Iwan Sergejewitsch Turgenjew – Sein literarisches Schaffen, Romane II

Literaturessay von Hanns-Martin Wietek (weitere Literaturessays finden Sie hier)

So wünschenswert es wäre, jeden einzelnen von Iwan Turgenjews hochklassigen Romanen ausführlich zu besprechen – hier ist dafür weder Zeit noch Raum. Stichwortartige Notizen über die Handlung und die persönlichen Bezüge müssen genügen, um Lust auf mehr zu machen. Wer sich den höchst interessanten literaturwissenschaftlichen und gesellschaftspolitischen Analysen zuwenden will, die Turgenjews Romanwerk nach sich gezogen hat, wird in den Literaturangaben am Ende dieser Essays viel Lesenswertes finden.

Turgenjews Romanwerk ist wie ein Spiegel, der die Entwicklungen in der Biografie des Autors und vor allem in seinem zeithistorischen Umfeld literarisch zurückwirft.
Mit Rudin (1855 geschrieben) beginnt dieser Zeitspiegel in den 1830er- und 1840er-Jahren.
Rudin, ein junger Adliger, trifft auf einem Landgut ein und gewinnt mit seinem charmanten Auftreten und seinen geistreichen, fortschrittlichen Wortbeiträgen sehr schnell die Herzen der anwesenden Damen. In seinen Disputen mit einem Adligen alten Schlages bleibt er immer der Sieger. Mit seinen Reden über eine gerechte Zukunft erobert er sehr schnell auch das Herz der Tochter des Hauses und verliebt sich – wie er meint – selbst in sie. Die Mutter hat jedoch andere Pläne mit ihrer Tochter Natalja und ist erzürnt über die Heimlichkeiten hinter ihrem Rücken. Natalja ist bereit, mit Rudin zu fliehen; Rudin jedoch ordnet sich dem Willen der Mutter unter und Natalja muss feststellen, dass all die großen Worte von Selbstbestimmung und Freiheit nichts als heiße Luft waren. Rudin muss der Wahrheit über sich selbst ins Gesicht sehen und meint, dass er irgendwann einmal so unnütz sterben wird, wie er gelebt hat. Tatsächlich wird er später allein mit umgebundener roter Schärpe auf den Barrikaden des Pariser Arbeiteraufstandes stehend erschossen, als die Schlacht schon längst verloren ist.

Turgenjew hat sich für viele seiner Figuren lebende Personen zum Vorbild genommen und von Rudin sagte er, dass er „ein ziemlich getreues Porträt” von Michail Bakunin sei – ein Seitenhieb gegen den einstigen Nachbarn Bakunin, mit dem er zusammen in Berlin studiert hatte, den er aber später wegen seiner großen Reden und wenig effektiven Taten mied.

Der Roman Ein Adelsnest (1858 geschrieben) spielt in den 1840er-Jahren und ist eine Auseinandersetzung mit dem russischen Westlertum.
Lavreckij, der englisch erzogene Spross einer Familie von altem Adel, der Überzeugung nach halb westlicher Intellektueller, halb russischer Bauer, heiratet die vergnügungssüchtige Generalstochter Varvara und geht mit ihr nach Paris. Dort betrügt sie ihn mit einem pomadigen Jüngling; verärgert und enttäuscht geht er wieder zurück nach Russland, um sein Gut zu bewirtschaften. Auf der Heimreise trifft er im »Adelsnest« Liza, die streng religiös erzogene Tochter des Hauses, und verliebt sich in sie – und umgekehrt. In der Zeitung lesen Lavreckij und Liza, dass Varvara gestorben sei, und sie beschließen zu heiraten. So weit kommt es jedoch nicht: Das Glück dauert nur wenige Stunden, dann steht die Totgeglaubte vor der Tür und fleht um Vergebung. Liza entscheidet sich, auf ihre Liebe zu verzichten, den Schleier zu nehmen und ins Kloster zu gehen; Lavreckij verfrachtet seine Frau mit einem ansehnlichen Wechsel wieder nach Paris und geht selbst auf sein Gut. Dort sitzt er und bekennt: „Willkommen einsames Alter! Rinne dem Ende zu, nutzloses Leben!“

Auch in diesem Roman hat sich Turgenjew wieder an lebende Vorbilder gehalten: Nikolai Platonovič Ogarëv (*1813, †1877), ein enger Freund von Alexander Herzen, und die zwei Frauen seines Lebens (ein Verhältnis so recht à la George Sand) standen Pate für Lavreckij, Liza und Varvara; die Beschreibung ihres gemeinsamen Schicksals geht bis in Details – wie im Buch hat Liszt tatsächlich bei Ogarëv Klavier gespielt. (Ein sehr gutes Werk zu Herzen, Ogarëv und Bakunin ist Edward Halletts Carrs Romantiker der Revolution.)

Im August 1855 bekam Turgenjew vom benachbarten Gutsbesitzer Karatejev – bevor dieser in den Krimkrieg zog und dort auch fiel – ein recht unausgereiftes Manuskript, in dem er die Geschichte seiner Liebe zu einem russischen Mädchen erzählt, das nicht ihn erhörte, sondern mit einem bulgarischen Studenten namens Katranov in dessen Heimat ziehen wollte, um an seiner Seite gegen die Türken zu kämpfen. Sie kamen jedoch nur bis Venedig; dort starb Katranov an einer Lungenentzündung. Diese Geschichte wurde zur Handlung von Turgenjews Roman Am Vorabend (1860 erschienen).
Zum ersten Mal stammt der Held nicht aus der Adels-, sondern aus der Rasnotschinzenschicht; zudem ist er ein Ausländer. Damit wollte Turgenjew verdeutlichen, dass es in Russland jener Zeit gar keine richtigen Helden gab. Der Bildhauer Šubin sagt genau das dann auch im Roman, als klar ist, das Jelena heimlich den Freiheitskämpfer Insarov geheiratet hat und mit ihm gehen wird:

»Noch gibt es bei uns niemand, noch gibt es keine Menschen, wohin man auch die Blicke richte. Alles – Kroppzeug, kleine Nager, kleine Hamlets, Samojeden, Finsternis oder unterirdische Dumpfheit, Mörserkeulen, Trommelstöcke oder solche, die aus dem Leeren ins Leere schöpfen! Und dann gibt es auch noch andere. Solche, die sich bis zu einem fast schmachvollen Ausmaß selber studiert haben, jeder ihrer Empfindungen unablässig den Puls fühlen und immer nur über sich selber berichten können, das da fühle ich, und dies hier denke ich. Eine nützliche, eine wackere Beschäftigung! Nein, wenn wirkliche Menschen unter uns geweilt hätten, würde dieses Mädchen nicht von uns gehen, würde diese wachsame und feinhörige Seele uns nicht entgleiten wie der Krebs ins Wasser! Was ist denn das, Uwar Iwanowitsch? Wann endlich kommt unsere Zeit? Wann endlich werden auch bei uns Menschen entstehen?«
»Gib ihnen Zeit«, antwortete Uwar Iwanowitsch. »Sie werden schon kommen!«
(1)

Turgenjew hatte aber sicher auch die Zensur im Auge. Zu Recht nahm er an, dass ein ausländischer Revolutionär sicher leichter durch die Zensur gehen würde als ein russischer Aufständler.

Turgenjews vierter und berühmtester, aber auch am heißesten umstrittener Roman Väter und Söhne (1860/61 geschrieben, 1862 erschienen) heißt im Original Otcy i deti, was mit Väter und Kinder richtiger übersetzt wäre. Obwohl das Romangeschehen ins Jahr 1859 verlegt ist, spiegelt es die gesellschaftspolitische Situation (Bauernbefreiung) der Jahre, in denen das Buch geschrieben wurde, deutlich erkennbar wieder.
In Väter und Söhne geht es um den Generationen- und den damit verbundenen gesellschaftlichen und ideologischen Konflikt in Russland zur extrem wichtigen Umbruchszeit der Bauernbefreiung.
Gegenüber stehen sich in erbittertem Streit die adelige, idealistisch-humanistische Vätergeneration (insbesondere verkörpert von den Figuren des vornehmen, melancholischen „Gentleman“ Pavel Petrovič Kirsanov und seines Bruders Nikolai Petrovič, dem Gutsherrn) und die Generation der rebellierenden, materialistisch orientierten Söhne, vertreten durch den nicht-adeligen Intellektuellen (Rasnotschinzen) Bazarov, einen Arzt, und seinen Freund Arkadij Kirsanov, den weniger radikal gesinnten Sohn von Nikolai Petrovič Kirsanov.
Turgenjew prägt in diesem Roman den Begriff „Nihilist“. Er verwendet ihn für Bazarovs Einstellung und nach eigener Aussage gleichbedeutend mit „Revolutionär“, und als solcher ist der „Nihilist“ auch in den allgemeinen Sprachgebrauch eingegangen. In einem Streitgespräch erklärt Arkadij seinem Vater und seinem Onkel den Begriff:

»Was Basarow selber darstellt?« Arkadij lächelte. »Onkelchen, wollen Sie, so sage ich Ihnen, was er in Wahrheit darstellt?«
»Tu mir den Gefallen, mein kleiner Neffe.«
»Er ist ein Nihilist.«
»Wie?“ fragte Nikolai Petrowitsch. Pawel Petrowitsch dagegen hob sein Messer mit dem Klümpchen Butter an der Spitze der Schneide hoch und hielt es regungslos.
»Er ist ein Nihilist«, wiederholte Arkadij.
»Ein Nihilist«, versetzte Nikolai Petrowitsch. »Das kommt vom Lateinischen nihil, also nichts, soviel ich weiß; mithin bedeutet dieses Wort einen Menschen, der… nichts anerkennt?«
»Sag lieber, der nichts achtet«, fiel Pawel Petrowitsch ein und machte sich aufs neue an die Butter.
»Der sich allem gegenüber von einem kritischen Gesichtspunkt aus verhält«, bemerkte Arkadij.
»Und ist das nicht etwa dasselbe?« fragte Pawel Petrowitsch.
»Nein, das ist nicht dasselbe. Ein Nihilist ist ein Mensch, der sich vor keiner Autorität beugt und der kein einziges Prinzip auf Treu und Glauben hinnimmt, mit wieviel Respekt dieses Prinzip auch ansonst anerkannt worden wäre.«
»Nun und, und soll das richtig sein?« unterbrach Pawel Petrowitsch.
(2)

Der „Hintergrund“ ist wieder eine – eigentlich mehrfache – Liebesgeschichte: Bazarov verliebt sich in die reiche, jugendliche, sehr schöne, aber nicht wirklich liebesfähige Gutsbesitzerswitwe Odincova, womit er gegen seine eigenen Prinzipien verstößt, denn er hält Liebe für Unfug – und wird prompt abgewiesen. Später macht er der leibeigenen Lebensgefährtin von Nikolai Petrovič den Hof und wird von dessen Bruder, dem „Gentleman“, zum Duell mit Pistolen gefordert. Bazarov verletzt Pavel Petrovič ihm Duell und geht zu seinen Eltern zurück, wo er – eigentlich überflüssigerweise – an einer Sepsis stirbt, die er sich beim unvorsichtigen Sezieren eines an Typhus gestorbenen Bauern zugezogen hat. Zwar eilt in seiner letzten Stunde die von ihm ehemals geliebte Anna Sergeevna Odincova mit ihrem deutschen Arzt an sein Sterbebett, aber es ist zu spät.
Turgenjew schildert dieses Ende in einer ergreifenden Szene:

»Ich danke Ihnen«, wiederholte Basarow. »Das ist kaiserlich. Man sagt, die Kaiser pflegen ebenfalls Sterbende zu besuchen.«
»Jewgenij Wassiljewitsch, ich möchte hoffen …«
»Ach, Anna Sergejewna, wollen wir die Wahrheit sprechen. Mit mir ist es aus. Ich bin unter die Räder geraten. Und das Resultat ist, dass es überflüssig war, an die Zukunft zu denken. Der Tod ist ein alter Scherz und doch für jeden neu. Bis jetzt habe ich noch keine Angst… wenn aber erst die Bewusstlosigkeit einsetzen wird – huit!« Er schwenkte mühsam die Hand. »Ja, nun, und was soll ich Ihnen sagen … ich habe Sie geliebt! Das hatte schon vorher wenig Sinn und jetzt erst recht keinen mehr. Die Liebe ist eine Form, meine eigene Form aber beginnt sich bereits zu zersetzen. So will ich lieber sagen, was Sie für eine wunderbare Frau sind! Und jetzt, wo Sie dort stehen, so wunderschön…«
Anna Sergejewna erzitterte unwillkürlich.
»Macht nichts, regen Sie sich nicht auf… setzen Sie sich dort. Treten Sie nicht heran, meine Krankheit ist ansteckend.«
Anna Sergejewna schritt rasch durchs Zimmer und setzte sich in den Lehnstuhl neben dem Diwan, auf welchem Basarow lag.
»Sie Großmütige!« flüsterte er. »Ach, und so nah von mir, und so jung, so frisch und sauber… in diesem widerwärtigen Zimmer! Na, dann leben Sie wohl! Mögen Sie lange leben, das ist das beste von allem und nutzen Sie es, solange noch Zeit ist. Sehen Sie das an, was das für ein ekliges Schauspiel ist, ein halbzertretener Wurm, und krümmt sich immer noch. Und dabei dachte auch ich, ich würde noch viele Sachen deichseln; ich – sterben, woher! Ich habe doch eine Aufgabe, ich bin ein Gigant! Und jetzt ist die ganze Aufgabe dieses Giganten, einigermaßen anständig zu sterben, wenn sich auch niemand dafür interessiert. Aber egal: ich denke nicht daran, mit dem Schwanz zu wedeln.«
Basarow verstummte und begann mit der Hand nach seinem Glase zu tasten. Anna Sergejewna gab ihm zu trinken, doch zog sie die Handschuhe nicht aus und atmete nur vorsichtig.
»Sie werden mich vergessen«, begann er von neuem, »der Tote ist dem Lebenden kein Kamerad. Mein Vater wird Ihnen erzählen, was für einen bedeutenden Menschen Russland in mir verliere. Alles Quatsch, doch lassen Sie den alten Mann dabei. Sie wissen ja… es spielt keine Rolle, womit ein Kind sich amüsiert. Und seien Sie auch freundlich zu meiner Mutter. Solche Leute wie die kann man in Ihrer großen Welt auch am Tage bei Licht nicht finden. Ich – Russland notwendig … Nein, man sieht, ich war nicht notwendig. Und wer ist denn auch schon groß notwendig? Der Schuster ist notwendig, der Schneider, der Fleischer,.. verkauft Fleisch… der Fleischer… warten Sie mal, da rede ich schon irr… Dort ist ein Wald…«
Basarow legte die Hand auf seine Stirn.
Anna Sergejewna beugte sich über ihn.
»Jewgenij Wassiljitsch, ich bin bei Ihnen…«
Er nahm sogleich die Hand von der Stirn und richtete sich auf.
»Leben Sie wohl«, sagte er mit plötzlicher Kraft und seine Augen blitzten dabei mit einem letzten Leuchten. »Leben Sie wohl… Hören Sie mal… ich habe Sie damals nicht geküsst … So blasen Sie auf die sterbende Lampe, damit sie auslöschen möge…«
Anna Sergejewna drückte die Lippen auf seine Stirn.
»Und Schluss!« sagte er und ließ sich auf die Kissen sinken. »Jetzt… wird es dunkel…«
Anna Sergejewna schritt leise hinaus.
»Was gibt’s?« fragte Wassilij Iwanowitsch flüsternd.
»Er ist eingeschlafen«, erwiderte sie kaum vernehmlich.
Es war Basarow nicht mehr beschieden aufzuwachen. Gegen Abend fiel er in völlige Bewusstlosigkeit und starb am folgenden Tage.
(3)

Bazarov ist mehrfach gescheitert: durch seine Liebe zur Odincova – ein Verstoß gegen seine eigene Überzeugung – und bei der missglückten Annäherung an die Lebensgefährtin von Nikolai; letztlich hat ihn – ganz profan – die Natur besiegt.
Das ist die Darstellung eines Revolutionärs, die die Linken zwangsläufig auf die Palme bringen musste; die Konservativen begriffen die Schilderung Bazarovs dagegen als Verherrlichung eines Revolutionärs, was die wiederum auf die Palme brachte. Als dann z. B. 1862 in St. Petersburg an mehreren Orten Brände ausbrachen, wurde Turgenjew sogar auf offener Straße von Menschen angefeindet: „Da sehen Sie, was Ihre Nihilisten angerichtet haben“. Auch der Schriftsteller und Journalist Leskow (*1831, †1895) wurde übrigens damals heftig angegriffen, nur weil er forderte, die Polizei solle anständig recherchieren und nicht einfach alles nihilistischen Studenten in die Schuhe schieben – was zeigt, wie aufgeheizt das politische Klima zur Zeit der Bauernbefreiung war.

Mit seinem satirischen Rauch (manchmal auch Dunst – erschienen 1867) verscherzte sich Turgenjew in Russland endgültig alle Sympathien.
In diesem Roman sind aus den adligen Liberalkonservativen pure Reaktionäre geworden und aus den Revolutionären dummdreiste Schwätzer, Angeber und Krakeeler. Mit satirischer Schärfe brillant gezeichnet ist u. a. die Gruppe der Generäle – der „rassige und glatte, biegsame und schmiegsame“ General Ratmirov, Ehegatte Irinas, der weiblichen Hauptfigur des Romans, hinter dessen Maske sich nichts als Menschenverachtung, Grausamkeit und Arroganz verbergen; der „reizbare General“, der den Zeitungen am liebsten nur den Abdruck der Fleisch- und Brottaxen und allenfalls noch Annoncen über den Verkauf von Pelzen und Stiefeln erlauben möchte; der „joviale General“, der den Tag der Verkündigung der Aufhebung der Leibeigenschaft am liebsten ungeschehen machen würde, oder der „korpulente General“, der der Meinung ist, Journalisten müssten mit dem Stock gezüchtigt werden.

Der Roman spielt im Jahr 1862, also nach der Aufhebung der Leibeigenschaft, in Baden-Baden, wo sich „die Russen“ auf Kur von ihren „Strapazen“ erholen, seien sie nun adlige Nichtstuer oder arbeitslose Revolutionäre.
Litvinov, mütterlicherseits von altem Adel stammend, war vor Jahren vor seiner unglücklichen Liebe zur wunderschönen, aber verwöhnten Irina – die dann den rassigen und glatten, biegsamen und schmiegsamen General Ratmirov geheiratet hat – nach Deutschland geflüchtet; dort studierte er Agronomie und Technologie, um nach der Bauernbefreiung sein ererbtes Gut wirtschaftlich führen zu können. Auf der Rückreise nach Russland macht er in Baden-Baden Station, wohin ihm seine liebe und herzensgute Jugendfreundin Tatjana, mit der er inzwischen verlobt ist, entgegenkommen will. Während er dort wartet, trifft er Irina.

»Sie haben mir noch immer nicht gesagt, dass Sie mir verzeihen«, unterbrach ihn Irina.
»Ich freue mich aufrichtig über Ihr Glück, Irina Pawlowna, und ich wünsche Ihnen von ganzem Herzen das Allerbeste auf Erden…«
»Und erinnern sich nicht mehr an das Böse?«
»Ich erinnere mich nur noch an die schönen Augenblicke von einst, die ich Ihnen zu verdanken habe.«
Irina streckte ihm beide Hände hin. Litwinow drückte sie kräftig und ließ sie nicht so bald wieder los. Etwas lange nicht mehr Empfundenes regte sich bei dieser sanften Berührung in seinem Herzen. Wieder sah ihm Irina fest in die Augen; doch diesmal lächelte sie. Und zum ersten Mal blickte auch er sie offen und aufmerksam an. Da erkannte er die Züge wieder, die ihm einst so teuer gewesen waren, und die tief liegenden Augen mit den ungewöhnlich langen Wimpern, das Muttermal auf der Wange, die besondere Anordnung des Haars über der Stirn, ihre Gewohnheit, irgendwie drollig die Lippen zu schürzen und leicht mit den Brauen zu zucken – alles, alles erkannte er wieder. Aber wie schön sie geworden war! Welche Anmut und welche Kraft strahlte der junge Frauenkörper aus! Und weder Rouge noch Schminke, weder Augenbrauenschwärze noch Puder, nichts Unechtes in dem frischen, reinen Gesicht! Ja, sie war wirklich eine Schönheit!
Litwinow war nachdenklich geworden. Er betrachtete sie noch immer, seine Gedanken aber waren schon weit fort. Irina bemerkte das
.

Scheinbar geheilt von der einst glühenden Liebe kann Litvinov sich zwanglos mit Irina über alles unterhalten. Sie aber liebt ihn noch und setzt – nachdem sie von seiner Verlobung erfahren hat – all ihre Reize und Verführungskünste ein, um ihn seiner Verlobten abspenstig zu machen und wieder in ihren Bann zu ziehen. Und tatsächlich löst Litvinov seine Verlobung mit Tatjana. Irina aber verachtet zwar im Grunde das mondäne Leben, ist jedoch schon so weit von ihm korrumpiert, dass sie es nicht schafft, mit Litvinov zu flüchten, um ein gemeinsames Leben zu beginnen; stattdessen soll er ihr geheimer Liebhaber werden. Dazu ist Litvinov nicht bereit, und obwohl Irina verzweifelt versucht, ihn zurückzuhalten, verlässt er sie zum zweiten Mal und kehrt endgültig auf sein Gut zurück.
In einer typisch Turgenjewschen, wunderschönen Szene sammelt Litvinov im Zug Richtung Heimat seine Gedanken:

Dann schaute er zum Fenster hinaus. Der Tag war grau und feucht; es regnete nicht, aber der Nebel hielt sich noch, und eine niedrige Wolkendecke überzog den ganzen Himmel. Der Wind blies entgegengesetzt zur Fahrtrichtung des Zuges; in endloser Kette jagten die weißlichen Dampfwolken, bald rein, bald mit dunkleren Rauchwolken vermischt, an dem Fenster vorüber, an dem Litwinow saß. Er begann den Dampf und den Rauch zu beobachten. Pausenlos emporwirbelnd, aufsteigend und sinkend, sich windend und an Gras und Strauch sich klammernd, gleichsam sich krümmend, sich dehnend und dahinschmelzend, jagten die Schwaden dicht an dicht vorüber; sie veränderten sich unaufhörlich und blieben sich doch immer gleich – ein monotones, hektisches, langweiliges Spiel! Manchmal wechselte der Wind seine Richtung, oder die Strecke machte einen Bogen; dann verschwand die ganze Masse plötzlich und wurde gleich darauf durch das gegenüberliegende Fenster sichtbar; nach einer Weile schwang sich der riesige Schweif wieder auf die andere Seite hinüber und versperrte Litwinow erneut die Sicht auf die weite Rheinebene. Litwinow schaute und schaute, und dabei kamen ihm merkwürdige Gedanken. Er saß allein im Abteil; niemand störte ihn. »Rauch, Rauch«, sprach er mehrmals vor sich hin; und plötzlich dünkte ihn alles Rauch, alles, das eigene Leben, das Leben Russlands – alles Menschliche, insbesondere aber alles Russische. Alles ist Rauch und Dampf, dachte er; alles scheint sich unaufhörlich zu verändern, überall neue Formen, eine Erscheinung jagt die andere, doch im Grunde genommen bleibt es immer ein und dasselbe. Alles hastet und eilt irgendwohin – und alles verschwindet spurlos, ohne je etwas zu erreichen. Dann weht ein anderer Wind, und alles wirft sich auf die gegenüberliegende Seite, und dort beginnt das unermüdliche, hektische und doch so unnütze Spiel von neuem. An vieles erinnerte er sich, das sich in den letzten Jahren mit Donner und Getöse vor seinen Augen abgespielt hatte. »Rauch«, flüsterte er, »nichts als Rauch.« Er dachte an die hitzigen Debatten, das Gerede und das Geschrei bei Gubarew und anderen, hoch wie niedrig Gestellten, Fortschrittlichen wie Rückständigen, Alten wie Jungen. »Rauch«, wiederholte er, »Rauch und Dampf.« (4)

In der Heimat bewirtschaftet Litvinov sein Gut zwar mit Mühe, doch erfolgreich. Wie zur Bestätigung, dass er den richtigen Weg gegangen ist, verzeiht ihm seine ehemalige Verlobte Tatjana und heiratet ihn. (Das ist übrigens das einzige Happy End in Turgenjews Romanen, wobei auch dieses nicht lupenrein ist, denn Litvinov hinterlässt Irina mit gebrochenem Herzen.)

Nachdem Turgenjew für seinen Roman Rauch von allen Seiten heftig Prügel bezogen hatte, mischte er sich eine Zeit lang nicht mehr mit einem Roman in das aktuelle Zeitgeschehen ein. Im Jahr 1868 aber begann der berühmte „Gang ins Volk“, bei dem die Narodniki (Volkstümler) versuchten, die revolutionären Ideen unter das Volk oder vielmehr unter die Bauern zu bringen. Er fand 1874 ein schmähliches Ende. Turgenjew, den es schon 1870 in den Fingern gejuckt hatte, zu dieser Bewegung, mit der er sympathisierte, Stellung zu nehmen, sodass er erste Figuren skizzierte, schrieb 1876 in drei Monaten seinen sechsten und letzten Roman zu diesem Thema. Er erschien 1877 unter dem Titel Neuland – also zehn Jahre nach seinem vorangegangenen.

Der Roman, der eigentlich der Höhepunkt seiner literarischen Laufbahn werden sollte und mit dem Turgenjew seine Leser nach dem Verriss von Rauch wieder versöhnen wollte, wurde von allen Kritikern einhellig als misslungen abgelehnt und selbst Turgenjew war letztlich nicht mit ihm zufrieden. In diesem Zusammenhang sagte er einmal: „Ich wurde niemals in den Zeitschriften so einmütig verurteilt.“ Er schuldete es dem Umstand, dass er diesen Roman, der aktuelle Probleme Russlands zum Thema hat, gewissermaßen als Außenstehender, nämlich im Ausland, geschrieben hatte. – Wohlgemerkt, hier geht es um zeitgenössische Relevanz und nicht um literarische Qualität!
Die Kritiker der späteren Zeit, die diese Relevanz eigentlich gar nicht so genau beurteilen können, schlossen sich dem Urteil an, und so kommt es, dass Neuland auch heute noch der am wenigsten gelesene Roman Turgenjews ist. In die Diskussion einzusteigen, zu entscheiden, ob die Kritik berechtigt ist, ist hier nicht der Ort; es gibt aber auch gegenteilige, zumindest aber differenziertere Meinungen.

In Neuland führt Turgenjew z. B. die später zum Standard der gesellschaftlichen Auseinandersetzung gewordenen Begriffe Proletariat, Bourgeoisie, Kapitalismus, Kommunismus, und Sozialismus in die Literatur ein und erahnt schon das Entstehen des bis dahin neben der Bauernschaft noch gar nicht existierenden sogenannten „vierten Standes“, der Arbeiterschaft. Im Dezember 1876, also noch vor der Veröffentlichung seines Romans, bemerkt er: „Es kann sein, dass ich die Figur Pawels, des Faktotums Solomins, des zukünftigen Volksrevolutionärs, hätte schärfer umreißen müssen. Das ist aber ein zu großer Typ; er wird mit der Zeit – natürlich nicht unter meiner Feder – zur Zentralfigur eines neuen Romans werden. Vorläufig habe ich kaum seine Konturen umrissen.“

Das Motto des Romans lautet: „Neuland soll man nicht mit dem hölzernen Hakenpflug bearbeiten, der nur an der Oberfläche dahingleitet, sondern mit dem tief schürfenden eisernen Pflug. – Aus den Aufzeichnungen eines Landwirts„. Den Sinn dieses Wahlspruchs erklärt Turgenjew in einem seiner Briefe: „Der Pflug in meinem Epigraf bedeutet nicht Revolution, sondern Aufklärung.“

Der Inhalt, natürlich eine Liebesgeschichte, ist schnell erzählt: Der Student Neždanov, unehelich geborener Sohn eines Fürsten und einer schönen Gouvernante, ist ein Narodniki (Volkstümler) und gehört einer illegalen Verschwörergruppe an. Wie so viele der Narodniki ist er ein idealistischer Schwärmer, ein „Romantiker des Realismus“. In den Sommerferien kommt er als Privatlehrer auf ein Landgut. Dort lernt er die Waise Marianna kennen und verliebt sich in sie – und sie in ihn. Marianna ist jedoch keine Romantikerin, sondern eine überzeugte, entschlossene Nihilistin, sprich: Revolutionärin. Gemeinsam flüchten sie von dem Gut und schlüpfen bei ihrem Freund Solomin unter, dem leitenden Techniker und Verwalter einer Fabrik („ein echter russischer Pragmatiker nach amerikanischer Manier„); er ist reiner Praktiker, der die Situation des Volkes als nur veränderbar ansieht, wenn man ohne große Reden praktisch hilft und so einen Weg aufzeigt. Im Gespräch mit Marianna bemerkt er in diesem Zusammenhang: „… Waschen Sie unterdessen noch ein kleines Kind oder zeigen ihm die Fibel oder geben einem Kranken seine Medizin, dann wäre das ein Anfang.“ Oder an anderer Stelle: „…einem Jungen, der die Krätze hat, die Haare zu kämmen, das ist ein Opfer, ein großes Opfer, zu dem nicht viele fähig sind.“
Die Bewegung der Narodniki unterstützt er, weil er das gleiche Ziel hat, nur ist er anderer Meinung über den Weg dorthin.
Neždanov „geht ins Volk“ und scheitert erwartungsgemäß. Verzweifelt über seine eigene Unfähigkeit und in der Überzeugung, er sei der Liebe Mariannas nicht wert, erschießt er sich kurz vor der geplanten heimlichen Hochzeit und bittet in seinem Abschiedsbrief Marianna und Solomin, die, wie er zu recht meint, schon lange einander zugetan sind, sich einander anzunehmen. Marianna und Solomin heiraten und Solomin gründet eine Fabrik auf Genossenschaftsbasis.

Wie schon oft erwähnt spielt die Liebe – und darüber hinaus das Verhältnis zwischen Mann und Frau ganz allgemein – in Turgenjews Werken, seien es Erzählungen oder Romane, eine ganz wesentliche Rolle. Und fast immer ist letztlich der Mann der Leidende, der oft bis zum bitteren Ende entsagt – durch Selbstmord, durch Herausforderung einer Situation, die ihn ums Leben bringt, oder ganz einfach durch qualvolles und stumpfsinniges Dahinsiechen bis zur Erlösung im Tode. Die meisten von Turgenjews männlichen Protagonisten wünschen sich das Ende sehnlichst herbei und empfinden sich als überflüssig und nutzlos.
All das kann man natürlich verkürzend mit Turgenjews Lebenssituation abtun – mit seiner unerfüllten Liebe zu Pauline Viardot. Wäre da nicht die höchste literarische Perfektion Turgenjews und die mitreißende Klarheit, mit der er seine Personen und die Zeit, in der er lebt, durchdringt, so wäre mancher schnell mit dem Urteil „Kitsch“ bei der Hand, wie es bei anderen Schriftstellern dieser Zeit, deren Werke heute, in unserer ach so aufgeklärten, modernen Zeit, zugegebenermaßen nicht mehr so recht lesbar sind (beispielsweise viele Romane von George Sand und von damals bekannten Schriftstellern, deren Namen wir heute nicht einmal mehr kennen), der Fall ist. Aber schon letztere Feststellung zeigt, dass Turgenjew nicht der einzige war, der damals diese Thematik ausführlich behandelte. Der Fokus auf das gescheiterte Liebesverhältnis war keine persönliche Vorliebe, sondern, in Westeuropa mehr als in Russland, eine allgemeine Zeiterscheinung.
Mit dieser Zeiterscheinung wird sich der abschließende Text der Turgenjew-Reihe beschäftigen.

(1) [zitiert in der Übersetzung von Johannes von Guenther; Peter Brang bemerkt in „I.S. Turgenjew, Sein Leben und sein Werk“ zur Übersetzung des Wortes »samojedy«, dass Turgenjew sicher nicht den Stamm der Samojeden gemeint hat, sondern umgangssprachlich »Selbstzerfleischer«.]

(2) [zitiert in der Übersetzung von Johannes von Guenther]

(3) [zitiert in der Übersetzung von Johannes von Guenther]

(4) [beide Passagen zitiert in der Übersetzung von Dieter Pommerenke]

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