Russlands bekanntester linker Soziologe wegen „Rechtfertigung des Terrorismus“ bis September inhaftiert

Russlands bekanntester linker Soziologe wegen „Rechtfertigung des Terrorismus“ bis September inhaftiert

Boris Kagarlitsky, ein russischer Soziologe und marxistischer Theoretiker, wurde unter dem Vorwurf der „Rechtfertigung von Terrorismus“ festgenommen, wie sein Anwalt am Mittwoch mitteilte.

Der FSB habe Kagarlitsky in die Stadt Syktywkar in der nordwestrussischen Republik Komi gebracht, wo – 1000 Kilometer von Moskau entfernt – der Fall gegen ihn untersucht werde, berichtete die staatliche Nachrichtenagentur Tass. Professor Kagarlitsky drohen bei einer Verurteilung bis zu sieben Jahre Haft.

Der Anwalt des Soziologen, Sergei Jerochow, sagte gegenüber der Presse, das Strafverfahren gegen seinen Mandanten stehe im Zusammenhang mit einem Beitrag in der Messaging-App Telegram, in dem Kagarlitsky die militärischen Auswirkungen der Explosion auf der Krim-Brücke im Oktober 2022 analysierte und über deren Folgen spekulierte. Ein Gericht in Syktywkar ordnete eine zweimonatige Untersuchungshaft gegen ihn an, wie die unabhängige Nachrichtenagentur Sota am Mittwoch berichtete.

Kagarlitsky, ehem. Professor an Moskauer Hochschule für Sozial- und Wirtschaftswissenschaften und Direktor des Instituts für Globalisierung und soziale Bewegungen (IGSO), das 2018 vom russischen Justizministerium als „ausländischer Agent“ eingestuft wurde, hatte sich gegen die russische Invasion der Ukraine im Jahr 2022 ausgesprochen, weigerte sich jedoch im Gegensatz zu vielen anderen Kremlkritikern, das Land zu verlassen.

Die Nachricht über seine Verhaftung und die Vorwürfe gegen Kagarlitzki verbreitete sich weltweit sehr schnell. Aus Deutschland gab es umgehend Solidaritätsbekundungen. So protestierte Kerstin Kaiser, letzte Chefin der Rosa-Luxemburg-Stiftung, per Facebook gegen die Inhaftierung und kündigte eine Unterstützungskampagne und Spendenaktion zugunsten von Kagarlitski an. Die Partei DIE LINKE forderte seine sofortige Freilassung.

In Russland äußerten sich Vertreter verschiedenster politischer Kräfte fassungslos ­– vom regierungsnahen Politologe Sergej Markow über den Libertären Michail Swetow bis hin zum kremlnahen Telegramkanal Nezygar. Noch nie in der Geschichte des neuen Russlands seien fast alle (mit ein paar unangenehmen Ausnahmen) so solidarisch, meint der Philosoph und Publizist Rustem Wachitow im Telegramkanal Rotes Eurasien.

Hier sein leicht gekürztes Portrait des Inhaftierten: „Kagarlitski ist einer der führenden Ideologen der sozialistischen Weltbewegung. Seine Schriften sind in den Vereinigten Staaten, Europa, Lateinamerika und Asien bekannt. In Russland ist er der bedeutendste linke Philosoph, Soziologe und Politikwissenschaftler (und vielleicht auch in Osteuropa). Mit seinen Büchern zufolge haben sich Generationen von Studenten mit dem modernen Marxismus beschäftigt. Kagarlitsky eröffnete uns die Weltsystem-Theorie (deren Autor Immanuel Wallerstein er persönlich kannte), und seine Anwendung auf die russische Geschichte halte ich für konkurrenzlos in diesem Genre.

Boris kam zu wissenschaftlichen Konferenzen in unsere Stadt, und dort lernten wir ihn kennen. Es stellte sich heraus, dass er auch ein sehr interessanter Mensch war – ein erstaunlicher Universalgelehrter, ein Kenner von vielleicht einem Dutzend Sprachen, ein wunderbarer Geschichtenerzähler, ein einfach kluger Mann. Und gleichzeitig ein seltener Typ für unsere Zeit – ein erblicher Intellektueller, sehr zart und weise.

In Russland gibt es nur wenige kritische Persönlichkeiten dieser Art (nicht nur auf dem linken Flügel, sondern generell!). Solche kulturellen Persönlichkeiten sind ein nationaler Schatz ihres Landes, und das muss man verstehen. General de Gaulle hat das verstanden, und deshalb hat er, als die französische Polizei den Philosophen Sartre verhaftete, seine Freilassung gefordert und gesagt „Frankreich sperrt Voltaire nicht ein“ …

Was passiert ist, ist ein enormer Reputationsverlust für Russland, und das genau zu dem Zeitpunkt, an dem es versucht, Linke aus der ganzen Welt auf seine Seite zu ziehen, indem es von Anti-Westlichkeit und Anti-Kolonialismus spricht. Es erübrigt sich hinzuzufügen, dass es die Linke – sowohl in Europa als auch außerhalb – ist, die bis zum Schluss Russlands Freund bleibt, selbst unter den schwierigsten Umständen.

Das ist auch für die innenpolitische Situation schlecht. Wir sprechen davon, dass das Land Wissenschaft, Industrie und Bildung entwickeln muss. Aber wie soll das möglich sein, wenn es Hindernisse für eine rationale Diskussion, für kritisches Denken gibt? Kagarlitsky ist nicht einmal ein Politiker. Er ist nicht der Führer einer politischen Bewegung, nicht der Vorsitzende einer politischen Partei. Er ist in erster Linie ein Wissenschaftler, ein Theoretiker des Sozialismus, ein Schriftsteller, ein Universitätsdozent … Er ist unser moderner russischer Sartre und unser russischer Marcuse. Sein Platz ist nicht in einer Untersuchungshaftanstalt, sondern in einer Abteilung einer zentralen Universität, in einer Denkfabrik, in einem Forschungsinstitut … Die Gesellschaft braucht solche Menschen, ihren Verstand, ihre Talente! Und ich möchte hoffen, dass am Ende der normale Status quo wiederhergestellt wird.

Ich wünsche Boris Juljewitsch und seinen Angehörigen die Kraft, diese Lebensprüfung zu bestehen!“

Der Soziologe Kagarlitzki war bereits politischer Dissident in der UdSSR wie auch im postsowjetischen Russland. 1982 wurde er wegen oppositioneller Aktivitäten unter Breschnew inhaftiert und später unter Jelzin im Jahr 1993 verhaftet. 1990 bis 1993 war er Mitglied der Sozialistischen Partei Russlands und Abgeordneter des Moskauer Stadtsowjets, später Mitbegründer der Arbeiterpartei und Berater des Vorsitzenden des russischen Gewerkschaftsbundes.

Er schreibt regelmäßig auf Telegram, ist Chefredakteur des Online-Journals Rabkor sowie der vierteljährlich in Moskau erscheinenden Zeitschrift Lewaja Politika (Linke Politik).

[hrsg/russland.NEWS]

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