Schicksal ist noch unbekannt: russische Politologen und Journalisten über wahrscheinlichen Tod von Jewgeni Prigoschin

Schicksal ist noch unbekannt: russische Politologen und Journalisten über wahrscheinlichen Tod von Jewgeni Prigoschin

Selbst wenn sich eines Tages herausstellen sollte, dass das Flugzeug von Außerirdischen in die Luft gesprengt wurde, ist allein die Tatsache, dass die Mehrheit der Russen, unabhängig von ihrer politischen Ausrichtung, in ihrer Bewertung des Terroranschlags einig ist, ein beredter Beweis: Am Ende des Sommers 2023 wird sich Russland selbstbewusst als ein Staat anerkennen, der nach den Gesetzen einer organisierten kriminellen Einigung lebt.

Stanislav Kucher, Journalist

 

Prigoschin muss im Twerer Wald zufrieden sein. Die russische Welt lebt nach den Regeln, die er so brillant zu propagieren wusste. Und alle anderen sollten merken, dass, egal wie sehr man Putin hilft, es immer Schakale geben wird, die deinen Fischkopf später zum Kauen bekommen werden.

Kirill Rogow, Politikwissenschaftler und Leiter des Projekts Re:Russia

Die Ermordung Prigoschins wird Putins Position bei den Eliten stärken und ihn in den Augen der öffentlichen Meinung schwächen. Dies ist ein doppeltes Ergebnis.

Das Establishment ist nun davon überzeugt, dass es nicht möglich sein wird, sich Putin zu widersetzen und sich dabei gut gehen lassen. Putin ist stark genug und in der Lage, sich zu rächen. In diesem Sinne haben potenzielle Verschwörer jetzt die Ohren gespitzt, den Kopf in die Schultern gezogen und schauen sich ängstlich um: „Hat Putin uns zufällig der Illoyalität verdächtigt?“.

Die breite Öffentlichkeit sieht das alles ein wenig anders. Für sie ist nicht nur das Ergebnis wichtig, sondern auch, wenn ich so sagen darf, die ästhetische Komponente des Prozesses. Alles sollte schön sein. Und heimlich, im Schutze der Nacht zu töten – das macht einen Herrscher nicht schön. Das alles hat einen unangenehmen Beigeschmack von Niedertracht und Feigheit. Prigoschin forderte die Macht öffentlich heraus. Aber Putin hat die Herausforderung nicht auf freiem Feld angenommen, sondern hat sich angeschlichen und ist ihm in den Rücken gefallen. Und zwar wem? Keinem Feind des Vaterlandes, keinem amerikanischen Agenten, sondern einem russischen Patrioten, der es wagte, öffentlich die Wahrheit zu sagen!

Diese ganze Ästhetik ist den Eliten fremd, ihnen geht es um das Ergebnis, also ist es ihnen egal, ob es schön oder hässlich ist. Dem Volk aber ist es nicht egal. So hat Putin heute sein Ansehen in den Augen der breiten Öffentlichkeit verschlechtert.

Abbas Galljamow, Politikwissenschaftler

Eine der Techniken der Bestrafung in einer Diktatur besteht darin, den Feind oder Verräter näher zu bringen, bevor man ihn vernichtet, oder zumindest Frieden zu schließen und so zu tun, als ob man ihm verzeihen würde. Das ist wie in Mafia-Filmen: rivalisierende Gruppen und ihre Bosse kommen zusammen, und dann schießen die einen die anderen aus einer Torte. Oder [wie] im Film „Der Pate“, wo alle Frieden schließen, bevor sie [anfangen, sich gegenseitig zu vernichten].

Alexander Baunow, Politikwissenschaftler, Carnegie Center

Geschäftsflugzeuge werden vor dem Einsteigen gründlich kontrolliert. Und wenn ein Passagier nicht an Bord erscheint, wird dies in einem speziellen Blatt vermerkt. Außerdem gibt es in der VIP-Lounge von dem Moskauer Flughafen Wnukowo-3 Kameras ­– und man kann sehen, wer die Lounge in Richtung Flugplatz verlässt. Allerdings können die Passagiere bei zwei gleichzeitig abfliegenden Flugzeugen [in dieselbe Richtung] [vor dem Start] die Plätze wechseln stimmt, ohne dass dies fixiert wird.

Alexei Wenediktow, Journalist, ehemaliger Leiter des Radiosenders Echo Moskau

Dies ist ein terroristischer Angriff im russischen Luftraum. Er muss untersucht werden. Die Täter müssen sich verantworten.

Jewgeni Popow, Staatsduma-Abgeordneter von der Partei Einiges Russland

Eine der diskutierten Versionen ist die Inszenierung. Aber ich persönlich neige zu der offensichtlicheren Version.

Margarita Simonjan, Leiterin von RT

Aber um sich für immer zu verstecken, einen der vielen Ersatzpässe zu nehmen, ist auch ein ausgebranntes Flugzeug ein geeigneter Vorwand. Die Krähe wird die Knochen nicht auflesen, die Enden liegen in der Asche, die Spur ist weg.

Ekaterina Schulmann, Politikwissenschaftlerin, Carnegie Center

 

Das Ende von Prigoschin war vorhersehbar. Das System verzeiht denen nicht, die ihre Hand gegen es erheben. … (Doch  warten wir die offizielle Untersuchung der Leichen aus dem abgestürzten Flugzeug ab). Vielleicht taucht ein Mann wie Prigoschin in der afrikanischen Savanne auf. Oder sogar in Washington oder London. Russland ist ein Land der Verschwörungen.

Pawel Prjannikow, Journalist, Blogger

  1. Unabhängig von den tatsächlichen Ursachen des Flugzeugabsturzes von Prigoschin werden Mythologie und Umstände (genau zwei Monate nach der Meuterei) sie auf eine bestimmte Weise interpretieren. Für die Politik in und außerhalb Russlands ist das alles, was zählt. Wenn die Masse glaubt, dass dies die Strafe für die Meuterei ist, dann sollten wir davon ausgehen. Auf diese Weise hat die russische Regierung, die durch die „Begnadigung“ Prigoschins im Juni teilweise gedemütigt wurde, in der Öffentlichkeit ihr einschüchterndes Machtimage wiederhergestellt. Die Erinnerung an die Rebellion wird bleiben, aber auch die Erinnerung an Prigoschins Tod. Das Thema der Transitprobleme und der Zukunft des Systems wird nicht verschwinden, aber Diskussionen darüber werden noch mehr in den Hintergrund treten.
  2. Der außer Kontrolle geratener „patriotischer“ Diskurs als Alternative zum Kreml wird weiter geschwächt und marginalisiert werden.
  3. Die Position Russlands in Afrika in den Ländern, in denen die Wagner-Gruppe präsent ist (ZAR, Mali), wird stark in Frage gestellt. Wenn sie nicht umgehend ersetzt/umstrukturiert werden können, wird dies ein Rückschlag für Russlands Einfluss in Afrika sein. Vieles hängt dort von persönlichen Beziehungen ab. Andererseits werden „die Russen“ in anderen Ländern weniger gefürchtet und dämonisiert.
  4. S. Es spielt überhaupt keine Rolle, ob Prigoschin in Wirklichkeit gestorben ist, er ist öffentlich gestorben und danach existiert er nicht mehr als Subjekt der öffentlichen Politik. Das ist das Einzige, was zählt.

Alexander Kynew, Politikwissenschaftler

Auf dem offiziellen Telegram-Kanal von Jewgeni Prigoschin gibt es seit dem 26. Juni keine neuen Beiträge. Der Telegram-Kanal „Prigoschins Mütze“ veröffentlichte am Donnerstag folgende Meldung: „Wir bitten die Medien und befreundete Kanäle der Wagner-Gruppe, keine ungeprüften Daten und Berichte über den Rat der Wagner-Kommandeure und das Schicksal von Jewgeni Prigoschin zu veröffentlichen. Wir sind mit Ihnen“.

Russische Nachrichtenagenturen beschränkten sich zunächst auf kurze Meldungen. Die Nachrichtenagentur Tass gab die Daten des Dienstes Flightradar weiter. Das Regenbogenblatt KP berichtet über den Flugzeugabsturz und präsentiert eine ausführliche Biographie von Prigoschin.

Am Abend des 23. August 2023 stürzte ein Flugzeug des Typs Embraer Legacy, das von Prigoschin gehörtу, in der Region Twer auf dem Flug von Moskau nach St. Petersburg ab. Wie vom Ministerium für Notfallsituationen berichtet, gab es 10 Menschen an Bord, alle von ihnen starben. Die russische Luftaufsicht Rosawiazija berichtet, dass Prigoschin auf der Passagierliste des Flugzeugs stand. Sein Schicksal ist bis zu den Ergebnissen der DNA-Analyse noch nicht gänzlich geklärt.

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