„Es macht mir Angst“ – die Impfskepsis der RussenFoto: © Irina Shymchak

„Es macht mir Angst“ – die Impfskepsis der Russen

Fast 21.042 neue Covid-19-Fälle pro Tag, 669 Patienten starben (Stand: 30. Juni 2021). Vor dem Hintergrund solch erschreckender Zahlen ist in Russland eine Debatte darüber entbrannt, warum das Land, das als erstes in der Welt eine Impfung gegen Covid-19 registriert hat, weiterhin eine der niedrigsten Impfraten aufweist. Nur gut 17,3 Millionen Personen, also knapp 12 Prozent der russischen Bevölkerung, sind vollständig geimpft worden. (Zum Vergleich: In Deutschland sind mehr als 21 Millionen Menschen vollständig gegen das Coronavirus geimpft, also mehr als ein Viertel der Bevölkerung).

Politologen, Wissenschaftler, Ärzte und Politiker zerbrechen sich die Köpfe über dieses Phänomen. Kostenlose, überall zugängliche Impfungen und sogar die Möglichkeit, zwischen mehreren Medikamenten zu wählen, spiegeln sich in den Statistiken der Impfkampagne überhaupt nicht wider. Inzwischen musste der Kreml sein früheres Ziel, 60 Prozent der Russen bis zum Herbst zu impfen, offiziell aufgeben. Die Frist wird nach hinten verschoben, sagte Präsidentensprecher Dmitry Peskow.

Warum wollen die Russen keine Impfung? Das Meinungsforschungsinstitut Lewada-Zentrum führte seit 2020 fünf Umfragen zu dieser Frage durch, der letzte war Ende April 2021. „Zuerst haben die Leute geantwortet, dass sie sich nicht impfen lassen wollen, weil es eine neue Krankheit und ein neuer Impfstoff sind. Der Impfstoff wurde zu schnell in Russland entwickelt“, sucht Leiter von Lewada-Zentrum Denis Wolkow eine Erklärung. Der Impfstoff sei nicht genügend getestet worden, es könnte Nebenwirkungen geben, daher so viel Misstrauen. Zweiter Grund: „Etwa die Hälfte der Bürger traut den Coronavirus-Statistiken so oder so nicht – die eine Hälfte glaubt, dass die Regierung die Zahl der Fälle reduziert, die andere Hälfte, dass sie künstlich erhöht werden, um alle unter Kontrolle zu halten, Menschen Angst zu machen, sowie Masken und Handschuhe zu verkaufen“. Denis Wolkow nannte noch einen Grund: „Die Menschen sagen auch: Wir haben nicht das Gefühl, dass die Regierung etwas von uns will. Keiner überzeugt uns, sie selbst impfen sich nicht. Alles ist unklar – es gibt keine eindeutige Impfkampagne. Die Beamten haben es nicht eilig, vor den Kameras geimpft zu werden. Es gibt keine eindeutige Botschaft“.

Aufgrund von Bedrohungen, insbesondere durch den neuen Covid-19-Stamm beginnen die Regierung und die regionalen Behörden, strengere Maßnahmen zu ergreifen. Zum Beispiel müssen in vielen Regionen mehr als 60 Prozent der Beschäftigten in bestimmten Berufen geimpft werden, es werden verschiedene Arten von Einschränkungen eingeführt. Diese im Wesentlichen obligatorische Impfung weckt latente Kräfte in der russischen Gesellschaft. Der Widerwille, sich impfen zu lassen, mobilisierte und politisierte plötzlich jene Bevölkerungsgruppen, die noch vor kurzem unpolitisch wirkten. Einige Analysten glauben sogar, dass die Impfgegner im Vorfeld der im September stattfindenden russischen Parlamentswahlen zu einer politischen Kraft werden könnten. Je mehr also der Staat zum Impfen auffordert, desto mehr misstrauen sie ihm. „Es macht mir Angst, dass die Menschen zu sehr und zu aktiv zum Impfen aufgefordert werden. Ich habe keine Lust, dazu gezwungen zu werden“, gestehen viele Russen, mit denen ich gesprochen habe.

Vor kurzem brach ein echter Skandal um die Frage der Impfpflicht aus. Der Schauspieler Jegor Beroew verglich diejenigen, die sich nicht gegen das Coronavirus impfen lassen wollen und deswegen die Einschränkungen in Moskau hinnehmen müssen, mit den Juden in der Nazizeit. Er kam zu einer Preisverleihung mit einem gelben Davidstern auf der Brust. Die meisten verurteilten den Schauspieler für einen solch taktlosen Streich, aber seine Aktion zeigt, wie kontrovers das Thema Impfung in der russischen Gesellschaft diskutiert wird.

Misstrauen in das Gesundheitssystem als solches ist ein weiterer Grund für die skeptische Haltung der Russen gegenüber der Impfung. Die Sozialanthropologin Alexandra Archipowa spricht von der sogenannten „Individualisierung der Medizin“, das heißt die Russen sind eher bereit, „ihrem Arzt“ zu vertrauen. Denn in Russland gibt es immer noch kein allgemein gültiges Protokoll für Behandlung von verschiedenen Krankheiten. Außerdem haben die Ärzte selbst keine klaren Anweisungen, wer geimpft werden darf und wer nicht. Wenn also ein bestimmter Arzt gegen den Impfstoff ist, wird sein Patient sich natürlich nicht impfen lassen.

Und man kann das Problem noch breiter fassen. Wer ist prinzipiell für die Impfung verantwortlich? Die Menschen selbst oder doch der Staat. Die zwei ewigen russischen Fragen: „Wer ist schuld?“ und „Was ist zu tun?“, die den Titeln der beiden großen russischen Romane identisch sind, bleiben weiterhin unbeantwortet. Derweil wächst die Zahl der mit Covid-19 Infizierten weiter.

[Daria Boll-Palievskaya/russland.NEWS]

 

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