Mein Moskau [22] – Die vergessenen Kinder

[Hanns-Martin Wietek] Dies ist das zweiundzwanzigste Kapitel der Geschichte eines zweifachen Aufbruchs – eines persönlichen und eines Volkes –, erlebt und geschrieben in den Jahren 1992 und 1993.

Nachdem diese Geschichte jetzt schon Geschichte geworden ist, habe ich mich entschlossen, sie unverändert zu veröffentlichen – auch wenn ich das eine oder andere heute anders schreiben würde.

Vielleicht trägt die Geschichte dazu bei, dass die Menschen des Westens die russischen Menschen besser verstehen.

Die einzelnen Abschnitte erscheinen in loser Folge.
Alle Folgen finden Sie hier.

 

Piotr und ich sitzen zusammen; ich habe ihm einen Brief gegeben, den ich von einer evangelischen Gemeinde im Coburger Land bekommen habe, als ich dort im Sommer einen Kollegen vertrat.
Über Umwege hatte der Pfarrer erfahren, dass ich nach Moskau fahren werde, und mich um Mithilfe gebeten.

Die Gemeinde hatte eine Spendenaktion durchgeführt, bei der über 9.000 DM zusammengekommen waren. Der Zweck dieser Sammlung war, medizinische Hilfsgüter an eine Moskauer Adresse zu schicken; an eine Adresse, die ihnen wiederum durch andere vermittelt worden war.

Von dort hatten sie diesen besagten Brief erhalten, in dem recht genau aufgelistet ist, was gebraucht wird. In dem Brief ist die Rede von einer Krankenstation, die auf- oder ausgebaut werden soll. Wozu diese Krankenstation gehört, ist nicht ersichtlich; eine Medizinische Abteilung Nummer soundsoviel ist als Absender angegeben.

Die Gemeinde hatte, um die Spende nicht in dunkle Kanäle versickern zu lassen, nachgeforscht, unter dieser Adresse aber kein Krankenhaus oder Ähnliches gefunden.
Bei Telefonanrufen war der Direktor nie anwesend, und niemand anderer war bereit, irgendeine Auskunft zu erteilen.

Ich wurde gebeten, mich vor Ort zu erkundigen, habe aber auch nichts anderes finden können.

Piotr kennt den bürokratischen Apparat wie seine Westentasche, ihn habe ich jetzt um Aufklärung gebeten. Er liest den Brief genau durch, und, wie ich erwartet habe, kommt seine Antwort:

„Der, der den Brief unterschrieben hat, ist kein Arzt, sondern ein Verwaltungsmann; die Medizinische Abteilung untersteht dem Ministerium; und die Adresse, übrigens ganz in meiner Nähe, ist ein staatlicher Betrieb, der nicht genauer Bekanntes herstellt.
Dass dieser Betrieb eine eigene Krankenstation besitzt und vielleicht auch ausbauen will, ist nicht unwahrscheinlich.
Wie die Spende verwendet werden wird, wird sich aber kaum kontrollieren lassen.“
Eine klare Antwort!

„Wenn deine Gemeinde an wirklich Arme spenden will, an die Ärmsten der Armen, dann kann ich dich mit jemandem zusammenbringen, von dem du sicher sein kannst, dass er das Geld selbstlos für seine Schützlinge verwendet. Es ist eine katholische Gemeinschaft, die taubstumme Kinder betreut. Wenn du willst, kann ich für heute Nachmittag ein Treffen vereinbaren.“
Ich will.

Wir sprechen noch einige Zeit, über die Situation der Kirche und der »Christ« in Russland. Pjotr unterscheidet immer wieder zwischen „den Christen“ und „den anderen“, was ich lange nicht verstehe, bis ich feststelle, dass mit „den Christen“ die russisch-orthodoxen Gläubigen und mit „den anderen“ wir, die katholischen und evangelischen Christen gemeint sind.
Stimmt, wir sind hier in Russland eine so extreme Minderheit, wie bei uns einige Sekten, die bei uns meistens kaum zu Kenntnis genommen werden, ja von deren Existenz wir meistens gar nichts wissen.
Umso bemerkenswerter ist es, dass Piotr „die anderen“ unterstützt.

Wir verabreden uns für den frühen Nachmittag hier bei Nikolai in der Wohnung.

Kurz nach dem Mittagessen ist Piotr mit einer Frau – ich schätze sie etwa vierzig Jahre alt – wieder hier.
Die Frau ist sehr schlank, besser gesagt dürr, einfach aber sauber gekleidet; sie stellt sich als Olga vor. Sie versteht etwas Deutsch und spricht fließend Englisch.

Ich erkläre ihr, dass die Möglichkeit besteht, eine Spende einer evangelischen Gemeinde an ihre Gemeinde zu vermitteln; eine Zusage kann ich jedoch nicht geben, das müssen die Spender entscheiden. Ich kann nur weitergeben, für welchen Zweck das Geld verwendet würde und bitte sie daher, mir etwas über ihre Arbeit zu erzählen.

„Wir sind eine katholische Gemeinschaft“, erzählt sie, „und haben uns zur Aufgabe gemacht, die Ärmsten der Armen, wir nennen sie ‚die vergessenen Kinder‘, zu betreuen; das sind taubstumme Kinder unserer Religion aus ganz Moskau und Umgebung. Die Kinder erhalten bei uns Religionsunterricht, werden auf ihre Erstkommunion vorbereitet und, wo wir können, auch im täglichen Leben unterstützt.“

„Haben diese Kinder denn keine Familie, werden sie nicht vom Staat oder von der Kirche unterstützt?“

„Bis auf einzelne leben die Familien in so großer Armut, dass sie sich um die besonderen Bedürfnisse dieser Kinder, auch wenn sie wollen, nicht sorgen können. Viele Familien sind zerbrochen, häufig war Wodka der Grund; diese Kinder sind einfach in ein Heim abgeschoben worden und werden dort verwaltet. Andere sind während der Woche in einem besonderen staatlichen Internat und kommen am Wochenende zu ihrer Familie, wo sie dann häufig nur als ein Esser mehr empfunden werden. Wieder andere werden mit Liebe zu Hause empfangen, die Familie selbst lebt jedoch in vollkommener Armut. Die Ursachen der Not sind vielfältig.“

„Aber eine staatliche Unterstützung gibt es doch, oder?“

Hier schaltet sich Piotr ein:
„Ich glaube, Hans, du hast eine falsche Vorstellung von dem, was bei uns heute staatliche Unterstützung bedeutet; du darfst nicht deine Vorstellungen einfach auf unsere heutigen Zustände übertragen.
Ich mache dir einen Vorschlag: irgendwann, sei es nachher oder morgen, fahren wir zusammen dorthin, wo Olga und ihre Helferinnen mit ihren Schützlingen arbeiten; du kannst dann selbst alles sehen. Einverstanden?“ „Einverstanden!“

Mich interessiert aber doch noch, welche Unterstützung die Gemeinschaft von der Kirche bekommt.
„Kirche?“, fragt Olga. „welche Kirche meinst du? Für die russisch-orthodoxe Kirche existieren wir bislang gar nicht, zumindest merken wir davon nichts.
Erst vor nicht ganz zwei Jahren haben wir vom Staat die amtliche Anerkennung unserer Existenz erhalten. Bis dahin haben wir im Untergrund gelebt. Immer wieder sind unsere Pfarrer auf Nimmerwiedersehen verschwunden. Ein Kirchengebäude haben wir in Moskau; wie es aber überwacht wird, ohne dass man sich überhaupt die Mühe macht, das zu verbergen, davon kannst du dich selbst überzeugen.“
„Ist das aber heute nicht besser geworden?“
„Zurzeit empfinden wir keine Unterdrückung, wir können aber auch nicht feststellen, dass die Überwachung aufgehört hat. Und wer sagt  uns, ob die Entwicklung nicht, wieder rückgängig gemacht, wird?
Wir beten, dass Jelzin bleibt und sich weiter durchsetzt. Was anderes können wir nicht tun.“
„Ich meine eigentlich unsere, die katholische und die evangelische Kirche.“
„Diese Kirche sind wir. Wo soll es da Unterstützung geben?“
„Aber alle großen katholischen und evangelischen Hilfswerke, sammeln und spenden doch für Russland! Wo bleiben diese Sachen denn alle?“
„Ich bin nur ein kleines Glied dieser Kirche, ich kenne die Wege der Hilfsaktionen nicht, aber selbstverständlich und mit Recht ist die russisch­orthodoxe Kirche der Ansprechpartner dieser Hilfssendungen, nehme ich einmal an; was sind schon ein paar tausend evangelische und katholische Christen im Vergleich zu Millionen russisch-orthodoxer Christen allein hier in Moskau!
Und wenn Hilfssendungen kommen, wie sollen wir sie verwalten?
Vor einiger Zeit, das war bisher das einzige Mal, haben wir eine Hilfssendung der Karitas erhalten. Uns wurde ganz kurzfristig mitgeteilt, dass zwei Lastwagen mit Hilfsgütern für unsere Gemeinschaft hier sind. Wir mussten so schnell wie möglich unsere hilfsbedürftigen Menschen zusammenrufen, haben die Lastwagen an eine Stelle im Wald bei Moskau geschickt und haben dort vom Lastwagen die Päckchen verteilt, weil wir ja nicht einmal Platz haben, um diese Sachen irgendwo zu lagern!“
„Ja aber irgendwo müsst ihr doch einen Ort haben, an dem ihr mit  den Kindern arbeitet, an dem ihr sie unterrichtet; könntet, ihr nicht dort Hilfssendungen lagern?“
„Wir sind in einer Wohnung einer anderen Organisation zu Gast, die sich ebenfalls mit behinderten Kinder beschäftigt. Dort dürfen wir an zwei Tagen in der Woche ein Zimmer benutzen. Wir haben dort, einen großen Schrank, in dem wir alles, was wir besitzen, aufbewahren und bei Bedarf hervorholen. Mehr Platz haben wir nicht.“
„Nun, ich meine, wir sollten einfach einmal dorthin fahren, wovon wir sprechen“, meint Piotr, „du kannst dir dann selbst am besten ein Bild von den Zuständen machen, und du weißt dann später in Deutschland auch wovon du sprichst.“

Zum ersten Mal in meinem Leben erfahre ich, was es heißt, von der Barmherzigkeit der anderen abhängig, nur geduldet in der Diaspora zu leben. Wenn von christlichen Gemeinden in einer fernen Welt oder einer vergangenen Zeit, die Rede war, hatte der Begriff „Diaspora“ für mich bisher immer eine Art Heiligenschein um sich; dass in der Wirklichkeit diese Menschen in echter Not, Existenznot und Angst leben und leiden, und das durchaus nicht, an den Lohn im Jenseits denkend, mit einem verklärten Lächeln auf den Lippen, war mir vom Verstand her natürlich immer klar; etwas anders ist es aber diese Angst zu sehen, mitzufühlen, mitzuleiden, also im echten Sinn des Wortes Mitgefühl und Mitleid zu haben.

Zumindest bis vor kurzem war es bei uns üblich (und es geschieht auch heute noch), von einer katholischen Gemeinde in einer rein evangelischen Umgebung, bzw. umgekehrt, von einer „Diaspora“-Gemeinde zu sprechen; dieser Begriff erscheint mir heute geradezu lächerlich, ja eigentlich eher beleidigend für die, die wirklich in der Diaspora leben.

Unsere Maßstäbe taugen nichts mehr! Wir haben den Bezug zur Wirklichkeit verloren!
Und trotzdem spielen wir uns zu Richtern auf!
Den eigenen Geldbeutel im Auge, verursachen wir auf der einen Seite menschliche Not (teilweise, um politische Ziele zu erreichen, siehe Embargos), und urteilen dann noch, wer es wert, sei, dass ihm geholfen werde und wem nicht!
Von der Not, die die sogenannten „Zivilisierten“ Völker in der „Dritten Welt“ (wer hat eigentlich diesen idiotischen Ausdruck geprägt? und wer ist „Erste“ und „Zweite“ Welt?) in der Vergangenheit, angerichtet, hat, will ich gar nicht sprechen.

‚Nje panemaju‘, ich versteh‘ das nicht!!

Wir fahren mit meiner geliebten Metro quer durch die Stadt, besser unter der Stadt hindurch, in ein Viertel, bestehend aus den schon beschriebenen ‚hübsch hässlich modernen‘ Wohnblocks.

Durch ein Gewirr von Hinterhöfen und Eingängen – wie man sich da zurechtfinden kann, ist mir immer noch schleierhaft – kommen wir in einen ca. 25 m2 großen Raum. Da hier heute Abend ein Gottesdienst für Taubstumme stattfinden wird, sind einige Frauen gerade dabei, alles vorzubereiten:

Eine Art Tapeziertisch wird aufgestellt und mit einem weißen Tuch bedeckt, das ist der Altar, auf den zwei weit abgebrannte Kerzen gestellt werden. Als Schale für das Brot, die Hostien, dient ein zweckentfremdeter und umgestalteter Aschenbecher aus Messing – zumindest sieht er nach Messing aus. Der Tabernakel – das kleine Schränkchen, in dem das Brot aufbewahrt wird – sieht aus, als ob es früher einmal zwei, drei Flaschen Wodka vielleicht in einem Bauernhaus beherbergt hätte. An der Wand werden von den Kindern gemalte Bilder befestigt, Stühle werden verteilt, und fertig ist die „Kirche“, Im Sommer, so sagt man mir, wird der Gottesdienst oft im Wald gefeiert, da müssen sich die Menschen nicht so in dem kleinen Raum drängen, und der Altar und alles übrige ließe sich ja leicht mitnehmen.

Stolz zeigen sie mir die Messgewänder, schöne und offensichtlich gute Messgewänder. Sie haben sie alle aus Stoffresten selbst geschneidert. Da noch etwas Zeit bleibt, setzen wir uns auf die Stühle und unterhalten uns.
Im Laufe des Gesprächs stellt sich heraus, dass zwei der Frauen vom russisch-orthodoxen zum katholischen Glauben übergewechselt sind, was bei einer von ihnen, bei Olga, zur Folge hatte, dass sich der Mann scheiden ließ. Ihre Tochter und sie wurden praktisch von der übrigen Verwandtschaft, einschließlich von Olgas Eltern, verstoßen. Sie leben von dem, was ihnen die anderen zustecken, aber das reicht, wie sie sagen, um nicht zu verhungern. (Jetzt wird mir klar, warum Olga so dürr ist.)

Alles Lehrmaterial für die Kinder zeichnen und schreiben sie selbst, leider haben sie keine Möglichkeit die Unterlagen vernünftig zu vervielfältigen. Vielen Kindern könnte mit bestimmten Apparaturen beim Lernen geholfen werden; kein Geld.
Und so geht es weiter; immer heißt es, dies oder jenes könnte getan werden, möchten wir tun…kein Geld!
Sie jammern nicht, sie klagen nicht an, sie betteln nicht, der Mangel ist für sie das Normale; aber ich spüre, dass er ihnen weh tut. Nicht um ihrer selbst willen, sondern wegen der Kinder; sie wollen helfen, können aber nur einen kleinen Teil dessen, was nötig wäre.

Ich schäme mich nicht, zuzugeben, dass mir während des Gesprächs die Tränen in den Bart, gelaufen sind, und dass mich Wut überkommt, wenn ich daran denke, wie bei uns im „zivilisierten“ Westen Dinge weggeschmissen werden, an denen diese Menschen Not leiden.

‚Hans, hör‘ auf, sonst geht das Gefühl mit dir durch!‘

Ich beschließe alles in meiner Macht stehende zu tun, um diesen Menschen zu helfen.

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