Boris Kagarlitzki im Gespräch mit Kai Ehlers über die Vorgänge in der Ukraine

Die russische Regierung spricht von Kiewer Faschisten. Wie ist es mit der Bevölkerung? Ist sie in der Lage den sozialen Charakter der Bewegung zu erkennen?

Naja, tendenziell schon.  Schau mal auf das russische Facebook, Vkontakte.ru. Da werden in zunehmendem Maße soziale Forderungen diskutiert. Auch Ukrainer, die sich auf diesen Seiten äußern, schreiben über die sozialen Forderungen der Bewegung. Übrigens auch in Russland; da gibt es auch Änderungen. Wir sind nicht mehr marginalisiert. Man fragt nach mir in der „Komsomolskaja Prawda“, man fragt nach mir in einer Reihe von Meeting. Es gibt da eine  gewisse Bewegung in unseren Medien. Ironischerweise kommt man heute einfacher in die offiziellen Medien hinein als in die liberalen.

Du redest über die  Presse…

Ja, im TIV ist die Situation ganz anders. Da herrscht die vollkommene Kontrolle. Aber sonst ist Bewegung. Nimm z.B. lenta.ru; das ist die größte Internet-edition. Der Chef ist da zurzeit Alexej Gararislawski. Es ist nicht so, dass wir den ganz großen Einfluss haben. Man muss sich keine Illusionen machen. Wir sind in keiner Weise hegemonial, aber auch nicht mehr isoliert.

Ich verstehe das so, dass der Mainstream bei Euch die gegenwärtige Regierung der Ukraine als faschistisch hinstellt, aber es gibt eine ziemlich breite Öffentlichkeit, die versteht, dass man das so nicht sagen kann.

Ja, der Mainstream spricht so, aber zu gleicher Zeit gibt es ein großes Verständnis für die katastrophale soziale Lage.

In Kiew ist es aber wohl anders. Ich war neulich bei einem Treffen in Berlin. Da war ein Referent aus der Ukraine. Er berichtete, dass Linke und Demokraten in Kiew zur Zeit mit dem Rücken an der Wand stehen.

Ja, es ist so in Kiew. Die Linken dort sind in vielerlei Hinsicht in einer verzweifelten Situation. Sie werden als russische Spione angegriffen. Und dabei sind sie echte Ukrainische Patrioten. Sie wollen wirklich einen Ukrainischen Staat, sie wollen nicht dass die Ukraine durch Russland überrollt wird usw. So betonen sie gelegentlich ausdrücklich ihre Loyalität zum ukrainischen Staat, die ganz ehrenhaft sind, denn sie müssen das einfach unterstreichen.

Aber wenn du die Situation in Charkow betrachtest, so ist die eben doch sehr anders.  Die Linke ist dort sehr viel stärker und dort gibt es Raum für Aktivitäten. In Charkow ist die größte Koalition die „Volkseinheit“. Das sind die Leute der Gruppe „Borotbo“, die aus Kiew geflohen sind. Sie sind zurzeit die stärkte Kraft in der Bewegung. In Donezk haben sie Raum für Aktionen, aber in einer Situation des beinahe Bürgerkriegs ist es sehr schwer aktiv zu sein in Kiew und besonders im Westen.

Bei uns wird viel darüber geredet, dass Russland mit seiner Einverleibung der Krim das Völkerrecht verletzt habe.

Gut, gut, warum spricht man nicht über die Rechte der ukrainischen Menschen im Osten und im Süden, die für ihre Rechte kämpfen.

Sie tun es einfach nicht.

Das ist es. Da sind Millionen Menschen von diesen Fragen betroffen. Wenn den höchsten Punkt der Maidan-Entwicklung nimmst, dann waren das vielleicht 300.000 Menschen, wie ich schon sagte, die in diese Bewegung involviert waren. Die meisten von ihnen gehören zur Kiewer Mittelklasse.  Die Mehrheit der Kiewer Bevölkerung war dort nicht, aber mindestens ein drittel, wenn nicht zwei waren aus anderen Regionen gebracht worden, auch aus südlichen und östlichen übrigens. Aber eben nicht mehr als die genannten 300.000.

 Im Osten und im Süden hast du zehn tausende von Menschen in jeder Stadt. Das ist die gesamte Bevölkerung, die da aufsteht. Auch in Kiew stehen die Menschen inzwischen auf. Und das obwohl dort Druck auf sie ausgeübt wird. Du weißt, dort gab es Verhaftungen, Menschen verschwanden, wurden gefoltert usw. Aber jetzt gibt es sogar Proteste in Kiew und das ist sehr wichtig. Ich denke Kiew und die mittlere Ukraine werden die nächsten Schauplätze der Bewegung sein.

Ich verstehe Boris, aber das antwortet nicht wirklich auf meine Frage. Ich wollte wissen, was Du rüber zur Frage denkst, ob Russland mit der Einverleibung der Krim das Völkerrecht verletzt hat.

Klar hat die Krim ein Recht unabhängig zu sein. Da gibt es keinen Zweifel. Die Frage war ja einfach, ob die Ukraine als eigener Staat überleben kann und  wenn nicht, was es da für Lösungen gibt. Auf lange Sicht könnte es zwei Ukrainische Staaten geben, drei oder mehrere.

Einzelne Teile können sich Russland anschließen, andere an Polen. Es könnte drei Teile geben oder wie auch immer. Es gibt nur einen Weg, wie die Ukraine zusammenbleiben kann, das ist die Föderalisierung.

Der Süd-Osten der Ukraine, die zentrale Ukraine, western Ukraine, Transkarpatien und wie auch immer als eigenständige Teile, die zusammen ein Ganzes bilden. Dann kann es einen Zusammenschlüsse geben wie z.B. in der Schweiz. Das ist der einzige Weg wie dieser Staat beieinander bleiben kann. Wenn man dieses Land zentralisieren will, treibt man es auseinander. Es ist klar,  dass es genau das nicht überleben wird.

Ja, genau. Damit kommen wir auch zu den letzten Fragen: Wie beurteilst Du am Ende das Ergebnis des ganzen Prozesse, der sich da nach dem Maidan entwickelt hat?

Bis jetzt ist das eine Revolution, eine sich entwickelnde Revolution. Wenn sie erfolgreich verläuft, wird das zu einer Föderalisierung und Demokratisierung des Landes führen, die möglicherweise noch durch  Bewegungen in Russland verstärkt wird.

Wenn sie niedergeschlagen wird, wird das Land dramatisch nach rechts abdriften und Europa gleich mit. Das wird zu einer langen Periode der Destabilisierung und zu einem schweren Trauma führen. Möglicherweise wird es dann aufgehoben durch Bewegungen, die in Russland entstehen.

Wie meinst Du das?

Nun, in Russland wächst eine riesige ökonomische Krise heran. Im Grunde können uns nur noch westliche Sanktionen retten. Wenn wir keine Sanktionen bekommen, werden wir ähnlichen Verhältnissen versinken wie die Ukraine. Sehr, sehr schnell. Das heißt, die Regionen werden sich gegen Moskau erheben, früher oder später.   Das ist die allgemeine Stimmung im Lande.

Ein Moskauer Freund sagte vor ein paar Tagen zu mir: Wenn man Sanktionen gegen Russland verhängt, kann das nur gut sein. Es wird Russland helfen, seine eigene Industrie zu entwickeln.

Klar, das wird die Kapitalflucht stoppen.

Wenn wir unsere Presse lesen, dann lesen wir, dass Obama auf einen russischen Maidan hofft. Das Kalkül ist, dass die Sanktionen Russland in die Krise treiben könnten und dann Putin, sagen wir, aus der Regierung herausoperiert werden könnte.

Ja, sicher, wenn Sanktionen verhängt werden, kann es zu Auseinandersetzungen kommen, wer in der Regierung bleibt und welche Politik da fortgesetzt werden soll.  Aber es wird eher nicht darum gehen Putin zu ersetzen, sondern seine unfähige Umgebung.

Wir haben ja eine Regierung von lauter Idioten, ähnlich übrigens wie in der Ukraine. Putin wird bleiben. Er hat mehr eine Rolle wie die britische Queen. Er ist schon die nationale Führungsfigur, aber nicht mehr der Leiter der Politik. Mehr so eine Art Symbol des politischen Zusammenhaltes.

Aber da gibt es doch einen Unterschied, über den wir auch des Öfteren schon gesprochen haben: Russland ist doch unter Putin schon längst vom oligarchischen zu einem Korporativen System des Kapitals übergegangen.

Ja, das stimmt, deswegen werden wir auch nicht einen Maidan haben. Wir werden vielmehr mehrere Anti-Maidans bekommen.  Potentiell  können wir einen Anti-Maidan in jeder Region bekommen.

Wie schlägt sich die ganze Situation das in den internationalen Beziehungen nieder?

Ich denke, die russische Führung weiß nicht, was sie will. Sie sind von den Ereignissen vollkommen gefangen.  Und was die westlichen Führungen betrifft, so treten sie so hart gegen Russland auf, weil sie Angst haben, die soziale Revolution in der Ukraine als das wirkliche Problem zu benennen.  Das könnte ja auch ihr Problem sein.

Ich denke,  dass die Ukraine so etwas wie ein Gefangener der  Geopolitik ist?

Aber klar ist sie das. Aber ich wiederhole, zum ersten Mal seit langer Zeit sehen wir Menschen auf den Straßen und zum ersten Mal sehen wir Regionalfürsten, die sich gegen das Zentrum wenden. Keiner weiß so recht, wohin es geht. Es gibt niemand, der das ganze in der gänze Spiel überschaut. 

 

Demnächst erscheint:

Boris Kagarlitzki und Kai Ehlers –

25 Jahre Gespräche über Perestroika und ihre Folgen. Zwei Bände, Laika Verlag.

Das Buch gibt einen authentischen, chronologisch verfolgbaren Einblick in die politischen Bewegungen, Hoffnungen und Enttäuschungen, Einsichten und Irrtümer der russischen Linken während und nach Perestroika und im heutigen Russland.

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