Predigt von Solidarität in der Krise endet bei der NATO-Doktrin

Predigt von Solidarität in der Krise endet bei der NATO-Doktrin

[von Helmut Scheben-infosperber.ch] Der Westen nutzt die Pandemie, um China, Russland und Kuba zu verunglimpfen.

Mit Seuchen verhält es sich wie mit jeder Naturkatastrophe. Da ist zunächst der menschlich verbindende Effekt der Not. Regierungen, Intellektuelle und Seelsorger beschwören Solidarität und Hilfsbereitschaft. Und Menschen wachsen über sich selbst hinaus, Gesundheitsarbeiterinnen und viele andere leisten Ausserordentliches im Einsatz für die Gemeinschaft. Die UNO-Hochkommissarin für Menschenrechte Michelle Bachelet fordert Soforthilfe für 38 besonders gefährdete Länder der sogenannten Dritten Welt. Doch wer die zwei Milliarden Dollar bezahlt, bleibt unklar.

Aber diejenigen, die als erste mit konkreter Hilfe zur Stelle waren, sind China, Russland und Kuba. Und da hat es im Westen dann schnell einmal ein Ende mit dem Diskurs von der humanitären Solidarität in der Krise.

China – das Reich des Bösen

Es fing damit an, dass der US-Präsident darauf beharrte, das Corona-Virus als «chinese virus» zu bezeichnen. Die aus dem Kalten Krieg bekannte gelbe Gefahr ist fester Bestandteil seiner Erzählung zur Aussenpolitik und daran hält Trump fest, auch wenn chinesische Wissenschaftler mit US-Experten im Kampf gegen Covid-19 effizient zusammenarbeiten. Und auch wenn die Chinesen dem Westen mit Ärztinnen und Ärzten und medizinischem Gerät zu Hilfe kommen.

Manche Schweizer Medien lassen sich derzeit von Washington ins Schlepptau nehmen in einer Kampagne gegen China, Russland und Kuba. Die NZZ brachte schon am 11. Februar einen Artikel über Ärzte in China, die in den vergangenen Jahrzehnten als Whistleblower auftraten und mit «Haft, Exil und Tod» bestraft worden seien, weil sie vor Krankheiten warnten. Pädagogischer Inhalt des Artikels: Lasst euch nicht hinters Licht führen von chinesischer Hilfsbereitschaft. China ist das Reich des Bösen.

In der «Weltwoche» kommt lang und breit ein für US-Anwaltskanzleien arbeitender Rechtsanwalt namens Gordon Chang zu Wort. Der Mann chinesischer Abstammung publiziert seit Jahren Abhandlungen, in denen er den baldigen Zusammenbruch des Regimes in Peking herbeiredet. Gegenwärtig ist er auf den TV-Kanälen einer der Wortführer, der China vorwirft, den Ausbruch der Epidemie Wochen lang verheimlicht zu haben. Auch deutet er immer wieder an, der Virus sei «möglicherweise» aus einem «Hochsicherheitslabor» in Wuhan entwichen. Laut Chang muss «das Regime zur Verantwortung gezogen werden.»

Was westliche Medien dabei beharrlich verschweigen, ist die Tatsache, dass die chinesischen Behörden bereits am 31. Dezember offiziell die Weltgesundheitsorganisation (WHO) informierten, dass in Wuhan mehrere Fälle von schwerer Lungenentzündung aufgetreten waren, deren Erreger bislang nicht identifiziert werden konnte. Die Meldung ging über alle Nachrichtenagenturen. Eine Epidemiologin des US Center for Disease Control and Prevention (CDC), die bei der chinesischen Behörde für Seuchenkontrolle gearbeitet hatte und deren Aufgabe es war, Informationen über gefährliche Ausbrüche weiterzugeben, war im Juli von der US-Regierung abberufen und die Position nicht neu besetzt worden.

Auf die Vorwürfe der Zensur und Vertuschung, die bald in den westlichen Mainstream-Medien auftauchten, reagierte Peking mit der Polemik, das Virus sei «von aussen eingeschleppt» worden. Journalisten, die für US-Medien akkreditiert waren und Unerwünschtes publizierten, wurden ausgewiesen. Als Grund wurde allerdings angegeben, dass Vertreter chinesischer Medien in Washington als Agenten eingestuft und von Pressekonferenzen im Weissen Haus ausgeschlossen wurden.

Die chinesische Führung hat tatsächlich Informationen über den Ausbruch der Pandemie zunächst geheim gehalten. Sie hat das zugegeben, Fehler eingeräumt und dafür öffentlich um Entschuldigung gebeten. Es ist aber einzusehen, dass für die offizielle Informationspolitik in einem Land mit eineinhalb Milliarden Einwohnern wohl andere Kriterien gelten als im Kanton Appenzell. Eine plötzliche und nicht sorgfältig abgeklärte Alarmierung hätte in China Massenpanik mit verheerenden wirtschaftlichen Folgen auslösen können.

Eigene Versäumnisse ausgeblendet

Was den Vorwurf der zögerlichen und falschen Reaktion angeht, so sollte der Westen und vor allem Länder wie USA, Grossbritannien, Österreich, Schweden oder Deutschland vor der eigenen Tür kehren und sich zurückzuhalten. US-Präsident Donald Trump erklärte zunächst einmal, man solle sich keine Sorgen machen. Boris Johnson riet den Briten am Anfang der Pandemie, das Beste sei, nichts zu tun und die Durchseuchung laufen zu lassen, damit bald allgemeine Immunität entstünde. Im Tiroler Skigebiet Ischgl liefen die Bergbahnen und Parties noch mehr als eine Woche, als längst bekannt war, dass das Ballermann-Resort ein Hotspot war, in dem sich Tausende angesteckt hatten. Im durch Lifte mit Ischgl verbundenen Samnaun sagte der Tourismus-Direktor laut «Bündner Tagblatt» noch Mitte März: «Unser Skigebiet wird noch eineinhalb Monate offen bleiben.» Um die Gäste zu halten, bot man sogar Skipässe für Erwachsene zum Kindertarif an.

Am 25. März titelte die NZZ «Alles richtig gemacht – sagt die Propaganda. Die Kommunistische Partei Chinas versucht, die Bevölkerung von Fehlern zu Beginn der Pandemie abzulenken.» Die gleiche NZZ beanstandet jedoch nicht, dass Daniel Koch von Bundesamt für Gesundheit alle Fragen zu Versäumnissen der Schweizer Behörden mit dem Satz abblockt, es sei jetzt nicht der Moment, über die Vergangenheit zu reden, sondern man müsse jetzt in die Zukunft schauen.

In diesem Gastkommentar in der NZZ vom 30. März zeigt der Historiker Bernd Roeck die Geschichte der Sündenböcke und Feindbilder im Laufe der Jahrhunderte auf.

Kampagne gegen Kuba

Eine ähnliche Medien-Kampagne wie gegen Peking läuft derzeit gegen Kuba. Die kommunistische Regierung hat Experten, die mit der Ebola-Epidemie in Afrika Erfahrungen gesammelt haben, nach Italien und in andere Länder entsandt. In Zusammenarbeit mit der Weltgesundheitsorganisation. Das könnte natürlich zur Folge haben, dass der grosse kommunistische Satan Kuba momentan ein freundliches Image bekäme. Folglich rief die Regierung in Washington unverzüglich dazu auf, die kubanische Hilfe zurückzuweisen.

Die US-Botschaft in Havanna warnte vor der Zusammenarbeit mit Kuba, denn die kubanische Regierung sende ihr Gesundheitspersonal nur in alle Welt, um an Dollar zu kommen. Auch würde den kubanischen Ärzten und Pflegerinnen «auf internationalen Missionen ihr Gehalt nicht bezahlt und sie würden gezwungen, unter schrecklichen Bedingungen zu arbeiten.»

Letzteres hat die Regierung in Havanna als Propagandalüge zurückgewiesen. Ersteres ist zutreffend, wurde aber von der kubanischen Regierung nie in Abrede gestellt. Kubanische Ärzte und Ärztinnen kamen im vergangenen halben Jahrhundert in 164 Ländern zum Einsatz.

In Ländern wie Venezuela oder Brasilien wurde Kuba dafür teilweise mit Erdöl bezahlt. Aber in den ärmsten Ländern Afrikas war die kubanische Hilfe gratis. Nach Angaben des kubanischen Gesundheitsministeriums bringen die internationalen Gesundheits-Missionen Kuba etwas mehr als sechs Milliarden Dollar im Jahr ein. Das wäre, wenn man den Tourismus ausnimmt, doppelt so viel wie die Exporteinnahmen aus Rohzucker, Tabak, Nickel und Rum.

Die von Präsident Obama eingeleitete Entspannung zwischen Kuba und den USA wird von der Regierung Trump Zug um Zug rückgängig gemacht. US-Touristen wird es z.B. nicht mehr erlaubt, in staatlichen Hotels abzusteigen, die finanziell mit kubanischem Militär verknüpft sind. Geld aus den USA solle nicht «an ein Regime gelangen, das die grundlegenden Bedingungen für eine freie und gerechte Gesellschaft nicht erfüllt», heisst es von Seiten der Trump-Regierung.

Die US-Agrarwirtschaft, Hotelketten, Pharmaindustrie und Computerbranche sehen es anders. Sie verlieren Arbeitsplätze und Geld durch Trumps Politik. Laut Umfragen von 2016 haben 65 Prozent der Amerikanerinnen und Amerikaner Obamas Kuba-Tauwetter begrüsst. Selbst in Miami, einst stärkste Bastion der Fidel-Castro-Gegner, sind 63 Prozent der Amerikaner kubanischen Ursprungs dafür, die seit einem halben Jahrhundert dauernde Wirtschaftsblockade aufzuheben.

In der Schweiz dominiert die Angst vor Washington. Schweizer Banken lehnen selbst einfache Geldüberweisungen nach Kuba ab mit der Begründung, sie seien durch das US-Embargo dazu gezwungen.

Es klingt wie ein Witz, ist aber nicht zum Lachen, wenn ein Land wie die USA, in dem mehr als 25 Millionen Menschen keine Krankenversicherung haben, in der heutigen Situation versucht, die Gesundheitsbehörden im sozialistischen Kuba niederzumachen. Kuba hat eine geringere Kindersterblichkeit als die USA. Die Insel mag eine Menge hausgemachter Probleme mit ihrer Planwirtschaft haben, hat aber trotz US-Wirtschaftsembargo nach wie vor eine kostenlose Gesundheitsversorgung für alle, inklusive aller Impfungen und Krebsvorsorge.

Hilfe aus Russland: Kritik statt Dankbarkeit

Selbstverständlich durfte auch Russland, der andere grosse Satan, nicht unverschont bleiben im Polit-Poker um die Pandemie. Umso mehr, als der Corona-Virus die Unverschämtheit zu haben scheint, sich geostrategisch dem Russen anzudienen. Der gigantischen Manöver-Aufmarsch der NATO an Russlands Westgrenzen musste abgeblasen werden infolge Covid-19.

Im SRF-Info-Magazin «Echo der Zeit» wurde am 25. März festgestellt, Russland profitiere augenscheinlich ganz schön von seiner schnellen Hilfe für Italien: «Russland steht plötzlich als hilfsbereite und solidarische Macht da.» Das darf natürlich nicht sein. Also folgert der Russland-Korrespondent: «Da steckt natürlich staatspolitisches Kalkül dahinter.» Was so viel heissen sollte wie: Putins Machtpolitik zeigt sich in diesem Fall auf die soft-imperialistische Art. Der Russe nutzt die Pandemie, um sein schlechtes Image aufzubessern und den ideologischen Zugriff auf den Westen zu verstärken.

Das mag sogar zutreffen, ist aber legitim. Wenn ich hier behaupten würde, die von Steuergeldern finanzierten Schweizer Entwicklungsprojekte in Afrika, Asien oder Lateinamerika seien nichts anderes als staatspolitisches Kalkül, politische Imagepflege oder gar Machtpolitik und Exportförderung für die Schweizer Industrie, so würde man mir entgegnen, die Sache sei wohl etwas komplexer.

Sobald es aber um Russland, China oder Kuba geht, brennen bei den neuen Kalten Kriegern alle Sicherungen durch. Frage: Wenn China, Russland oder Kuba uns mit ihrem Know how helfen, Menschenleben zu retten, wäre es dann nicht angebracht, die geostrategischen Doktrinen für den Moment einmal zu vergessen? Die Antwort heisst: Ja. Es wäre ein Zeichen der Zivilisiertheit und des Anstandes.

Doch wo es um die geopolitischen Strategien des Rüstungssektors und seiner Lobby namens NATO geht, müssen offensichtlich Feindbilder und Drehbücher der Bedrohung respektiert werden. Denn Feindbilder sind unersetzlich, um die jährliche Erhöhung des Rüstungsetats durch die Parlamente zu bringen und das Geld der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler in die Taschen der vielen westlichen Konzerne zu leiten, die an der Aufrüstung verdienen.

Mit freundlicher Genehmigung von Infosperber.ch>>>

COMMENTS