Michael Thumann: „Es ist ein gigantisches Misstrauen in der Gesellschaft entstanden“ Michael Thumann

Michael Thumann: „Es ist ein gigantisches Misstrauen in der Gesellschaft entstanden“ 

Michael Thumann ist außenpolitischer Korrespondent der Wochenzeitung Die Zeit. russland.NEWS sprach mit ihm über sein letztes Buch und darüber, wie die Atmosphäre in Russland im Moment ist. 

Herr Thumann, Sie haben das Buch mit dem Titel „Revanche. Wie Putin das bedrohlichste Regime der Welt geschaffen hat“. Wie ist es dem russischen Präsidenten gelungen, dies direkt vor unserer Nase zu tun?

Michael Thumann: Wir haben dabei zugeschaut und nicht geglaubt, dass es so schlimm werden könnte, wie es sich andeutete. Und wir haben ihm nicht richtig zugehört. Bereits 2018 machte er deutlich, dass die Atomstreitkräfte künftig eine wesentlich größere Rolle beim russischen Militär spielen werden. Das hat man lange Zeit nicht ernst genommen. Ein zweiter Moment ist sein zunehmendes Interesse für Geschichte und das „Verbeißen“ in die „ukrainische Frage“. Bereits 2012 beschrieb er seine Politik als nationalistische Politik. Auch daran haben viele vorbeigeschaut. Und im Februar 2022 kam die böse „Überraschung“. 

Genau über diese beinahe Besessenheit von der Geschichte schreiben Sie in Ihrem Buch. Und über Putins Missbrauch der Vergangenheit. Seit Jahren erzählt er den russischen Wählern die „Leidenssaga von Russland, das vom Westen betrogen, von Völkermord bedroht und durch die Ukraine verraten“ ist. 

Michael Thumann: Das Interesse kommt aus seiner Wendung zum Nationalismus, die er aus Gründen des Machterhalts vor zehn Jahren hingelegt hatte. Dabei griff er in ein Narrativ der Darstellung der 90er Jahre als ein großes vom Westen gesteuertes Komplott gegen Russland zurück. Er hat dieses Narrativ über die Jahre hinweg „verfeinert“ und eine persönliche Marke daraus gemacht. Aber diese Stimmung war da, er hatte eben ein gutes Gespür dafür. 

Apropos Gespür. Sie beschreiben Putin als einen autoritären Führer, der seinen Einflussbereich erweitern und Russland wieder zur Weltmacht machen möchte. All die Sachen, die Russen gefallen könnten. Es ist ihm allerdings offensichtlich nicht gelungen, ganz im Gegenteil. 

Michael Thumann: Aber Anfang 2022 war Russland ja eine Weltmacht! Moskau war ein Treffpunkt für viele! Die Führer der arabischen Welt fuhren dorthin, der chinesische Machthaber schaute immer vorbei, die westlichen Regierungschefs gaben sich die Klinke in die Hand. Noch im Sommer 2021 traf sich Putin mit Biden in Genf. Moskau vermittelte in vielen Konflikten vom Kaukasus bis in Nahen Osten hin, in Syrien, in der Türkei. Die Russen hatten in vielen Ländern ihre Hände im Spiel ohne (wie die Amerikaner) ständig öffentlich angeprangert zu sein. Kurzum, Russland war auf dem aufsteigenden Ast des internationalen Einflusses. Aus dieser formidablen Position hat sich Putin im Februar 2022 verabschiedet. 

Stellt ihm die russische Gesellschaft eine Rechnung dafür aus?

Michael Thumann: Ich hoffe, dass sie das eines Tages tun wird. Denn die Verluste Russlands an Menschen, Wohlstand, Machtposition, Geld etc. reichen für eine Revolution gegen ihn. Er hat alles verspielt. Doch er hat die Beherrschung dieses Landes perfektioniert, das war sein Projekt Nummer eins. Die Eliten bekämpfen sich gegenseitig, die Menschen sind lahmgelegt. Die Repressionen und die Angst sind enorm. Aber die Geschichte ist ein Prozess. 

Was hat uns der Aufstand von Prigoschin gezeigt? Ist es das erste Zeichen, dass Putins Machtgefüge schwächelt?

Die Wagner-Revolte hat die Grenzen und Schwächen des Regimes gezeigt. Putins Spiel mit verschiedenen Söldner-Armeen und Tarnkappenkämpfern ist zusammengebrochen. Das Ausspielen verschiedener Streitkräfte und ihrer Führer gegeneinander ist gescheitert. Putin hat die größte Invasion eines militärischen Akteurs tief nach Russland hinein seit dem Zweiten Weltkrieg hinnehmen müssen. Damit ist Putins Regime nicht angezählt. Er wird mit mehr Repressionen und Kaderwechseln reagieren. Doch alle haben seine Schwäche (und in seinen Reden übrigens auch seine beginnende Panik) gesehen. Er hat einen empfindlichen Schlag versetzt bekommen – und kann dennoch weiter herrschen. Bis zur nächsten möglichen Revolte.

Einen Satz fand ich in Ihrem Buch besonders prägnant: „Russland hat sich mit dem Krieg gegen die Ukraine auch selbst überfallen“. Was genau meinen Sie damit? 

Michael Thumann: Vor dem Krieg hatte Russland die wunderbare Position, Europas Gaslieferant Nummer eins zu sein. Das hat Putin endgültig zerstört. Aber vor allem begann in Russland eine regelrechte Jagd nach Menschen, die in den Krieg ziehen müssen. Das hat sehr viele russische Familien betroffen, und zwar in einem viel größeren Umfang als der Krieg in Afghanistan. Die Folgen für die russische Gesellschaft sind noch gar nicht absehbar.  

Sie sind einer der wenigen westlichen Korrespondenten, die noch in Moskau arbeiten. Wie würden Sie die Stimmung dort beschrieben? 

Michael Thumann: Die Angst bei der Bevölkerung ist spürbar. Die Menschen sind wahnsinnig vorsichtig geworden damit, was sie sagen. Noch vor zwei Jahren konnte ich als Reporter aus Deutschland Menschen einfach auf der Straße ansprechen und sie haben mit mir geredet, vielleicht nicht frei von der Leber weg, aber immerhin. Heute ist das für einen westlichen Korrespondenten viel schwerer geworden. Meine russischen Freunde erzählen mir, dass Russen auch untereinander viel vorsichtiger geworden sind, denn man hat Angst vor Denunziationen. Es gibt Fälle, wo sogar Ehepaare sich gegenseitig denunzieren. Es ist ein gigantisches Misstrauen in der Gesellschaft entstanden. 

Haben Sie persönlich Angst dort zu arbeiten?

Michael Thumann: Man muss genau aufpassen, dass das, was man macht, nicht als Spionage ausgelegt werden kann. Was wir im Westen als investigative Recherche verstehen, kann in Russland als Spionage gedeutet werden. Es ist eine Grauzone, die mittlerweile ziemlich unangenehm ist.

Und meine letzte Frage, die wir uns alle seit 18 Monaten stellen: Warum hat Putin diesen Krieg angefangen? War das die Revanche, über Sie in Ihrem Buch schreiben?

Michael Thumann: Die Revanche hätte Putin perfekt weiter umsetzten können, wenn er einfach nur abgewartet und an seinem Projekt „wir bringen den Westen zu Fall“ gearbeitet hätte. Warum hat er sich für den Krieg entschieden? Ich glaube, dass er der Auffassung war, er hätte so weiter machen können. Der Krieg war nur ein Baustein in seinem Projekt und er würde Russland zu einer Größe führen, die noch keiner gesehen hatte. Es war die Mischung der Überschätzung seiner selbst und der Kapazitäten seiner Armee und der Unterschätzung des Westens. Und er hat sich in jeder Hinsicht geirrt. 

Daria Boll-Palievskaya

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