Pressesprecher von Wladimir Putin, Dmitrij Peskow, äußerte sich nicht zu der Situation mit der Begründung: „Ich möchte das nicht“.

Kadyrow bezeichnete die Tat seines Sohnes, die bereits Mitte August bekannt wurde, als gerechtfertigt. Eine Reaktion der Strafverfolgungsbehörden, die sich mit dem Vorfall hätten befassen müssen, gibt es bis jetzt nicht.

Reaktionen und Kommentare offizieller und halboffizieller Seite:

Waleri Fadejew, Leiter des Menschenrechtsrates HRC: Es gibt Regeln für die Inhaftierung von Angeklagten und Verdächtigen, die eingehalten werden müssen.

Eva Merkatschewa, Menschenrechtsaktivistin und HRC-Mitglied: Das ist im Grunde eine Herausforderung für das gesamte russische Rechtssystem. … befürchte ich, dass die nächste Nachricht sein wird, dass wir Nikita Schurawel tot in seiner Zelle auffinden werden. Ich bin der Meinung, dass er dringend aus den tschetschenischen FSIN-Einrichtungen in eine andere Region verlegt werden sollte, wo er in Sicherheit ist.

Tatjana Moskalkowa, Menschenrechtsbeauftragte: Ganz gleich, welches schreckliche Verbrechen jemand begeht, er oder sie muss sich nach Recht und Gesetz vor Gericht verantworten. Das sind die Prinzipien unseres Rechtsstaates. Und während der Ermittlungen im Untersuchungsgefängnis muss er auf jeden Fall nach den Regeln des Gesetzes festgehalten werden“.

Wladislaw Dawankow, stellvertretender Sprecher der Staatsduma: Unser Land ist groß und sehr unterschiedlich, aber das Gesetz sollte für alle gleich sein. Das Gesetz zum Schutz der Gefühle der Gläubigen sagt nichts über Schläge in der Untersuchungshaft als akzeptable Strafe. Selbstjustiz ist nicht akzeptabel. Es ist ein sehr schlechtes Beispiel für die Jugend.

Ewgeni Popow, Abgeordneter der Staatsduma: Man darf Menschen nicht schlagen. Das ist illegal. Die Strafe für einen Verbrecher verhängt das Gericht. Und nur das Gericht.

Ksenia Sobtschak, Journalistin: Das ist eine Missachtung der Gesetze unseres Landes. Die Taten von Adam Kadyrow müssen untersucht werden, sie müssen nach dem russischen Strafgesetzbuch juristisch bewertet werden, nicht nach den Gesetzen der Scharia oder von Ramsan Kadyrow.

Aljona Popowa, Rechtsanwältin: So oder so, es ist eine Schande. Als erstes sollte man den Präzedenzfall untersuchen und die Verantwortlichen des FSIN bestrafen, die jemandem erlaubt haben, den Gefangenen zu sehen. Zweitens Kadyrows Rücktritt und ein Gerichtsverfahren. Drittens die Frage eines Amtsenthebungsverfahrens gegen die Führung des Landes aufwerfen, die weiß, was vor sich geht, und die Augen davor verschließt.

Anton Rubin, Blogger: Die einzige Frage, die sich die Tschetschenen stellen, ist, ob es wirklich cool ist, eine festgenommene Geisel, die von Wachen umgeben ist, zu verprügeln und stolz ein Video dieser Schande zu veröffentlichen.

Jaroslaw Belousow, Z-Blogger: Wenn also der Kreml nicht in irgendeiner Weise auf die Ereignisse reagiert, zumindest informell, dann ist alles sehr traurig. Wir werden zugeben müssen, dass wir es nicht mit einer glorifizierten personalistischen Diktatur zu tun haben, sondern mit einer billigen Verkleidung eines starken Staates“.

Alex Parker, ehemaliger Mitarbeiter der Wagner-Truppe: Dass Kadyrow dieses Video gezeigt hat, überrascht mich also überhaupt nicht. Der dritte Tschetschenienkrieg steht noch bevor. Und das ist nur einer seiner ersten und kleinsten Vorläufer, von denen es in der Tat noch viele geben wird.

Ross Marow, Z-Blogger: Es gibt in der Tat Menschen in Russland, die die allgemeinen russischen Gesetze und Normen der Rechtsstaatlichkeit nicht respektieren wollen. Sie glauben, dass sie, indem sie auf alle anderen Bürger Russlands spucken, Lynchmorde organisieren und ihre plumpen und mittelalterlichen Vorstellungen als Ideal der Moral zur Schau stellen können. Sie verstehen nicht die Sprache der Überzeugung, nur die Sprache der Gewalt.

Pjotr Lundstrem, Musiker und Kriegsbefürworter; Meine tschetschenischen Freunde und verehrten älteren Genossen mögen mir verzeihen, aber ich kann nicht akzeptieren, dass eine Person geschlagen wird, von der man weiß, dass sie wehrlos ist. Auch wenn deren Tat abscheulich und nicht zu rechtfertigen ist.

Neprincess, Z-Kanal: Was kommt als nächstes – rituelle Steinigung wegen eines kurzen Rocks? Und Kadyrow ist sich dessen sehr wohl bewusst. Mit der Veröffentlichung des Videos erklärt er öffentlich, dass der Sohn des Oberhauptes der Region gegen föderale Gesetze verstößt. Und dass dies in seiner Familie ein Grund zum Stolz sei. „Wir haben die Gesetze der Russischen Föderation nicht gelesen, aber wir verurteilen sie“ – soll man die öffentliche Botschaft so verstehen? Prigoschin starb bei einem Flugzeugabsturz nach so etwas.

Adam Delimchanow, Staatsduma-Abgeordneter: Ohne Zweifel halte ich das Vorgehen meines lieben Neffen für richtig und gerecht! … Es ist sehr erfreulich, dass Adam trotz seines jungen Alters ein würdiges Vorbild für seine Altersgenossen ist und den aufrichtigen Willen zeigt, unseren Glauben und unsere Werte zu verteidigen!

Ramsan Kadyrow: Er hat ihn geschlagen und damit das Richtige getan … Solche Provokateure und Verräter sind ein kranker Tumor am Körper, der verödet werden muss … Ohne zu übertreiben, ja, ich bin stolz auf Adams Tat.

Der Chef des Untersuchungsausschusses (TFR) Alexander Bastrykin, Innenminister Wladimir Kolokoltsew und Generalstaatsanwalt Igor Krasnow haben die Situation bisher nicht kommentiert, obwohl dieses Video laut Anwälten Anlass zur Einleitung eines Verfahrens nach mehreren Artikeln des Strafgesetzbuchs bietet. Der Fall Schurawel war auf persönliche Anweisung Bastrykins von der Region Wolgograd nach Grosny verlegt worden. Als Grund nannte der TFR-Vorsitzende „zahlreiche Appelle von Tschetschenen, sie als Opfer anzuerkennen“.

Viele Anwälte, an die sich die Journalisten von Fontanka wandten, lehnten eine Stellungnahme ab. Die Meinung der Anwälte, die sich zu äußern wagten, ist eindeutig: Der Besuch des minderjährigen Sohnes Kadyrows bei dem Angeklagten war ein Verstoß gegen gleich mehrere geltende Gesetze.

„In Wirklichkeit ist das ein bewusstes Signal an alle in Russland, um sie daran zu erinnern, was Kadyrow und alle anderen im Schilde führen, und damit sie nicht vergessen, ihre Raten pünktlich zu überweisen“, sagt der Anwalt Alexej Prjanischnikow.

 Der staatliche Fernsehsender Grosny startete eine Umfrage über Kadyrows Sohn mit der Frage: „Unterstützen Sie die Handlungen von Adam Kadyrow? Die meisten, die antworteten, verurteilten seine Taten. Viele sind jedoch überzeugt, dass Adam nicht bestraft wird.

Adam Kadyrow tauchte 2016 zum ersten Mal in den Medien auf. Im Oktober desselben Jahres fand in Grosny ein Grand Prix MMA-Turnier statt, an dem auch Kinder teilnahmen. Darunter drei Söhne Kadyrows: der zehnjährige Achmet, der neunjährige Zelimchan und der achtjährige Adam. Offiziell dürfen Kinder unter zwölf Jahren nicht an MMA-Wettkämpfen teilnehmen, doch die Kämpfe in Grosny wurden nach den Regeln für Erwachsene“ ausgetragen, also ohne Helm und spezielle Schutzpolster an den Beinen.

Ein Abgeordneter der Staatsduma sagte, es sei möglich, dass die Körperverletzung im Affekt begangen wurde. Sollte Kadyrows Sohn den Festgenommenen vorsätzlich geschlagen haben, drohen ihm bis zu fünf Jahre Haft. In der Praxis werden in der Regel zwei bis drei Jahre verhängt, und es gibt Fälle, in denen der Angreifer nur zu einer Bewährungsstrafe verurteilt wird. Der ehemalige Generalstaatsanwalt Juri Skuratow glaubt, es gebe „Anzeichen für Selbstjustiz. Eine solche emotionale Reaktion ist auch deshalb inakzeptabel, weil Adam sich die Befugnisse der Strafverfolgungsbehörden angemaßt hat.“

Vor Gericht verantworten muss sich der 15-jährige Kadyrow-Junior, wenn er die Gesundheit von Nikita Schurawel schwer geschädigt hat. Das Strafmündigkeitsalter ist in Artikel 20 des russischen Strafgesetzbuches geregelt. Danach können Jugendliche über 14, aber unter 16 Jahren nur nach bestimmten Artikeln des Strafgesetzbuches – insgesamt mehr als 30 – zur Verantwortung gezogen werden. Nur zwei davon – „Vorsätzliche Zufügung eines schweren Gesundheitsschadens“ (Artikel 111) und „Vorsätzliche Zufügung eines mittelschweren Gesundheitsschadens“ (Artikel 112) ­– treffen auf den Fall der Prügelstrafe für Schurawel zu.

Nikita Schurawel wurde im Mai 2023 in Wolgograd verhaftet. Ihm wird vorgeworfen, den Koran vor einer Moschee gegen eine Belohnung von 10.000 Rubel vom ukrainischen Sicherheitsdienst verbrannt und das Video einem Mitarbeiter des ukrainischen Geheimdienstes übergeben zu haben. Später tauchte ein Videoclip der Koranverbrennung in sozialen Netzwerken auf.

 [hrsg/russland.NEWS]

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