Diaspora: Neue Studie über Leben und Verhalten von Migranten aus Russland

Diaspora: Neue Studie über Leben und Verhalten von Migranten aus Russland

Die Boris-Nemzow-Stiftung veröffentlichte Mitte Juli einen Bericht mit vorläufigen Ergebnissen eines Forschungsprojekts, das wirtschaftliche und unternehmerische Anpassungsstrategien in neuen russischen Diasporagemeinden in Armenien, Israel, Kasachstan, der Türkei und Serbien untersucht. Die Studieuntersucht die Beziehungen zwischen den wirtschaftlichen Strategien der Migranten (einschließlich Unternehmertum), ihren sozialen Bindungen und institutionellen Faktoren in den Ländern, in denen sie jetzt leben.

Die wichtigsten Ergebnisse der Studie sind:

  • Unternehmerische Initiativen in der neuen Diaspora sind häufig nicht nur mit dem Wunsch nach Gewinn verbunden, sondern auch damit, Menschen mit gemeinsamen Werten zu finden und sich zu solidarisieren. Gleichzeitig sind unternehmerische Initiativen von Russen oft auf ähnliche Russen ausgerichtet, was zu geschlossenen Märkten führen kann.
  • Unter den gegenwärtigen Bedingungen funktioniert die nationale Identität nicht als verbindende Idee. Berufliche Identität und die Idee eines gemeinsamen Schicksals sind die häufigsten Berührungspunkte. Die Idee der „russischen N-Professionals im Exil“ erweist sich als die verbindendste. Auch ethnische und religiöse Identität ist ein Konvergenzpunkt.
  • Die Menschen, die sich zu neuen Diasporagemeinschaften zusammenschließen, vergleichen sich nicht mit den Einheimischen, sondern mit anderen Russen, die in Russland geblieben oder vor dem Krieg bzw. nicht wegen des Krieges ausgewandert sind. Die neuen Diasporagemeinschaften scheinen der Integration in die Gesellschaft des Aufnahmelandes gegenüber recht aufgeschlossen zu sein.
  • In der Stichprobe gibt es erhebliche Unterschiede in den wirtschaftlichen Strategien der Migranten zwischen den Ländern und eine Differenzierung innerhalb der einzelnen Länder. In Israel beispielsweise ziehen es Migranten vor, entweder für den lokalen Markt oder für internationale Unternehmen zu arbeiten. In Kasachstan ist die Arbeit für russische Arbeitgeber am weitesten verbreitet.
  • Viele Russen in der neuen Diaspora träumen davon, weiter nach Europa (insbesondere in die Mitgliedstaaten der Europäischen Union) und in die Vereinigten Staaten zu ziehen, weil sie glauben, dass diese Länder ihren Werten näher stehen. Gleichzeitig wird ein solcher Umzug als schwierig empfunden und erfordert eine berufliche Weiterentwicklung.

Das Projekt wurde 2023 vom Forschungsteam der Social Foresight Group im Auftrag der Boris-Nemzow-Stiftung für Freiheit als Teil der Plattform Ideen für Russland durchgeführt. Ideen für Russland ist eine Forschungsinitiative, die 2022 von der Fakultät für Sozialwissenschaften (Karlsuniversität), dem Institut für Internationale Beziehungen in Prag und der Boris Nemzow Stiftung für Freiheit gegründet wurde.

Die Social Foresight Group ist ein unabhängiges Forschungsteam von Sozialwissenschaftlern aus Russland, die 2022 das Land aufgrund von Meinungsverschiedenheiten mit dem politischen System verlassen haben. Der Bericht wurde von Maria Wolkowa, Xenia Pawlenko, Anna Kuleschowa, Alexei Woronkow unter der Gesamtredaktion von Dmitry Kokorin erstellt.

Das russische Medienprojekt Tscherta sprach mit einer der Autorinnen, Maria Wolkowa, für die es „keine einheitliche russische Diaspora gibt“. Auf die Frage, ob es eine Trennung zwischen denen gäbe, die ihre Emigration noch als vorübergehend betrachten, und denen, die beschlossen haben, dass es nun für immer ist, antwortete die Soziologin:

„Es gibt einen Aspekt in unserer Forschung, den ich den Planungshorizont nenne. Einige beschreiben die Zukunft so: „Ich weiß nicht, was in einer Woche sein wird“, „Vielleicht komme ich zurück, vielleicht nicht“, „Vielleicht gehe ich, vielleicht nicht“. Es gibt diejenigen, die für den Tag leben und das allgemeine Gefühl der Vergänglichkeit ihrer Emigration. Aber es gibt auch andere, die sagen: „Ich eröffne hier ein Café, und wenn es gut läuft, eröffne ich in einem Jahr ein weiteres in Europa, und in fünf Jahren kaufe ich einen Bauernhof und züchte Hühner. Die Menschen sprechen kaum über ihre Rückkehrabsichten. Aber es gibt einen Unterschied zwischen denen, die keine Pläne für ein Leben außerhalb Russlands haben, und denen, die klare Pläne haben, zu bleiben und sich im Ausland weiterzuentwickeln.“

Wolkowa spürt ein sich stärkendes Gefühl von einer Schicksalsgemeinschaft: „Ich habe gerade gehört, dass die Russen die neuen Juden sein werden, die über die ganze Welt verstreut sind, aber zusammenhalten, vereint durch eine gemeinsame Tragödie.“ Oder ein anderes charakteristisches Zitat: „Ich fühle mich sehr verbunden mit denen, die aus Russland gekommen sind, weil wir eine gemeinsame Trauer teilen, die uns vereint und einander nähergebracht hat.

Andrej Fetisow, ein russischer Produzent von Bildungsprojekten, klingt von den ersten Ergebnissen der Studie über die „Qualität“ der neuen russischen Diaspora begeistert. Die Studie bestätige die intuitive Annahme, dass „Qualitätsbürger“ ihre Heimat verlassen haben. Laut dem Bericht sei das „Niveau der unternehmerischen Aktivitäten in der neuen Diaspora sehr hoch“.

Im Prinzip seien heute alle Möglichkeiten gegeben, ein Diasporanetzwerk aufzubauen, das auf Vertrauen, gemeinsamer Herkunftsgeschichte und gemeinsamen Werten beruhe. Viele russischsprachige Schulen, auch solche, die vor 2022 gegründet wurden, sind von der Türkei bis nach Spanien verstreut so Fetisow.

In Zypern, Montenegro, Armenien und Kasachstan gebe es universitäre Bildungsplattformen auf Kosten von Akademikern, die Russland verlassen haben. Nach zwei Jahren Pandemie und erfolgreicher Beherrschung des Online-Lernens bauen Privatlehrern Bildungsnetzwerke auf.

„Diese Faktoren und die in der Studie erwähnte aktive Nutzung grenzüberschreitender Verbindungen deuten darauf hin, dass die russische Diaspora das Potenzial hat, sich zu einem globalen Akteur zu entwickeln“, heißt es in seinem Text

Fetisow unterscheidet Migranten in diejenigen, die persönliche Sicherheit und Freiheit, rechtliche Garantien und soziale Unterstützung erwarten – „eine Suche nach Komfort und Stabilität“ – von denen, die in einem fremden Land ein neues Unternehmen gründen oder ein altes fortführen, und eine Gemeinschaft aufbauen wollen. In einem Land mit ungewohnten Gesetzen und unbekannten Ordnungen, mit unverständlichen zwischenmenschlichen und sozialen Beziehungen. Ohne staatliche Unterstützung, aus eigener Kraft, mit eigenem oder geliehenem Geld, das sei eine ganz andere Sache – und ein sehr wichtiges Merkmal der neuen Diaspora.

Der Abschlussbericht des Projekts wird im Herbst 2023 veröffentlicht.

[hrsg/russland.NEWS]

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