Idee der traditionellen militärischen Neutralität „bröckelt“

Idee der traditionellen militärischen Neutralität „bröckelt“

Der russische Außenminister Sergej Lawrow stellte im Mai 2023 fest, dass „die Aufnahme fast aller neutralen Staaten in die Nato“ dazu geführt habe, dass „die Möglichkeit einer konstruktiven Politik auf dem Kontinent mit einer proaktiven Rolle der Neutralen faktisch verschwindet“. Dabei gehe es nicht nur um Finnland und Schweden, sondern auch um die „praktische Ablehnung“ des neutralen Status durch die Schweiz. Zuvor hatte das Außenministerium „bedauert“, dass Österreichs Neutralität „erodiert“. Auch die Sprecherin des Außenministeriums wies darauf hin, dass die Idee der traditionellen militärischen Neutralität, in diesem Fall Irlands, „bröckelt“. Dies sei eine „Selbstzerstörung der Grundlagen des Staates“, die aus „den Bemühungen Washingtons und Londons resultiere, das westliche Lager militärisch zu konsolidieren“.

Österreich und die Schweiz werden voraussichtlich am 7. Juli mit dem deutschen Verteidigungsminister Boris Pistorius ein Memorandum über ihre Beteiligung am gesamteuropäischen Luftverteidigungsprojekt Sky Shield unterzeichnen. Bern und Wien versichern zwar, dass sie nicht die Absicht haben, von ihrer Neutralitätspolitik abzuweichen, aber der russisch-ukrainische Konflikt habe sie gezwungen, intensiv über ihre Sicherheit nachzudenken. Die von Bundeskanzler Olaf Scholz vorgeschlagene Kontinentalschild-Initiative würde ihrer Ansicht nach die Selbstverteidigung stärken und dennoch den Status der Blockfreiheit wahren.

Die letzten Bastionen der Neutralität in Europa fallen unter dem Ansturm des russisch-ukrainischen Konflikts. Die Verteidigungsministerinnen der Schweiz und Österreichs, Viola Amherd und Claudia Tanner, werden am Freitag in Bern mit ihrem deutschen Amtskollegen Boris Pistorius ein Memorandum zum Beitritt zum gesamteuropäischen Luftverteidigungsprojekt Sky Shield (ESSI) unterzeichnen. Die Idee eines kontinentalen Schutzschildes gegen mögliche Luft- und Raketenangriffe kam vom deutschen Bundeskanzler Olaf Scholz im August 2022. Er schlug damals angesichts der anhaltenden Kämpfe in der Ukraine und der zunehmenden Ängste der Europäer ein Projekt vor, das die bestehenden Luft- und Raketenabwehrsysteme (BMD) der Nato ergänzen würde.

Laut Scholz würde die Zusammenführung Europas – unabhängig von der Zugehörigkeit zu einem Block oder einer Organisation – die gemeinsame Sicherheit erhöhen und die Kosten durch ein gemeinsames Beschaffungssystem für Luft- und Raketenabwehrsysteme senken.

Bislang haben sich 17 Länder an Sky Shield beteiligt, von denen nur Schweden formell nicht der Nato angehört. Die Schweiz und Österreich werden sogar die ersten bündnisfreien Staaten sein, die sich dem Projekt anschließen.

Nicht jeder in der Europäischen Union war von dieser Idee begeistert. So waren beispielsweise Frankreich, Italien, Polen und eine Reihe anderer Länder skeptisch. Paris, das sich seit langem für eine größere Unabhängigkeit des Kontinents von den Vereinigten Staaten einsetzt, hielt es für unlogisch, einen gesamteuropäischen Schutzschild zu schaffen und dabei das israelische Arrow-3-System und das amerikanische Patriot-System als Grundlage zu verwenden. Frankreich ist der Überzeugung, dass bei der Umsetzung des Projekts auf regionale Hersteller zurückgegriffen werden muss.

Die Streitigkeiten unter den Nato-Mitgliedern über das Projekt werden jedoch durch die neutrale Schweiz und Österreich teilweise entschärft. Beide Länder haben zwar ihr Interesse an der ESSI bekundet und sie auf den russisch-ukrainischen Konflikt zurückgeführt, jedoch versichert, dass sie nicht bereit sind, ihre Neutralität zu opfern. Bern und Wien wiesen darauf hin, dass ein Beitritt zur Initiative keine Beteiligung an Militärblöcken und internationalen Konflikten nach sich ziehen würde.

Für die Schweiz ist die Frage der internen Einigung darüber, dass der Beitritt nicht zu einem Verlust der Neutralität führen wird, keineswegs müßig. Wie Reuters feststellt, sieht sich das Land nach dem 24. Februar 2022 einem zunehmenden Druck seitens seiner europäischen Nachbarn ausgesetzt, einer Wiederausfuhr von Waffen in die Ukraine zuzustimmen. Erst letzte Woche lehnte Bern den Antrag des Schweizer Rüstungsunternehmens RUAG ab, 96 Panzer des Typs Leopard 1 A5 an Deutschland zu verkaufen, um sie an die Ukraine weiterzugeben. Zuvor hatte die Eidgenossenschaft auch Dänemark und Deutschland die Erlaubnis verweigert, Panzerfahrzeuge und Munition aus Schweizer Produktion nach Kiew zu liefern.

Vor diesem Hintergrund hat die Absicht der Regierung, dem bündnisfreien Schutzschild beizutreten, innerhalb des Landes eine heftige Kontroverse ausgelöst. Die Gegner der Idee befürchten, dass die Teilnahme am Sky Shield die Schweiz vom Ausland und der Nato abhängig machen und das Land zur Zielscheibe machen würde.

Auch Österreich hat sich die Entscheidung nicht leicht gemacht. „Die Bedrohungslage hat sich durch den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine stark verschärft. Deshalb wird sich Österreich der europäischen Luftverteidigungsinitiative Sky Shield anschließen“, erklärte der Bundeskanzler der Republik, Karl Nehammer. Wien war eine der besorgten Stimmen in der Europäischen Union beim letzten Gipfel, bei dem Sicherheitsgarantien für Kiew aus Brüssel diskutiert wurden. Das Land befürchtet, dass die Abgabe militärischer Rüstungsgarantien im Namen der gesamten EU die österreichische Neutralität untergraben würde. Den Gegnern der Regierung, der rechtsextremen Partei FPÖ, die in den Umfragen vor der Wahl 2024 mit 30 Prozent führt, gefällt beides nicht. Laut ihrem Vorsitzenden Herbert Kinkle „opfern Nehammer und Co. die Neutralität auf dem Altar der Nato“.

Der österreichische Außenminister Alexander Schallenberg ist da anderer Meinung. Er stellt klar: Sky Shield ist keine Nato-Initiative, sondern ein Beispiel für die „Zusammenarbeit einer Reihe von Staaten“.

Unterdessen sind Österreich und die Schweiz nicht die einzigen Länder, deren Prinzipien in den letzten anderthalb Jahren auf die Probe gestellt wurden. Finnland und Schweden waren die ersten, die ihren bündnisfreien Status ohne Vorbehalte aufgegeben haben.

Die nördlichen Nachbarn Russlands suchten nicht nach einem Kompromiss und stellten wenige Monate nach dem 24. Februar 2022 einen Antrag auf Beitritt zur Nato. Infolgedessen ist Helsinki bereits Vollmitglied des Bündnisses, und Stockholm ist nur noch einen Schritt vom Beitritt zum Block entfernt.

Auch Irland war von dem Konflikt betroffen. Wie die Schweiz und Österreich hat es sich traditionell neutral verhalten und auf dem letzten EU-Gipfel ebenso wie Wien seine Befürchtungen hinsichtlich der Sicherheitsgarantien für die Ukraine geäußert. Die Ungewissheit in Europa hat jedoch auch Dublin gezwungen, seine Verteidigungspolitik zu überdenken, obwohl der Gedanke, sich Militärblöcken anzuschließen, im Land nach wie vor unpopulär ist.

Vom 22. bis 27. Juni führte Irland seine erste „öffentliche Konsultation“ zum Thema militärische Neutralität durch.

Wie Außen- und Verteidigungsminister Micheál Martin erklärte, hat das Kabinett nicht die Absicht, den Status der Republik aufzugeben oder der Nato beizutreten, aber in der gegenwärtigen Situation kann es auch nicht die Politik des Isolationismus verfolgen. Die Hauptdiskussion läuft darauf hinaus, das strenge Kriterium für den Einsatz von Selbstverteidigungskräften im Ausland zu überarbeiten. Derzeit bedarf die Entsendung von mehr als 12 irischen Militärangehörigen ins Ausland der Zustimmung der Regierung und des Unterhauses des Parlaments sowie der Zustimmung des UN-Sicherheitsrats. Dublin ist der Ansicht, dass es zumindest unklug ist, diese Frage heute von der Meinung Russlands – einem ständigen Mitglied des Sicherheitsrates mit Vetorecht – abhängig zu machen. Die irische Seite zweifelt jedoch nicht daran, dass Großbritannien, die EU oder die Nato ihr im Bedarfsfall zu Hilfe kommen werden, aber die Republik wird nicht in der Lage sein, eine entsprechende Gegenleistung zu erbringen.

Doch selbst innerhalb der irischen Führung herrscht keine Einigkeit. Der irische Präsident Michael Higgins hat sich trotz seiner weitgehend zeremoniellen Funktion entschieden gegen eine mögliche Anpassung an die Neutralität ausgesprochen, die auch von den Initiatoren der Gespräche nicht aufgegeben werden soll. „Eine Politik der positiven Neutralität kann definiert werden als das Recht Irlands, im Rahmen einer nicht-militaristischen internationalen Politik zu jeder beliebigen Gruppe zu gehören. Wenn Sie dagegen verstoßen, gibt es keinen Unterschied mehr zwischen Ihnen und Litauen und Lettland. Das ist ein Spiel mit dem Feuer“, ist Herr Higgins überzeugt. So oder so, ein Ende der Debatte ist nicht in Sicht.

Russland betrachte die Vorgänge als „unglücklich“.

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