Eine Kolumne von Daria Boll-Palievskaya. Heute: Die Russen und ihre Liebe zur Kunst.

[Dr. Daria Boll-Palievska] Die spinnen, die Russen…

Sie essen Eis bei minus 30 Grad, trinken Wodka aus der Flasche und schlagen sich gegenseitig mit Birkenzweigen in der Sauna. Das weiß ja jedes Kind. Und sie lieben Kunst und Literatur, vor allem russische. Hier kennt ihre Liebe keine Grenzen. Um eine Kunstausstellung zu besuchen, sind sie bereit in klirrender Kälte bis zu fünf (!) Stunden lang Schlange zu stehen.

Dieses Phänomen konnte man im Januar 2016 vor der Filiale der Tretjakow-Galerie in Moskau beobachten, wo die Ausstellung des großen russischen Malers Walentin Serow (1865-1911) lief.

Mehr als 450.000 Menschen haben die Werkschau besucht. «Das ist eine Rekordzahl in der Geschichte der Tretjakow-Galerie und der Ausstellungen der Russischen Kunst in den letzten 50 Jahren überhaupt“, sagte die Museumsdirektorin Zelfira Tregulowa.

„Mit den Türangeln rausgerissen“

Kurz vor der Schließung der Werkschau ist es zu einem Eklat gekommen. Der Drang, endlich die schönen Gemälde bewundern zu können, muss so unerträglich gewesen sein, dass die Kunstliebhaber das Museum stürmten und die Türen eindrückten. „Einfach mit den Türangeln rausgerissen“, wunderte sich ein Museumsmitarbeiter. Zum Glück gab es keine Verletzten. Danach hat man ein Polizeiaufgebot und einen Notarzt zu der Galerie abkommandiert, der Zivilschutz mit Feldküchen rückte an, und der Verkauf heißer Getränke wurde organisiert.

Polizei und Krankenwagen vor einem Museum – das fand Kulturminister Wladimir Medinskij gar nicht schlimm. Ganz im Gegenteil, er war stolz auf seine Landsleute. „Wir sind wahrscheinlich das einzige Land in der Welt, wo so etwas möglich ist“, meinte er – die Menschen frieren, um sich Bilder anzuschauen.

Der Sowjetbürger war das lange Schlangestehen durchaus gewohnt. Sein Leben lang musste er irgendwo anstehen, ob für Orangen, Fleisch oder Toilettenpapier. Sogar vor dem Leninmausoleum gab es jeden Tag Schlangen – eine unversiegbare Quelle für Witze. Eine legendäre Schlange bildete sich auch vor dem ersten Moskauer McDonalds-Restaurant. Die neugierigen Sowjetbürger waren bereit, fünf Stunden zu warten, um ihren ersten Big Mac zu probieren. Die Schlange am Eröffnungstag ging in das Guiness Buch der Rekorde als die längste vor einem Restaurant ein.

Dieser Volkssport gehört inzwischen (hoffentlich für immer) der Geschichte an. Nicht mal das Leninmausoleum ist es wert, sich die Beine in den Bauch zu stehen. Vielleicht haben die Russen es einfach verlernt? Zelfira Tregulowa erklärt den Vorfall mit der Nervosität der Besucher, die befürchteten, die Ausstellung zu verpassen. Ein Theaterregisseur meinte, es sei eben typisch russisch, alles in der letzten Sekunde erledigen zu wollen, deswegen bildeten sich kurz vor Toresschluss besonders lange Schlangen.

Bis Ende Januar verlängert

Und tatsächlich, kaum hatte die Museumsleitung verkündet, dass die Ausstellung bis 31. Januar verlängert wird, sahen die Schlangen nicht mehr so beängstigend aus. Jetzt brauchte man nicht mal 15 Minuten, um in die Galerie zu kommen. Allerdings ist zu erwarten, dass die Szenen sich am letzten Januarwochenende wiederholen.

Kein Schneesturm, keine minus 20 Grad konnten die Moskauer davon abhalten, die Werke von Walentin Serow zu sehen. Dabei sind die wichtigsten Bilder des Malers das ganze Jahr über in verschiedenen Galerien zu bewundern. Sein berühmtestes Bild „Das Mädchen mit den Pfirsichen“ hängt sogar in der Tretjakow-Galerie.

Das Gedränge vor der Ausstellung wurde von den russischen Intellektuellen heiß diskutiert. Wie passt das zusammen: tumultartige Szenen, Aggression, Vandalismus und der Wunsch, sich über Malerei zu erfreuen? Der bekannte Schriftsteller Jewgenij Grischkowez brachte es auf den Punkt: „In Russland, und das ist eben typisch russisch, gibt es vieles, was sogar für die russischen Kulturträger selbst unerklärlich und unbegreiflich bleibt.“

 

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