Boris Kagarlitzki im Gespräch mit Kai Ehlers über die Vorgänge in der Ukraine

O.k., wenden wir uns der Krim zu:  Wie stehst du zu den russischen Interventionen in dieser ganzen Angelegenheit.

Ich denke, Moskau hat sich so etwas vorgestellt wie Zypern oder vielleicht auch Kosovo. Sie wollten so etwas wie ein Protektorat unter der Kontrolle von Moskau, das aber zu gleicher Zeit formal unabhängig sein sollte. Aber das hat den lokalen Politikern der Krim nicht ausgereicht. Sie nahmen die Dinge in ihre eigenen Hände und drückten so auf die Geschwindigkeit, so dass Moskau gar keine Zeit, keine Chance mehr hatte zu intervenieren.

Moskau musste einfach grundsätzlich akzeptieren, dass  die Krim sich Russland anschließen wollte. Man musste die Krim als ein neues Mitglied der Föderation anerkennen. Jetzt muss Russland eine Menge Geld dafür bezahlen;  jetzt nimmt die Ukraine riesige Summen von Russland.

Ging die Eile nicht von Moskau aus?

Nein, nein, im Gegenteil, Moskau wurde da hineingezogen.

Das war von außen aber nicht zu erkennen.

Alle Entscheidungen wurden vor Ort gefällt. Aber jetzt heißt es natürlich, dass alles von Moskau diktiert worden seien. Ganz gleich, was wirklich passiert, die Leute interpretieren die Dinge wie sie wollen. Ein paar Stunden, bevor die Krim erklärte, dass sie sich Russland anschließen wolle, betonten die Offiziellen in Moskau, dass die Krim ein Recht auf Unabhängigkeit habe, dass es darum gehe, die Krim diese Unabhängigkeit wahrnehmen.

Man konnte es nicht oft genug sagen. Alle offiziellen Verlautbarungen betonten, dass die Krim unabhängig  werden sollte, dass man die Unabhängigkeit unterstützen werde usw. Ein paar Stunden später war klar: keine Unabhängigkeit, einfach nur Anschluss an Russland. Aber da konnte schon niemand mehr sagen, das geht nicht. Das war einfach unmöglich in dieser Situation.

Wieso das? Warum hat Russland die Krim übernommen, wenn es das eigentlich nicht wollte, wie du sagst?   

Nun ja, sie hatten keine Wahl.  Die Krim ist ein guter Platz. Sie hat eine gute Tradition. Sie hat ein wunderbares Klima,  eine große Geschichte. Sie hat eine Wirtschaft, die wachsen kann, wenn du investierst. Aber der Punkt ist zweifellos: es ging zu schnell. Für die Elite war die Sache klar: Sie wollten das russische Geld. Sie wussten, dass der ukrainische Staat auseinanderbrechen würde. Sie  wussten,  dass da kein ukrainischer Staat sein würde: Die Ukrainische Währung bricht zusammen; die Ukrainische Wirtschaft fällt auseinander.

Zugleich sieht Russland einigermaßen gut aus. Russland hat auch seine Probleme, aber von außen sieht alles viel besser aus. Es gingen ja riesige Mengen an Geld nach Sotschi. Das zeigte, dass die russische Elite, dass Moskau über große Mengen von Geld verfügt. Man wollte,  dass dieses Geld in die Krim fließt. Das ist ja auch eine sehr einfache und durchaus vernünftige Kalkulation.

Wenn Putin erklärte, dass er die Bevölkerung der Krim schützen müsse, war das also nicht richtig?

Putin hatte den Vorgang einfach zu akzeptieren. Da waren ja auch die russischen Geschäftsleute, die interessiert waren, große Gelder auf der Krim  zu investieren, aber nicht bereit, dabei Gelder an die Ukraine zu verlieren. So haben es russische Bürokraten vor der Krise im TV erklärt. Wir haben bisher Millionen von Dollars für die Krim an die Ukrainische Regierung gezahlt. Davon ging der größte Teil bisher an die Ukrainische Regierung. In Zukunft kann das Geld direkt an die Krim gehen. Jetzt können sie Billionen einsetzen. Aber zur gleichen Zeit werden die Russen den Platz nicht kontrollieren können, denn die örtlichen Eliten kontrollieren die Firmen.

Also hätte Russland gar keinen Nutzen von dieser Übernahme?

Doch es gibt einen Nutzen, wenn man von dem moralischen Trauma spricht. Es ist das erste Mal seit 1991, dass Russland wieder bei irgendetwas Erfolg hat. Es handelt sich um eine Kompensation für dieses moralische Trauma. Viele Menschen sehen es so.

Es ist ein Signal.

Ja, das ist genau der Grund, warum Putin sich nicht weigern konnte, diesen Platz zu übernehmen und vor dem Hintergrund haben die führenden Kräfte auf der Krim die Sache vorangetrieben.

Alle diese Erklärungen über notwendige ilfe  Hilde usw. sind dann also einfach nur Erklärungen.  Hilfe sind also nur Verlautbarungen? Tatsächlich liegen die Dinge ganz anders?

Nun, paradoxerweise kamen die Dinge genau so, wie sie sie verlautbart wurden, nur doch eben nicht ganz so wie man es erwartet hatte…

Wie verhält sich die russische Bevölkerung zu all dem? So weit ich erkennen kann, sehe ich eine gewaltige nationale Welle in Russland aufschäumen…

… nicht so gewaltig, wie es von außen aussieht. Da gibt es keine große Verwirrung, da ist einfach Genugtuung. Die Öffentlichkeit ist sehr ruhig, kein Aufruhr, keine Hysterie. Hysterie gibt es im TV. Hysterie gibt es auch unter den liberalen Führern. Aber wenn du mit Leuten sprichst ist es ziemlich ruhig. Ich war an verschiedenen Orten in letzter Zeit, in Ufa, in Twer, an weiteren Orten. Ich sprach dort mit Studenten,  auch mit einigen Geschäftsleuten. Es ist überall gleich. Es besteht eine generelle Stimmung der ruhigen Befriedigung, nicht mehr als das.

Die Leute sagen: o.k., es ist das erste Mal seit zwanzig Jahren, dass irgendetwas gut für uns läuft.  Das erste Mal seit so vielen Jahren erhält der russische Staat etwas, das wir akzeptieren.

Aber klar, dieses Ergebnis kann sich natürlich auch gegen die Regierung wenden. Zu gleicher Zeit sind die Menschen bereit zu sagen, die Krim kostet uns zu viel. Klar, wir wollen die Krim, aber warum müssen wir dafür so viel bezahlen? Wieso kann man  keinen anderen Weg finden, als das Geld von uns zu nehmen?  Wieso kriegen wir nicht dieselbe Unterstützung, die sie bekommen? Wir wollen dasselbe haben wie sie. 

Also, die Leute von der Krim sind schuldig.  – Diese Entwicklung geht jetzt natürlich gegen die Regierung. Was in der östlichen und südlichen Ukraine passiert,  ist ja sehr wichtig, denn dort schaffen sie ein Modell des Widerstandes, das sehr leicht auch von russischen Regionen aufgegriffen werden kann. Das ist das Eine.

Genau!

Das Zweite, nicht ganz so wichtig: Wenn die russische Regierung jetzt nichts unternimmt, um die Bewegung im Süd-Osten zu unterstützen und wenn der Kiewer Staat die Bewegung unterdrückt, was er ja jetzt stark versucht, dann wird sich die öffentliche Stimmung heftig gegen die Regierung wenden. Dann wird sich so etwas wie eine nationale Bewegung gegen  die Regierung wenden.

Wenn dagegen die Donezker Republik gewinnt, dann wird das für viele russische Regionen sehr attraktiv, attraktiver als ihre eigene Situation in Fragen der Demokratie und Selbstbestimmung. Das heißt, auch hier sind sie dann in einer ernsthaften Schwierigkeit.

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