Die Sperrzone – Hölle und Paradies zugleich

[Von Michael Barth] – Was würde geschehen, wäre der Mensch von heute auf morgen von dieser Erde verschwunden? Wie sähe ein Leben nach der Spezies Mensch aus? Ein kleiner Vorgeschmack dessen lässt sich an der Ukrainisch-Weißrussischen Grenze beobachten – in der kleinen Stadt Prypjat, etwa vier Kilometer entfernt vom Unglücksreaktor Tschernobyl, in der einst 50.000 Menschen lebten.

Am 26. April 1986 explodierte der Kernreaktor in Tschernobyl. Zwar wurde bereits am Tag danach die Werkssiedlung Prypjat abgeriegelt, die offizielle Evakuierung wurde jedoch erst am 21. Mai angeordnet. Seitdem ist die Stadt sich selbst überlassen. Als die Menschen für immer gingen – man sagt, Prypjat sei noch mindestens 100 Jahre lang kontaminiert – ließen sie viele ihrer Habseligkeiten in der Eile zurück. Zurück blieben auch ein paar Haustiere in einer Geisterstadt.

Was geschieht nun mit einer verwaisten Stadt, die sich selbst überlassen ist? Was bleibt übrig von den Hinterlassenschaften des Menschen? Auch wenn es zynisch klingen mag, ein Paradies erwacht aus seinem Dornröschenschlaf. Die Tür wird weit geöffnet für eine Renaturalisierung, der Weg für eine Evolution wie nach der Eiszeit ist geebnet. Nirgendwo sonst auf dieser Welt dürfte es anschaulicher sein, den Kreislauf der Natur einzusehen, ohne dass der Mensch künstliche Grenzen setzt, dem natürlichen Gang einen Riegel vorschiebt und er sich nicht die Erde untertan macht.

Der Putz bröckelt, Gärten verwildern

Zuallererst werden – während in den Gebäuden bereits der Putz an den Wänden zu bröseln beginnt – die einst sorgsam gepflegten Gärten der Siedlungen am Stadtrand verwildern. Unkraut und Insekten werden nicht mehr in ihrer Ausbreitung gehemmt, niemand geht mehr gegen Mäuse und andere Nagetiere vor. Die mittlerweile halb verwilderten Haustiere, Katzen und Hunde, werden nicht mehr vom Menschen gefüttert, sondern müssen selbst zusehen, wie sie sich ernähren. Die Nahrungskette ist gesichert.

Währenddessen rücken die Wälder des angrenzenden Prypjat-Gebiets immer näher an die heutige Sperrzone heran. Auf einmal sehen sich die einstigen Haustiere mit Tieren konfrontiert, die sie noch nie zu Gesicht bekamen. Wildschweine, früher als Schaden für die Landwirtschaft bejagt, stöbern nun in aller Seelenruhe durch das Unterholz und durchwühlen den Boden auf der Suche nach Nahrung, die es für sie jetzt in Hülle und Fülle gibt.

Rothirsche, ja sogar die scheuen Elche, die jeglichen Kontakt mit dem Menschen mieden, weil sie als begehrte Jagdtrophäen herhalten mussten, wagen sich immer näher an den einstigen Stadtrand. Ihnen im Gefolge ihre natürlichen Feinde. Marder, Luchse und der Wolf wittern, dass ihnen vom Menschen keine Gefahr mehr droht. Selbst Braunbären ziehen marodierend durch die ehemalige Stadt. Hinzu gesellen sich noch, so schätzt man, rund 200 verschiedene Vogelarten sowie etwa 50, noch vom Menschen ausgewilderte, Przewalski-Pferde.

Idylle mit Tücken

Sergej Satschak, Biologe im Radioökologischen Labor in Slawutitsch, dokumentiert die Veränderungen. Zudem nimmt er mit seinem Geigerzähler Untersuchungen an Tieren vor. Auch wenn die Strahlung heute nur noch drei Prozent von 1986 beträgt, liegt sie immer noch um das Tausendfache über der natürlichen Umgebungsstrahlung. Skelettfunde mit zehnfach höherer Strahlung als normal seien durchgängig zu beobachten.

Zwar seien die Tiere hochgradig verstrahlt, jedoch gleiche dies die Natur mit verstärkten Geburtenraten wieder aus. Zudem sei ein heranwachsender Tumor geduldig. Das erklärt er anschaulich am Beispiel einer Maus, an der die höchstmögliche Kontaminierung nachgewiesen wurde, aber dennoch keine auffälligen äußerliche Symptome zeigte. Mäuse seien für ihn sowieso das perfekte Forschungsobjekt der Region um Tschernobyl, da sie unmittelbar am Boden beheimatet sind und sich sowohl von darin lebenden Insektenlarven, als auch von Pflanzenteilen ernähren.

Boris Sorotschinsky, Botaniker an der Akademie der Wissenschaften in Kiew, untersucht indes die Pflanzen in der Sperrzone, die vielen Tieren als Nahrungsgrundlage dienen und von ihren Jägern dadurch mitaufgenommen werden. Er erklärt, dass die radioaktiv kontaminierten Teilchen, welche beim Fallout nieder gingen, mittlerweile etwa 30 Zentimeter in den Boden eingedrungen seien und dadurch nicht nur die Wurzel der Pflanzen sondern auch das Laub belastet ist. Auch wenn der Radioökologe des Ecocenter Tschernobyl, Leonid Bogdan, beweist, dass sich Strontium nur in den Kernen der Obstgehölze ablagere und das Fruchtfleisch, auch von Beeren, absolut unbedenklich sei.

Hand aufs Herz, niemand hätte jemals geahnt, dass es überhaupt wieder Leben um Tschernobyl geben werde. Heute ist die Region eines der größten Territorien für Wildtiere in ganz Europa. Wenngleich auch mit Tücken. Aber eines ist gewiss – der Mensch hat verloren, die Natur jedoch, wenn auch zu einem hohen Preis, gewonnen. Und das in nur drei Jahrzehnten.

[Michael Barth – russland.RU]

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