Die ungelöste Krim-Frage als Hemmschuh

Die ungelöste Krim-Frage als Hemmschuh

[von Bernd Murawski] Auf dem für die nächsten Wochen geplanten Treffen im Normandie-Format will der ukrainische Präsident auch die Krim-Frage erörtern. Scheitern die Verhandlungen, weil der Westen jahrelang falsche Hoffnungen nährte?

Das Tauwetter zwischen Russland und Westeuropa, das durch die unberechenbare Politik Donald Trumps begünstigt wurde, eröffnet Chancen für eine Lösung des Ostukraine-Konflikts. Einen wichtigen Meilenstein bildeten die ukrainischen Parlamentswahlen im Juli 2019, mit denen sich der neue Präsident des Landes Wolodymyr Selenskyj eine Mehrheit in der Werchowna Rada sichern konnte. Er erhielt dadurch die Möglichkeit, den Einfluss nationalistischer Kräfte sukzessive zurückzudrängen.

Obwohl seine Statements weiterhin durch antirussische Töne geprägt sind, sollte der Rhetorik nicht allzu große Bedeutung beigemessen werden. Die zur Schau gestellte Härte dient einerseits der Besänftigung politischer Gegner, die ihm Landesverrat vorwerfen, sie ist andererseits ein Mittel zum Pokern, um bei den bevorstehenden Verhandlungen einen akzeptablen Kompromiss zu erzielen.

Der wohl bedeutendste Schritt zur Reaktivierung des Normandie-Formats war die am 1.10.2019 von Vertretern Russlands, der Ukraine und der abtrünnigen Gebiete um Donezk und Lugansk erzielte Übereinkunft, die sich auf die „Steinmeier-Formel“ stützt. Sie enthält die folgenden zwei Punkte:

„1.  An dem Tag, an dem in den Gebieten um Donezk und Lugansk unter Aufsicht der OSZE Wahlen stattfinden, tritt nach Beendigung der Wahlen, um 20:00 Uhr, ein vorläufiger Sonderstatus für diese Gebiete in Kraft, der mit einem ukrainischen Gesetz geregelt wird.

2. Das ukrainische Gesetz über einen Sonderstatus der Gebiete Donezk und Lugansk tritt endgültig in Kraft, nachdem die OSZE die Wahl als demokratisch anerkannt hat.“

Nach dem bereits im September vorgenommenen Gefangenenaustausch wurde als weitere vertrauensbildende Maßnahme ein beidseitiger Truppenabzug von der Frontlinie beschlossen. Dass auf die Vereinbarung keine unmittelbaren Taten folgten, dürfte durch die Massenproteste in Kiew Anfang Oktober begründet gewesen sein. Von den nationalistisch inspirierten Teilnehmern wurde jede Art von Zugeständnissen vehement zurückgewiesen, insbesondere eine Autonomie für die Ostukraine.

Eine nicht zu unterschätzende Bedrohung stellen die von Oligarchen finanzierten rechtsextremen Milizen dar, die während der heißen Phase des Ostukraine-Konflikts die Hauptlast des bewaffneten Kampfes auf Kiewer Seite trugen. Wurden deren Mitglieder auch später großenteils in die ukrainische Armee integriert, so existieren weiterhin autonom agierende Verbände, in denen viele ausländische Söldner dienen. Der wohl Bedeutendste unter ihnen ist das Asow-Bataillon. Es wurde nach dreijähriger Pause auf Geheiß des früheren Präsidenten Petro Poroschenko im Februar 2019 an die Front zurückbeordert, also zwei Monate vor der Wahl Selenskyjs zu seinem Nachfolger.

Angesichts der vermehrten Anschläge mit rassistischem Hintergrund forderten 39 US-Abgeordnete, das Asow-Regiment auf die Liste der terroristischen Organisationen zu setzen. Der ukrainische Innenminister Arsen Awakow konterte die Initiative mit der Feststellung, dass diese Einheit sich unter Kontrolle des Generalstabs der Streitkräfte befinden würde. Er wirft den US-amerikanischen Kritikern vor, die Ukraine verleumden und militärisch schwächen zu wollen.

Trotz immer wieder aufbrechender Meinungsverschiedenheiten hat Selenskyj seinen Innenminister bislang nicht entlassen. Als Grund wird dessen Machtposition im politischen Establishment angeführt. Es kann zudem als taktischer Zug gedeutet werden, mit Awakow eine Gallionsfigur des nationalistischen Flügels in der Verantwortung halten zu wollen.

Dass sich der ukrainische Präsident gegen Widerstände im eigenen Land durchzusetzen vermag, belegt der vor ein paar Tagen begonnene Rückzug der Truppen samt Militärgerät einen Kilometer von der ostukrainischen Frontlinie. Damit dürfte die letzte Hürde für die Wiederaufnahme der Gespräche im Normandie-Format beseitigt worden sein.

Die Krimfrage als Stein des Anstoßes

Probleme könnte allerdings die Ankündigung Selenskyjs bereiten, die Rückgabe der Krim zum Verhandlungsgegenstand machen zu wollen. Da westliche Politiker und Medien über all die Jahre von einer „Annexion der Krim“ schwadronierten und Russland lautstark des Völkerrechtsbruchs bezichtigten, kommt jeder Rückzug einem Prestigeverlust gleich. Moskau hat wiederholt erklärt, über den Status der Krim nicht debattieren zu wollen. Damit die Konferenz nicht schon in der Anfangsphase platzt, müssen Deutschland und Frankreich als westliche Teilnehmer des Normandie-Formats vermeiden, sich von Selenskyj unter Zugzwang setzen zu lassen. Angesichts der jahrelang genährten falschen Hoffnungen dürfte dies nicht leicht fallen.

Das Dilemma ist durch den Westen selbst verschuldet. Wie der Strafrechtler Reinhard Merkel bereits im April 2014 feststellte, waren die Merkmale einer Annexion bei der Übernahme der Krim durch Russland keineswegs erfüllt. Eine solche gab es etwa bei der Eroberung der Golanhöhen durch Israel oder der West-Sahara durch Marokko. In beiden Fällen wurde nicht nur Militär eingesetzt, sondern auch der Wille der ansässigen Bevölkerung missachtet. Bei der Lösung der Krim aus dem staatlichen Verband der Ukraine handelte es sich aus Merkels Sicht vielmehr um eine Sezession. Obwohl sie gegen ukrainisches Recht verstieß, kann nicht von einem Bruch des Völkerrechts die Rede sein, weil dies keine klare Stellung bezieht.

Dagegen betrachtete er den Aufenthalt der „grünen Männchen“ außerhalb des russischen Flottenstützpunkts, den Wladimir Putin ein Jahr später eingestand, als nicht völkerrechtskonform. Er betonte aber, dass der Zweck ausschließlich darin bestand, die Durchführung des Referendums zu gewährleisten. Wie Umfragen westlicher Meinungsforschungsagenturen bestätigten, gibt es keinerlei Zweifel am Wunsch einer deutlichen Mehrheit der Krim-Bewohner, die Ukraine verlassen und der russischen Föderation beitreten zu wollen. Über die Zahlen wird mancherorts gestritten, jedoch haben die beim Urnengang anwesenden Wahlbeobachter aus mehreren Ländern keine signifikanten Verstöße festgestellt.

Reinhard Merkel warf Moskau ferner vor, die Krim zu schnell in den russischen Staatsverband aufgenommen zu haben. Dies geschah am 21.3.2014, sechs Tage nach dem Volksentscheid. Dieselbe Kritik richtete er an westliche Staaten, die im Jahr 2008 den Kosovo unmittelbar nach dessen Unabhängigkeitserklärung anerkannten. Da der Internationale Gerichtshof in der Sezession des Kosovo kein völkerrechtswidriges Verhalten erkennen konnte, fühlte sich die russische Regierung offenbar ermuntert, dies als Präzedenzfall zu betrachten und im Fall der Krim ähnlich zu handeln.

Wie Jugoslawien hat sich ebenso die Ukraine an das Den Haager Gericht gewandt. Sie klagte gegen Russland, dem sie Unterstützung der Kämpfer in der Ostukraine und eine Unterdrückung der Krimtataren vorwarf. Indessen wurde von Kiew nie verlangt, den Anschluss der Krim an die russische Föderation als völkerrechtswidrig einzustufen.

Hinkender Vergleich mit dem Kosovo

Vergleiche hinken allgemein, was auch für eine Gegenüberstellung der Sezessionen des Kosovo und der Krim gilt. Trotzdem werden sie angestellt, wobei jede Seite eigene Belege präsentiert.

Die westliche Position betont den vorausgegangenen militärischen Konflikt im Kosovo, wodurch eine Rückkehr zur Normalität erheblich erschwert worden wäre. Seitdem waren aber neun Jahre vergangen. Wegen der Anwesenheit der unter Nato-Führung stehenden KFOR-Verbände drohte keine Drangsalierung der Zivilbevölkerung, wie sie häufig beschworen wurde. Wo es dennoch Übergriffe gab, waren überwiegend Serben und andere Minderheiten die Opfer. Angesichts der recht schwachen Argumente dürfte schwer zu erklären sein, weshalb die 1999 in der UN-Resolution 1244 bestätigte Souveränität und territoriale Integrität Jugoslawiens missachtet wurde.

Die ukrainische Position zur Krim wird durch das Budapester Memorandum von 1994 gestützt, in dem sich die unterzeichnenden Staaten zur Unverletzlichkeit der Grenzen bekannten. Diesem Dokument wird ein geringeres Gewicht als einem UN-Beschluss beigemessen, zumal dessen Hauptzweck darin bestand, die Überführung des in früheren sowjetischen Teilrepubliken befindlichen Nuklearwaffenarsenals nach Russland zu regeln. Aus Sicht mancher Analysten ist das Vertragswerk dahingehend interpretierbar, dass die betroffenen Staaten zur Neutralität verpflichtet wurden. Doch auch wenn die Ukraine das Abkommen durch den Nato-Beitrittsantrag gebrochen hätte, wäre Moskau nicht automatisch von eigenen Zusagen entbunden.

Neben leichten argumentativen Vorteilen bei den vertraglichen Aspekten kann Russland mit dem Referendum punkten, das auf der Krim – im Gegensatz zum Kosovo – veranstaltet wurde. Wie der russische Präsident später eingestand, wurde die Stimmung der Bevölkerung im Vorfeld eruiert, ehe die Autonomieregierung der Krim die Einholung eines Votums beschloss. Dies schmälert dennoch nicht dessen moralisches Gewicht. Das Ergebnis dürfte entscheidend dazu beigetragen haben, dass eine Mobilisierung der auf der Krim befindlichen ukrainischen Militärverbände unterblieb.

In der zweimaligen Vorverlegung des Abstimmungstermins drückten sich Befürchtungen der russischen Seite aus, Kiew könnte das Plebiszit verhindern. Gegenüber den auf der Krim stationierten 50000 ukrainischen Soldaten waren die „grünen Männchen“ deutlich in der Unterzahl, sodass sie bei einem bewaffneten Zusammenstoß chancenlos gewesen wären. Offenbar bestand deren Aufgabe vornehmlich darin, Präsenz zu zeigen. Weitaus stärker spielten die Auflösungserscheinungen der ukrainischen Armee Russland in die Hände, ebenso die Wirren nach dem Machwechsel in Kiew, der gerade einmal 22 Tage zurücklag.

Es ließe sich spekulieren, ob die Durchführung des Referendums auch ohne den völkerrechtswidrigen Einsatz der „grünen Männchen“ gelungen wäre. Oder hätte sogar wie im Kosovo ein Beschluss des Autonomieparlaments gereicht? Bei solchen Überlegungen sollte bedacht werden, dass sich die im Kosovo stationierten KFOR-Truppen den Unabhängigkeitsambitionen der regionalen Führung gegenüber wohlwollend verhielten. Dagegen unterstanden die auf der Krim befindlichen Militäreinheiten der Kiewer Zentrale, die sich strikt gegen jede Sezession wandte.

Während der russische Plan erhebliche Risiken barg, musste der Westen bei der Zerstückelung Jugoslawiens allenfalls ein Bröckeln der gemeinsamen Front befürchten. Indessen wurde ein breiter Konsens westlicher Politiker, Medien und Experten erzielt, sogar unter Einschluss von Sozialdemokraten und Grünen. Als günstig erwies sich, dass Russland als potentieller Kontrahent wegen seiner internen Probleme ausgeschaltet war. Die westlichen Führungsmächte ergriffen ebenso in der Ukraine die Initiative, indem sie maßgeblich am Sturz der Regierung beteiligt waren. Derweil sah sich Moskau in die Defensive gedrängt. Dies mag der Grund sein, weshalb Historiker und Politologen die „Annexion“ der Krim als strategische Meisterleitung Putins werteten.

Mayotte und der Glaubwürdigkeitsverlust der EU

Im Jahr 1974 ereignete sich eine Kontroverse, die Parallelen zum Krim-Konflikt aufweist. Die dem ostafrikanischen Festland vorgelagerte Inselgruppe der Komoren wollte sich von der französischen Kolonialmacht lösen. Das Unabhängigkeitsreferendum brachte eine überwältigende Mehrheit, allerdings entschieden sich auf der Insel Mayotte 63 Prozent für einen Verbleib bei Frankreich. Die Bewohner hatten dank mehrerer Großplantagen, die sich im Besitz zugezogener Franzosen befanden, einen deutlich höheren Lebensstandard, den sie nicht mit der Bevölkerung anderer Inseln teilen wollten. Das Referendum wurde zudem von einer Kampagne der französisch-stämmigen Elite begleitet, die mit Versprechungen und Drohungen agierte.

Frankreich anerkannte den Mehrheitsentscheid Mayottes und verhinderte dessen Anschluss an den Inselstaat. Um den Widerstand der komorischen Führung zu brechen, stürzte Paris einen Monat nach der Unabhängigkeitserklärung den Präsidenten mithilfe einer Söldnertruppe. Da der installierte Nachfolger zu eigenmächtig regierte, wurde auch er drei Jahre später entfernt. Trotz mehrerer Putsche in den Folgejahren hat kein komorischer Staatslenker den Anspruch seines Landes auf Mayotte aufgegeben. Die Position des Inselstaats wurde von Beginn an durch die Organisation für afrikanische Einheit OAU unterstützt. Frankreich scherte sich nicht um die Sichtweise der Afrikaner, sondern gewährte Mayotte den Status eines Übersee-Departments.

Die Parallelen zur Krim sind unübersehbar. Doch auch bei diesem Vergleich erscheint die russische Position überzeugender. Zum einen fühlt sich die große Mehrheit der Krim-Bewohner Moskau weitaus stärker verbunden als Kiew. Zum anderen gehörte die Krim in der neueren Geschichte immer zu Russland und wurde zu sowjetischer Zeit allein aus verwaltungstechnischen Gründen der Ukraine zugeschlagen. Dagegen waren für das Abstimmungsergebnis auf Mayotte vornehmlich wirtschaftliche Gründe ausschlaggebend, während sich dessen Bewohner ethnisch, sprachlich und kulturell nicht von der Restbevölkerung der Komoren unterscheiden.

Am 1.Januar 2014 wurde Mayotte offiziell Teil der EU. Spätestens zu diesem Zeitpunkt wäre zu erwarten gewesen, dass sich manche EU-Politiker gegen die – wie die OAU es betrachten könnte – „Annexion“ der Insel durch Frankreich aussprechen. Es gibt jedoch keine derartigen Bezugnahmen, weder auf EU-Ebene noch seitens einzelner Mitgliedsstaaten. Stattdessen macht sich die EU-Kommission darüber Gedanken, wie Mayotte als „Gebiet in äußerster Randlage“ gefördert werden könnte.

Offenbar unterstützen die EU-Staaten die französische Sicht, wonach der Mehrheitswille der Inselbevölkerung zu respektieren sei. Damit torpedieren sie die Bemühungen der komorischen Führung nach Übernahme der Insel in ihren Staatsverband. Warum wird dann aber den Krimbewohnern derselbe Wunsch verwehrt und zugleich die Ukraine ermuntert, auf einer Rückgabe der Halbinsel zu beharren? Dafür kann es nur einen Grund geben: Der Betroffene heißt nicht Frankreich, sondern Russland. Dessen Brandmarkung beruht augenscheinlich nicht auf der Überzeugung, die Krim sei völkerrechtswidrig annektiert worden, sondern ist ausschließlich politisch motiviert. Das Lancieren eines falschen Vorwurfs wie diesem kratzt fraglos an der Glaubwürdigkeit der EU.

Trotz Kritik an der Sezession Mayottes hat sich die OAU weder zu einer Sanktionspolitik noch zu einer politischen und medialen Kampagne gegen die französischen Protektoren hinreißen lassen. Ein Grund dürfte ihre schwächere Machtposition sein, ein anderer die Einsicht, unveränderbare Realitäten akzeptieren zu müssen. Dass die EU sich nicht zu einem ähnlich sachbezogenen Standpunkt durchringen konnte, hat sie in eine schwierige Lage gebracht, der sie kaum ohne Gesichtsverlust entkommen kann.

Erstveröffentlichung auf dem Heise-Portal „Telepolis“

 

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