Russische Gesellschaft: kein Gefühl der Verantwortung für das Land© russland.news

Russische Gesellschaft: kein Gefühl der Verantwortung für das Land

Nur etwa ein Drittel der Russen (32 Prozent) fühlen sich für das, was in ihrem Land geschieht, verantwortlich. Lediglich 17 Prozent glauben, dass sie „in gewissem Maße“ Einfluss auf das Geschehen in Russland nehmen können. Dies ist das ernüchternde Ergebnis einer Umfrage des unabhängigen Instituts für öffentliche Meinung Lewada-Zentrum.

Die meisten Russen fühlen sich vor allem für ihre Familie verantwortlich (85 Prozent), wobei die Mehrheit (80 Prozent), davon überzeugt ist, dass sie Einfluss auf familiäre Ereignisse haben können. Doch sobald die Russen buchstäblich vor die Tür ihres Hauses gehen, verlieren sie sowohl das Gefühl der Verantwortung als auch das Vertrauen, etwas beeinflussen zu können. So fühlt sich etwa die Hälfte (54 Prozent) für das Geschehen in ihrem Hinterhof verantwortlich, und 48 Prozent denken, dass sie an ihrem Arbeitsplatz Verantwortung tragen. Nur etwa jeder Dritte (36 Prozent) gab an, Verantwortung für die Situation in der eigenen Stadt oder im Stadtteil zu tragen.

Dabei ist der Anteil derjenigen, die sich in allen Kategorien verantwortlich fühlen, seit Ende des letzten Jahres gesunken, und das Gefühl der Verantwortung und die Wahrnehmung der Möglichkeit, Einfluss zu nehmen, haben in den letzten Monaten leicht nachgelassen. Laut den Ergebnissen einer ähnlichen Lewada-Umfrage im Jahr 2018 bleibt die Familie die einzige Lebenssphäre, für die praktisch jeder Russe persönliche Verantwortung empfindet, so ein Soziologe des Lewada-Instituts. Auf dem zweiten und dritten Platz folgen Arbeit und Zuhause, wobei dieser Anteil nur halb so groß ist. 2018 fühlten 92 Prozent der Russen Verantwortung für ihre Familie. Im selben Jahr stieg der Anteil derjenigen, die sich für das Geschehen im Land verantwortlich fühlten, von 9 auf 28 Prozent. Es sei daran erinnert, dass im Jahr 2018 die Fußball-Weltmeisterschaft in Russland stattfand, die eine positive Stimmung im Land auslöste. Laut einer Umfrage von 2019 erkannten 39 Prozent der Russen ihre Verantwortung für das Land nicht an, während 27 Prozent glaubten, nur geringfügig darauf Einfluss nehmen zu können.

Soziologen und Politologen sprechen seit Langem von der Spaltung und der sogenannten Atomisierung der russischen Gesellschaft. Die Mehrheit der Menschen in Russland ist nach wie vor der Meinung, dass sie nicht nur keinen Einfluss auf die Entscheidungen der Regierung des Landes nehmen können, sondern nicht einmal in ihrem Mehrfamilienhaus.

Die Politikwissenschaftlerin Ekaterina Schulmann spricht über die sogenannte „Atomisierung der Gesellschaft“, die eine der Hauptmerkmale der russischen Gesellschaft ist und in den letzten 20 Jahren nur noch zugenommen hat. Das bedeutet, dass Menschen niemandem außer ihrer Familie vertrauen. Gleichzeitig glauben viele im heutigen Russland, dass sie vom Staat keine Hilfe erwarten können und nur auf sich selbst angewiesen sind. „Sie glauben nicht, dass sie die Politik ändern können. Für sie ist es wie mit dem Wetter: Man leidet darunter, passt sich an, aber man kann es nicht beeinflussen“, erklärt die Politologin.

Das einzige Bürgerengagement, das heute richtig in Fahrt nimmt, sind Denunziationen. Doch auch dabei schließen sich die Menschen nicht zusammen, so Schulmann.

 [hrsg/russland.NEWS]

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