Interessenlagen und Lösungsansätze im syrischen Konflikt

Interessenlagen und Lösungsansätze im syrischen Konflikt

[von Bernd Murawski] Der militärische Konflikt in und um Idlib droht zu eskalieren. Während Russland sichtlich bemüht ist, die Lage zu entschärfen, wird die Türkei von westlichen Politikern eher angestachelt. Die Suche nach Lösungen wird akuter denn je.  

Bekundungen uneingeschränkter Solidarität an die Türkei, wie sie durch die Nato und aus Washington geleistet werden, gab es aus EU-Kreisen bislang nur vereinzelt. An der Positionierung des Westens im Idlib-Konflikt besteht dennoch kein Zweifel. Nicht einmal die Öffnung der türkischen EU-Grenze hat ein Umschwenken bewirkt, wenn sie auch für Verstimmung sorgte. Mit der Fokussierung auf die Flüchtlingsströme haben westliche Politiker und Medien der türkischen Regierung eine Steilvorlage geboten, die dessen Sprecher Fahrettin Altun in seiner Erklärung dankbar aufgreift. Danach habe das Militär „in Übereinstimmung mit dem Völkerrecht an der Operation teilgenommen, die darauf abzielte, eine humanitäre Katastrophe in Idlib zu verhindern“.

In Wirklichkeit ist es die Türkei, die völkerrechtswidrig handelt. Dass ihr dieser Vorwurf durch westliche Regierungsstellen erspart bleibt, lässt sich dahingehend interpretieren, dass die durch türkisches Eingreifen provozierte militärische Eskalation durchaus erwünscht ist. Wenn sich zwei dem Westen unbequeme politische Akteure bekämpfen, in diesem Fall Recep Erdogan und Baschar al-Assad, werden beide geschwächt – so das Kalkül. Eine Vorlage bot der Erste Golfkrieg zwischen dem Irak und dem Iran in den Jahren 1980 bis 1982, der durch Waffenlieferungen und anstachelnde Rhetorik befeuert wurde. Zwei erklärte Gegner westlicher Dominanz zerfleischten sich gegenseitig, während Rüstungskonzerne prächtig verdienten.

Die halbherzigen Aktionen der Anti-IS-Koalition in Syrien dürften ähnlich einzustufen sein. Der IS sollte als akute Bedrohung für die betroffenen Staaten erhalten bleiben und die Präsenz westlichen Militärs rechtfertigen. Erst der Eintritt Russlands an der Seite der syrischen Regierung brachte die US-geführte Koalition unter Druck. Mithilfe der durch die YPG dominierten Bodentruppen erzielte sie rasche Erfolge. Allerdings verfestigte sich der Eindruck, dass das Hauptziel des Waffengangs nicht die Vernichtung des IS war, sondern die Übernahme des östlich vom Euphrat gelegenen Territoriums. Dies war freilich nicht ohne dessen Niederschlagung möglich.

Sollte das Idlib-Abenteuer für Erdogan zum Debakel werden, erhöhen sich die Chancen für seinen Sturz und damit für eine politische Neuorientierung der Türkei in Richtung Westen. Zugleich schwächen die Aktionen der türkischen Verbände das syrische Militär, was der HTS und anderen Terrorgruppen eine Atempause verschafft. Im Zuge der türkischen Invasion konnten die Islamisten zudem ihr Waffenarsenal aufstocken und eine Gegenoffensive starten. Diese Entwicklung dürfte in westlichen Hauptstädten mit Wohlwollen verfolgt werden. War der syrische Präsident dem Regime-Change mit russischer Hilfe entkommen, dann soll er jetzt unter massiven Druck geraten. Die aktuelle Verschärfung der Sanktionen passt sich in diese Strategie ein.

Deeskalationsbemühungen und Problemlagen

Ein militärischer Schlagabtausch zwischen der Türkei und Syrien schadet nicht nur beiden Ländern, sondern auch dem Ansehen und den Bestrebungen Russlands. Der russischen Führung dürfte die veränderte Lage durchaus bewusst sein, die durch die Präsenz türkischer Truppen in Idlib entstanden ist. Offenbar gibt es ein beidseitiges Bestreben, durch Absprachen und frühzeitige Information humane Verluste sowohl auf türkischer als auch auf russischer Seite zu vermeiden. Dass dies nicht in allen Fällen gelungen ist, mag der schwer zu bewerkstelligenden räumlichen Trennung von islamistischen Kämpfern und türkischen Armeeangehörigen geschuldet sein. Es kommen aber auch Unterbrechungen des Informationsflusses oder ein unkontrolliertes Vorgehen der syrischen Offensivkräfte in Frage.

Obwohl sich Russland und die Türkei nach jüngsten Äußerungen um einen Abbau der Spannungen bemühen, scheint eine Lösung für Idlib wie auch für den gesamten Konflikt in und um Syrien in weitere Ferne gerückt. Werden die Interessenlagen der involvierten Staaten in Betracht gezogen, dann befinden sich Kompromisse dennoch nicht außer Reichweite. Naturgemäß werden von allen Seiten Zugeständnisse verlangt. Bei genauer Analyse erscheint nicht einmal ein Ergebnis ausgeschlossen, bei dem jeder mehr gewinnt als verliert. Dass nur eine Gesamtlösung nachhaltigen Frieden schafft, dürfte auf der Hand liegen. Insbesondere wären die folgenden Probleme anzugehen:

  1. Ein zentrales Friedenshindernis stellen die nach manchen Schätzungen sogar 100000 islamistischen Kämpfer in Idlib dar. Dazu kommen ihre Familienangehörigen, für deren Berechnung Hilfsorganisationen den Faktor fünf zugrunde legen. Eine Rückführung in das syrische Gemeinwesen im Rahmen der von Russland initiierten Versöhnungsoperation dürfte nur bei einem Teil gelingen. Dieser Weg steht zudem nur syrischen Staatsangehörigen offen. Zahlreiche Dschihadisten sind aber Bürger anderer Staaten, die ihnen die Aufnahme verweigern. Eine physische Vernichtung ist ebenso auszuschließen wie eine Internierung in dieser Größenordnung.
  2. Etwa 3 ½ Millionen Flüchtlinge leben auf türkischem Gebiet nahe der syrischen Grenze. Für ihre Repatriierung muss eine Lösung gefunden werden, die jedoch einen gewaltigen finanziellen Einsatz erfordert. Die Einbeziehung westlicher Staaten in ein Wiederaufbauprojekt scheitert vornehmlich an der Person al-Assads.
  3. Die Türkei verlangt Sicherheiten, dass die als terroristisch deklarierte PKK keine Unterstützung durch kurdische Kräfte auf der syrischen Seite erhält. Die gegenwärtige Regelung dürfte der türkischen Führung genügen, jedoch kaum in syrischem Interesse sein. Die Wiederherstellung der nationalen Integrität und Souveränität erfordert nicht nur die Kontrolle über Afrin und andere von der Türkei „verwaltete“ Gebiete, sondern auch über die gesamte von der Anti-IS-Koaltion gehaltene Region östlich des Euphrats und am Dreiländereck mit Jordanien und dem Irak.

Dass ein Ende der bewaffneten Auseinandersetzungen auf syrischem Boden nur mit diplomatischen Mitteln erreicht werden kann, wurde wiederholt von allen Konfliktparteien betont. Nun äußerte der syrischen Präsident im Rausch des Erfolges der letzten Wochen, seine Armee würde der HTS und ihren Verbündeten eine endgültige Niederlage bereiten. Auch ohne die aktuelle Unterstützung aus Ankara wären hohe Opferzahlen auf beiden Seiten nicht zu vermeiden.

Eine Vertreibung der bewaffneten Islamisten scheitert überdies an der Grenzschließung durch die Türkei, die nicht einmal für Zivilisten eine Ausnahme macht. Die Befreiung größerer Gebiete erscheint vor dem Hintergrund vorangegangener Bedrohungen und aus verkehrstechnischer Sicht nachvollziehbar. Sie als Auftakt zur vollständigen Vertreibung islamistischer Terroristen zu begreifen, ist wohl eher ein Wunschdenken.

Ein Lösungsmodell

Wie könnte eine realistische Lösung aussehen?

  1. Die größten Opfer, die von der syrischen Seite verlangt würden, wären der Rücktritt al-Assads und die Gründung eines Terroristen-Refugiums in Idlib. An die Stelle al-Assads würde ein Interimspräsident treten. Für dieses Amt könnte eine angesehene syrische Persönlichkeit aus dem wissenschaftlichen, kulturellen oder sozialen Bereich bestimmt werden, die sich bislang politisch zurückgehalten hat. Der Westen und Russland würden sich auf einen Vorschlag einigen, der die Zustimmung des syrischen Parlaments erhalten würde. Nachdem einige personelle Umbesetzungen an der politischen Spitze erfolgt wären, würden die westlichen Staaten ihre Sanktionspolitik beenden.
  2. Den islamistischen Kämpfern und ihren Familien würde ein Territorium in Idlib nördlich der Autobahn M4 und westlich der M5 überlassen werden. Russland und Syrien müssten einer Flugverbotszone über dieser Region zustimmen. Die Türkei würde die Oberhoheit erhalten und wäre verpflichtet, grenzüberschreitende Attacken zu unterbinden. Sie müsste ferner humanitäre Korridore für jene Bürgern Idlibs schaffen, die nicht unter den Bedingungen eines islamischen Kalifats leben wollen. Den gegenwärtig im kurdischen Einzugsbereich internierten IS-Kämpfern und ihren Familienangehörigen könnte eine Übersiedlung angeboten werden, soweit ihnen keine kriminellen Delikte nachgewiesen wurden.
  3. Sowohl die Türkei als auch die westliche Allianz würden die von ihnen kontrollierten Gebiete nach einem festgelegten Zeitplan räumen. In der nördlichen Grenzregion bis zu einer Tiefe von 30 km würden regelmäßige russisch-türkische Patrouillen durchgeführt, um ein Eindringen von PKK-Kämpfern und ihren Unterstützern zu verhindern. Russisches Personal könnte nach einer angemessenen Zeit durch syrisches ersetzt werden.
  4. Es würde ein Rückführungs- und Ansiedlungsprogramm für die im Ausland lebenden (wie auch die inländischen) syrischen Flüchtlinge erstellt und umgesetzt werden, dessen Kernstück Projekte des Wiederaufbaus bilden. Die Finanzierung würde durch ein Staatenkonsortium erfolgen, an dem sowohl westliche Länder als auch Russland und China beteiligt sind. Notwendig wäre eine zweistellige Milliardensumme, die bei Bedarf aufgestockt würde.

Eine Kommission aus Vertretern westlicher Staaten, der Türkei, Russlands, Chinas und Syriens würde die Realisierung der geschlossenen Übereinkünfte überwachen. Dazu gehören die durch Russland, Syrien und die Türkei eingegangenen Verpflichtungen bezüglich Idlib und die Übergabe von Territorien durch die Türkei und die Anti-IS-Koalition an die syrische Zentralgewalt. Weitere Aufgaben wären Leitungs- und Kontrolltätigkeiten bei der Rückführung der Flüchtlinge und beim Wiederaufbau. Überdies könnte die Kommission Bemühungen um eine neue Verfassung unterstützen.

Gesichtswahrung und reale Vorteile für alle Beteiligten

Alle am Konflikt Beteiligten könnten sich als Sieger fühlen. Neben der Gesichtswahrung könnte jede Seite auf reale Vorteile verweisen. Der Westen würde sich zugute rechnen, al-Assads Rücktritt erzwungen zu haben. Ein aus dessen Sicht brutales Regime würde durch die Neubesetzung der politischen Schaltstellen entmachtet werden. Für die syrischen Flüchtlinge würde sich eine Perspektive in ihrer Heimat eröffnen, sodass dem jahrelangen EU-internen Zwist um ihre Verteilung auf die Mitgliedsstaaten die Grundlage entzogen wird. Zudem wären die EU-Regierungen nach einer Rückführung der Flüchtlinge aus der Türkei nicht mehr durch diese erpressbar.

Die türkische Seite könnte sich des Flüchtlingsproblems entledigen, das zu einer wachsenden innenpolitischen Belastung wird. Auch dürften die vereinbarten Kontrollgänge ausreichen, um eine Unterstützung der PKK durch kurdische Kräfte in Syrien zu vereiteln. Die Türkei müsste allerdings auf die erhoffte Einflussnahme auf syrische Entscheidungen verzichten, u.a. bei der Ansiedlung von Flüchtlingen. Faktisch gelang es Ankara jedoch nie, die Kontrolle über die islamistischen Kräfte zu erlangen und sie für eigene Zwecke zu instrumentalisieren. Nach dem Verschwinden des wohl gravierendsten Dissenses mit Russland würden sich neue Perspektiven der Kooperation eröffnen, die sowohl wirtschaftliche Vorteile bringen als auch den politischen Handlungsspielraum der Türkei erweitern dürften.

Russland wäre nach dem erfolgreichen militärischen Engagement wohl der Hauptprofiteur einer vertraglichen Regelung. Durch die Unterstützung al-Assads gelang es, den Absturz Syriens in einen „Failed State“ zu verhindern und sich einen wichtigen Partner im Nahen Osten zu erhalten. Mit der Gründung eines Kalifats in Idlib wäre eine Lösung gefunden, um vor einer Rückkehr von Kämpfern aus dem Nordkaukasus und dem innerasiatischen Raum verschont zu bleiben. Indem Russland sich zum wiederholten Mal als Krisenmanager profilieren könnte, würde ihm Respekt sowohl durch die arabische Welt als auch aus EU-Kreisen zuteil, wodurch US-amerikanische Isolierungsbestrebungen konterkariert würden.

Schon im Jahr 2012 hat Moskau Bereitschaft signalisiert, al-Assad zum Rücktritt zu bewegen, falls sich dadurch der Weg zu einer politischen Lösung öffnet. Die führenden Vertreter westlicher Staaten setzten jedoch auf den bedingungslosen Sieg. Da sich die beabsichtigte Installierung eines prowestlichen Regimes in Syrien bald als unrealistisch erwies, gingen die USA und ihre Verbündeten dazu über, den Konflikt am Kochen zu halten und propagandistisch auszuschlachten. Ein Umdenken fand erst statt, als die EU-Staaten den Flüchtlingsstrom zunehmend als Bedrohung empfanden und türkischer Erpressung ausgesetzt waren.

Wäre für die Syrer ein Rücktritt des von ihnen gewählten Präsidenten auch schwer verkraftbar, so würden sie durch ein gewaltiges Wiederaufbau-Programm entschädigt werden. Al-Assad sowie seinen Unterstützern aus Russland und dem Iran dürfte für die Abwehr der islamistischen Bedrohung weiterhin ein hohes Maß an Dankbarkeit entgegengebracht werden. Gleichwohl ist anzunehmen, dass der dominante gesellschaftliche Einfluss der Baath-Partei erhalten bleibt und mit ihr die säkular ausgerichtete, sozialstaatlich orientierte und in Außenbeziehungen neutrale Politik fortgesetzt wird. Die Unterdrückung politischer Oppositioneller – die im Übrigen meist Islamisten traf und sich kaum von anderen arabischen Ländern unterscheidet – würde eingestellt werden, ebenso international geächtete Praktiken der Internierung und Verhörführung.

Der Verlust von einem Prozent des Territoriums in Idlib mag schmerzen, zumal das Land bereits die Golan-Höhen faktisch an Israel verlor. Wie die Geschichte jedoch zeigt, implizieren territoriale Einbußen in den meisten Fällen keine politische oder wirtschaftliche Schwächung eines Staates. Nur bei einigen wenigen der weit über hundert ungelösten Territorialkonflikte verursacht ein Gebietsverlust quälende Gefühle, die vielfach Revanchedenken nähren und die Beziehungen von Nachbarstaaten belasten. Eher stellt sich die Frage nach der Zukunft und den Überlebenschancen eines Idlib-Kalifats. Wegen der ideologischen Nähe dürften sich bald Partner aus dem Kreis der Despoten am arabischen Golf finden, die ihm wirtschaftlich unter die Arme greifen.

Erstveröffentlichung auf dem Heise-Portal „Telepolis“

 

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