Herausforderungen an die europäische Russlandpolitik nach der Bundestagswahl 2017

[von Prof. Alexander Rahr] Noch nie waren die Herausforderungen an die europäische Russlandpolitik so groß wie nach der Bundestagswahl 2017. Auf nach Russland? Oder Finger weg von Russland? Für Politologen Alexander Rahr gehört der russische Markt – nach China – zu den größten Wachstumsmärkten der Welt.

Die Ukraine-Krise, sie dauert inzwischen fast 5 Jahre, hat den Westen und Russland grundlegend entzweit. Anders als in den Massenmedien dargestellt, liegen die Ursachen für diese Auseinandersetzung im Scheidungsprozess um den Zerfall der Sowjetunion vor 26 Jahren.

Bedauerlicherweise ist die Ukraine-Krise ein sehr ernsthafter Konflikt. Ein Lösungsansatz ist nicht in Sicht. Als Erfolg gilt schon, dass ein größerer Militärkonflikt in der Ostukraine vermieden werden konnte. Die Sanktionen werden jedoch weiterbestehen, solange die Krim russisch bleibt. Ukrainisch wird sie nicht, also werden Russland und der Westen im gegenseitigen Konfliktmodus verharren.

Diejenigen Westeuropäer, die auf eine Lockerung der Sanktionen gehofft hatten, wurden durch neue, verschärfte US-Sanktionen – die, anders als die europäischen – mitten auf den russischen Rohstoffsektor zielten, enttäuscht. Oder sagen wir es so: eines Besseren belehrt.

Die amerikanischen Sanktionen sind deshalb so gravierend, weil sie unmittelbar auch westliche Unternehmen ins Visier nehmen, die mit Russland im Energiebereich Geschäfte tätigen. Die US-Sanktionen gefährden die europäische Energieversorgungssicherheit, denn der europäische Energiesektor ist seit Jahrzehnten auf das Engste mit dem russischen verknüpft.

Was sollte getan werden, um aus dem Konflikt mit Russland wieder auszuscheren? Diese Frage stellt sich bestimmt jeder. Natürlich finden sich im Westen genug Stimmen, die eine Antwort auf diese Frage parat haben: Russland muss seine geopolitischen Ambitionen zurückfahren und sich einer Partnerschaft mit dem Westen genauso öffnen, wie in den 1990er Jahren, nach dem Zerfall der Sowjetunion.

Tatsächlich ist das keine ernsthafte Antwort, die angehäuften Probleme vielfältig, gefährlich und zu einem Teil weniger von Russland, als vom Westen verschuldet.

Ich sehe vordergründig zwei Konfliktfelder in den Beziehungen Russland – Westen. Das erste Konfliktfeld betrifft die europäische Sicherheitsarchitektur. Russland möchte das künftige Europa mitgestalten, muss jedoch feststellen, dass das gegenwärtige Europa auf zwei bestimmten Säulen aufgebaut ist – NATO und EU.

Russland ist in keiner der beiden Organisationen vertreten. Was dringend benötigt wird ist eine ernsthafte Debatte darüber, wie die entstandene Schieflage in der europäischen Sicherheitsarchitektur korrigiert werden kann.

Das zweite Konfliktfeld ist der Wertestreit. Der Westen sieht sich als liberale Wertegemeinschaft. Russland ist, aufgrund seiner Ablehnung des liberalen Demokratiemodells, aus dieser Gemeinschaft ausgeschlossen. Das wäre nicht weiter schlimm. Europa kann aus verschiedenen Zivilisationsmodellen existieren.

Problematisch sind die Versuche des Westens, das liberale Wertesystem auf andere Länder auszudehnen, im Nahen Osten sogar über Kriege. Und heute bezichtigt der Westen Russland, seine „Werte“ mittels Cyberattacken in die westlichen Gesellschaften hineinzutragen.

Was dringend erforderlich wäre für Deeskalation ist ein Dialog über einen gemeinsamen europäischen Zukunftsraum von Lissabon bis Wladiwostok. Eine solche gemeinsame Perspektive führt zu mehr Vertrauensbildung, gegenseitiger Kompromissbereitschaft und letztendlich zu einem neuen gesamteuropäischen Einigungsgefühl.

Die deutsche Wirtschaft hat sich diesem Dialog als erste verschrieben. Nun muss die Politik folgen.

Die wahrscheinliche Zusammensetzung der künftigen Bundesregierung verspricht hinsichtlich eines Ausgleichs mit Russland leider nichts Gutes. Die SPD, die in der alten Tradition der Ostpolitik, auch in Krisenzeiten stets auf eine Aussöhnungspolitik mit Russland setzte, ist abgewählt worden.

Sollte das Außenministerium in der nächsten Regierung an die Partei der Grünen gehen, wird vermutlich weniger der realpolitische Ansatz in Bezug auf Russland gestärkt, als der wertepolitische. Russland, das ist zu hoffen, wird Gegenstand der Koalitionsabsprachen. Hier besteht die Möglichkeit, auch für die Wirtschaft, sich konstruktiv einzubringen.

Lassen Sie mich nun zum aktuellen Stand der russischen Wirtschaft Stellung beziehen.

Die bekannte Ratingagentur Fitch hat Russland von BBB- auf BBB+ heraufgestuft. Dieser Schritt erfolgte aufgrund eines zunehmenden russischen Wirtschaftswachstums, im letzten Quartal um 2.5%. Der Staat ist nur leicht verschuldet, die Währungsreserven – anders als in den westlichen Medien kolportiert – nicht wesentlich aufgebraucht; sie liegen bei 400 Milliarden US Dollar. Der Ölpreis hat sich bei 50 Dollar eingependelt, ein erneuter Preisabsturz wie 2015 ist nicht in Sicht. Die Kaufkraft der russischen Bevölkerung zieht wieder an, die Arbeitslosigkeit ist niedrig, wie vor der Finanzkrise, in den Städten erholt sich der in der Krise angeschlagene Mittelstand.

Der Sanktionsschock scheint überwunden, die Lokalisierung der Produktion – also die Ersetzung westlicher Importware durch Eigenproduktion – geht voran. Heute muss festgestellt werden, dass die verhängten Sanktionen eher westlichen Unternehmen schaden, als den russischen, die sich umgestellt haben.

Eine negative Folge der Sanktionen für westliche Unternehmen ist die Orientierung Russlands nach Asien, nach China und Indien. Es entsteht ein neuer eurasischer Markt – stärker von China als von Russland dominiert – den der Westen verschläft. Hätten die asiatischen Länder damals zusammen mit dem Westen Sanktionen gegen Russland verhängt, wäre die Lage für Moskau natürlich äußerst kritisch geworden. So aber hat Russland seine Wirtschaft diversifiziert.

Über die momentane Bankkrise in Russland wird viel gesprochen. Ich teile die Auffassung solcher Experten, die von einer wirkungsvollen Flurbereinigung des russischen Banksektors sprechen. Russland hatte einfach zu viele Kleinbanken, mit wenig Kapital, die sich nicht um die Kreditvergabe an Unternahmen und Privatkunden kümmerten, als vielmehr riskante Geschäftsmodelle entwickelten. Privatbanken waren nichts anderes als Instrumente in den Händen der Oligarchen. Der Weg zur Gesundung des Banksektors geht über die Sanierung systemrelevanter größerer Privatbanken, wie Otkrytije oder Binbank durch die Zentralbank. Eine Nationalisierung des Banksektors steht nicht zur Debatte. Ausländische Tochterbanken sind übrigens die Gewinner der Flurbereinigung.

Gibt es in Russland keine Wirtschaftsprobleme? Oh doch, und zwar gewaltige. Die Regierung schafft es nicht, den Monopolcharakter in den systemrelevanten Wirtschaftszweigen zu ändern und dem Land moderne Institutionen zu verschaffen. Der Staatshaushalt wird weiterhin nicht durch mehr Steuereinnahmen, sondern durch Erlöse aus dem Energieexport genährt. Nur war das immer so in der russischen Geschichte. Der Mittelstand ist zu unterentwickelt und anders als in den anderen BRICS Staaten ungeschützt. Hier fehlt es an allem: der notwendigen Kreditierung, an ausgebildeten Fachkräften, dem Abbau der Bürokratie.

Die Maximalwerte an Zustimmung für Putin und seine Politik sinken. Schuld daran ist die Korruption in der Herrschaftselite, die künftig zu immer größeren Protesten in der Bevölkerung führen kann, wenn man ihr nicht begegnet.

Mit Spannung wird das künftige Regierungsprogramm des Präsidenten erwartet. Putin will offensichtlich im März wiedergewählt werden. Bisher hat er das Land in einer Synthese von Staatskapitalismus und liberaler Marktwirtschaft regiert. In der Regierung, von Medwedew geleitet, sitzen eher Wirtschaftsliberale, während sich in den von der Präsidialadministration kontrollierten Staatsunternehmen vornehmlich sogenannte Silowiki – auf eine unbedingte Stärkung der Staatsmacht ausgerichtete Politiker befinden.

Putin hat den Wirtschaftsliberalen Ex-Finanzminister Kudrin mit der Ausarbeitung des künftigen Wirtschaftsprogramms beauftragt. Die Vorschläge zur Liberalisierung der Wirtschaft liegen auf dem Tisch. Doch die schwierige Weltlage und die drohende Isolierung Russlands durch den Westen zwingen Putin dazu, seine Schalthebel zur Wirtschaftsregulierung nicht aus der Hand zu geben.

Interessant und im Westen völlig unbeachtet, sind die Personalwechsel der letzten Wochen. In mehreren Regionen sind die altgedienten Gouverneure abgesetzt und durch 35-40jährige Politiker ersetzt worden. Auch im Staatsapparat und in der Regierung kündigt sich die radikale Verjüngung der Führungskader an. Begonnen hat der Prozess vor einem Jahr mit dem Wechsel an der Spitze der Kremladministration. Statt dem KGB-General und erfahrenen Putin-Weggefährten Iwanow wurde der 40jährige Wajno mit der eigentlichen Leitung des Staatswesens beauftragt.

Auf nach Russland? Oder Finger weg von Russland? Für mich gehört der russische Markt zu den größten Wachstumsmärkten, nach China. Die EU wird bald erkennen: an Russland führt kein Weg vorbei. Das Freihandelsabkommen zwischen EU und USA wird es auf lange Sicht nicht geben. Der US-Wirtschaftsegoismus wird bleiben. Die EU wird Ausschau nach verlässlicheren Partnern halten. Heute wirft sie ihren Blick nach China.

Die EU wird darüber nachdenken, sich mit der chinesischen Seidenstraßen-Strategie one-belt-one-road zu einem gemeinsamen Raum zu verknüpfen, vielleicht, eine Freihandelszone zu schaffen. Doch wie sollen EU und China ohne die Integrierung Russlands in dieses Megaprojekt zusammenkommen? Nein, die EU muss endlich über ihren Schatten springen und eine Partnerschaft mit der Eurasischen Wirtschaftsunion eingehen. Russland und die Eurasische Wirtschaftsunion planen selbst eine Freihandelszone mit China – um den eurasischen Markt zu vollenden. Ein Grand Design des 21 Jahrhunderts, an dem Europa eigentlich mitwirken muss.

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