Ausländische Agenten: Reaktionen und Kommentare auf erweiterte FSB-Liste

Ausländische Agenten: Reaktionen und Kommentare auf erweiterte FSB-Liste

Am 1. Dezember 2022 ist FSB-Verordnung über die Genehmigung der Liste von Informationen über militärische und militärtechnische Aktivitäten Russlands, die der Sicherheit Russlands schaden können, wenn sie an ausländische Sonderdienste weitergegeben werden, in Kraft getreten.

Die vom FSB zusammengestellte Liste der Informationen, die ein besonderes Geheimnis darstellen, umfasst sechzig Punkte, darunter Informationen im Zusammenhang mit der Bewertung und Vorhersage der Entwicklung der militärisch-politischen, strategischen (operativen) Lage, der Planung und Durchführung der zivilen und territorialen Verteidigung, der Stationierung, dem Zweck, dem Betrieb und dem Schutz von Einrichtungen der Truppen, militärischen Formationen und Einrichtungen ­– inklusive der staatlichen Weltraumagentur Roskosmos.

Schon seit 2012 können in Russland gesellschaftliche Organisationen als „ausländische Agenten“ bezeichnet werden. Das gilt seit 2020 auch für Privatpersonen, die vom Staat als „vom Ausland unterstützt“ betrachtet werden. Bis zur Verschärfung 2022 betraf das vor allem die Finanzierung aus dem Ausland. Seit der Gesetzesänderung vom 1. Dezember 2022 genügt eine „Beeinflussung“ aus dem Ausland oder die Absicht im Sinne eines Ausländers zu handeln.

Nach Veröffentlichung der Liste von FSB-Direktor Bortnikow reagierte die Presse verhalten, wenn auch Rechtsanwalt Dmitri Schadrin von „Aufregung in den Medien“ sprach. In einem Kommentar zur neuen FSB-Anordnung wies er darauf hin, dass „der erste Absatz, der die Weitergabe von Einschätzungen und Prognosen der militärisch-politischen Lage an ausländische Quellen behandelt, bereits in der ersten Ausgabe der Verordnung vom September enthalten war. „Wie wir sehen, haben alle Massenmedien danach nicht aufgehört, Prognosen und Einschätzungen der militärisch-politischen Lage zu veröffentlichen, was nicht zu ihrer Schließung geführt“.

Schadrin hält die Liste für „so umfassend wie möglich“ und ihre Kriterien für „eher vage“. Damit verfügen die Strafverfolgungsbehörden über einen relativ großen Ermessensspielraum, weswegen die Praxis erst in naher Zukunft Gestalt annehmen wird. Vorhersagen seien schwierig, aber „hier besteht definitiv eine wachsende Gefahr für die Medien“.

Pawel Tschikow, Leiter der internationalen Menschenrechtsgruppe Agora, der die Situation genau beobachtet, sagt über die im September 2021 erlassene FSB-Verordnung Nr. 379, dass ihm kein einziger Fall bekannt ist, in dem das Gesetz angewendet wurde. Was die neue, erweiterte Version anbelangt, so sei laut Tschikow überhaupt nicht klar, wie sich die Praxis entwickeln wird. Man könne also davon auszugehen, dass die neue Formulierung der FSB-Liste vom 1. Dezember 2022 in der Praxis nicht zum Einsatz kommen wird.

Die kritische russische Journalistin Rimma Poljak hat für das russische Internetprojekt Republik in einem ausführlichen Hintergrundartikel die Folgen der Aktualisierung kommentiert und Stimmen gesammelt.

Tatsächlich ist diese FSB-Liste bereits die zweite, die erste wurde am 29. September 2021 im Zusammenhang mit den Ende 2020 von der Staatsduma und Präsident Putin verabschiedeten Gesetzesänderungen veröffentlicht. Dann führten die Behörden einen weiteren Artikel in das Gesetz „Über Maßnahmen zur Beeinflussung von Personen ein, die an Verletzungen der grundlegenden menschlichen Freiheiten, Rechte und Freiheiten der Bürger der Russischen Föderation beteiligt sind“ (als „Gesetz von Dima Jakowlew“ bekannt). Es legte die Voraussetzungen für die Anerkennung natürlicher Personen als ausländische Agenten fest.

Der Begriff „ausländische Quellen“ wird im neuen Gesetz Nr. 255-FZ über die Kontrolle der Tätigkeit von Personen unter ausländischem Einfluss genau definiert. Teil 1 von Artikel 3 dieses Gesetzes besagt, wer als „ausländische Quelle“ anerkannt werden kann: ausländische Staaten, öffentliche Behörden ausländischer Staaten, internationale und ausländische Organisationen; ausländische Staatsbürger, staatenlose Personen, ausländische Einrichtungen ohne Statuseiner juristischen Person, russische Staatsbürger und russische juristische Personen. Das heißt, obwohl die Liste der ausländischen Quellen formal endlich ist, ist sie in Wirklichkeit unendlich und jede Quelle kann auf Wunsch als ausländische Quelle angesehen werden.

Republik bat russischsprachige Journalisten aus der ganzen Welt um ihre Kommentare. Hier einige Auszüge aus ihren Antworten:

Fjodor Krascheninnikow (Politikwissenschaftler, Journalist, als ausländischer Agent anerkannt, lebt in Vilnius): Da ich nicht in Russland lebe und nicht in russischen Medien publiziere, wird sich für mich in der Praxis nichts ändern.

Ivan Preobraschensky (Politikwissenschaftler, Journalist, lebt in Prag): Für mich ändert sich dadurch nichts, aber ich falle auch nicht unter dieses Gesetz, denn ich bin kein ausländischer Agent und lebe nicht einmal in Russland. … Da mein Informationsverhalten nicht von rechtswidrigen Entscheidungen abhängt, verstoße ich sowieso schon längst gegen ihre Regel deren Regeln.

Anna Mongait (Moderatorin und Produzentin des Fernsehsenders TV Dozhd, lebt in Riga): Nein. Dieses Gesetz ändert nichts für uns. Dozhd verfügt seit Mitte des Sommers über eine lettische Sendelizenz. Wir sind ein europäisches Medienunternehmen. Mit anderen Worten: Dozhd ist kein ausländischer Agent mehr und unterliegen nicht den russischen Gesetzen. Heute, das kann ich Ihnen sagen, ist das ein großes Glück.

Ekaterina Barabasch (Filmkritikerin, Journalistin, lebt in Moskau) ist die einzige in Russland lebende Journalistin, die Republik substantielle Antworten gegeben hat. Alle anderen befragten Autoren, die nicht aus Russland ausgewandert sind, hätten geantwortet, dass sie sich dazu nicht äußern wollten oder konnten: Für Journalisten, die für unabhängige Publikationen arbeiten, hat sich am 24. Februar alles so sehr verändert, dass jeder neue Schritt der Behörden in Richtung Zensur wie eine wahnwitzige Eskalation des Unsinns erscheint. Der Raum für freies Denken hat sich derart verengt, dass man jeden Moment gegen einen Artikel verstoßen kann. Was mich persönlich betrifft – ich schreibe, was ich für richtig halte, solange ich veröffentlicht werde. Ansonsten ist es überhaupt nicht nachvollziehbar klar, warum man leben und arbeiten sollte.

Für russischsprachige Journalisten, insbesondere für solche, die über Politik und politiknahe Themen schreiben, ist der eigene Standort von grundlegender Bedeutung geworden, so Rimma Poljak. Für diejenigen, die Russland verlassen haben, sind das neue Gesetz und seine Bestimmungen, wie die FSB-Liste, weder schädlich noch lästig, es sei denn, sie planen eine Rückkehr. Für diejenigen, die noch in Russland leben, sieht es jedoch ganz anders aus, ihre Risiken nehmen stetig zu.

Auch der Chefredakteur von Republic Dmitri Kolesew, der nach der Bekanntgabe des SMO Russland verlassen hat, wurde gefragt, was er über die neue Liste der Themen denkt, über die nicht geschrieben oder gesprochen werden darf. Die Autoren von Republik leben sowohl in Russland als auch im Ausland. Wenn es für diejenigen, die Russland verlassen haben, auch nicht so wichtig ist, so ist es doch sehr wichtig für diejenigen, die geblieben sind:    

 Jetzt ist die aktualisierte „Liste der Informationen…“ des FSB noch umfangreicher, und ab dem 1. Dezember ist es möglich, auch ohne „ausländische Finanzierung“ als ausländischer Agent anerkannt zu werden.

Es stellt sich also heraus, dass jetzt jeder Journalist, der über militärische Themen schreibt, beschuldigt werden kann, unter ausländischen Einfluss zu geraten, ein ausländischer Agent zu sein und Informationen zu sammeln, die der Sicherheit Russlands schaden könnten. …

Gleichzeitig machen es zahlreiche Artikel des Strafgesetzbuches schon heute recht einfach, praktisch jeden zu belangen, der über die SMO schreibt, und sei es nur, dass er schriftlich   einer Pressemitteilung des Verteidigungsministeriums widerspricht. Aus praktischer Sicht ändert sich die Situation für Journalisten also nicht wesentlich. Schon heute ziehen es viele in Russland lebende Autoren vor, nicht unter ihrem Namen über aktuelle Ereignisse der SMO zu schreiben.    

Soweit mir bekannt ist, wurde jedoch bisher kein solcher Mechanismus für Repressionen gegen Journalisten oder Blogger angewendet. Aber die Tatsache, dass der Föderale Sicherheitsdienst diese Liste aktualisiert, zeigt uns, dass Lubjanka diese Möglichkeit nicht vergessen hat und sie sicher nutzen wird. In welchem Umfang, wie viel und gegen wen, können wir nur vermuten. Sowohl die Reste der liberalen Medien als auch patriotische Kriegsberichterstatter, die von der „Parteilinie“ abgewichen sind, könnten zur Zielscheibe werden.

Auch Rimma Poljak fragt sich, gegen wen richten sich die jüngsten Gesetzesinitiativen des Kremls, wen sollen sie zum Schweigen bringen? Schließlich haben viele liberale Journalisten Russland nach dem 24. Februar verlassen, und die, die geblieben sind, sind gezwungen, Themen und Worte sorgfältig zu wählen, und bei einer so strengen Selbstzensur ist keine externe Zensur mehr nötig.

Gleichzeitig sind fast alle liberalen Medien in Russland nur noch über VPN zugänglich und werden hauptsächlich von Personen gelesen, die als regierungskritisch bekannt sind. Mit anderen Worten, das Publikum dieser Medien wird nicht größer und sie haben fast keinen Einfluss auf die Stimmung in der russischen Gesellschaft.

Auf der Grundlage dieser Daten kann davon ausgegangen werden, dass die liberale Presse nicht das Hauptziel dieser Gesetzgebung ist, da sie bereits zuvor entwurzelt wurde. Und jetzt versuchen sie, alle verbliebenen aktiven, fürsorglichen Menschen zu zerstören, die auch nur den geringsten Anspruch auf irgendeinen Anschein von Zivilgesellschaft erheben können.

Seit Anfang Herbst kritisieren russisch-patriotische Telegram-Kanäle zunehmend das Vorgehen der russischen Militärführung. Sie sind über die Art und Weise der „teilweisen“ Mobilmachung empört. Zunächst gab es keine offizielle Reaktion auf diese nicht genehmigten Äußerungen. Aber am 14. Oktober erschienen in denselben Telegram-Kanälen Informationen über neun russische Militärkorrespondenten und Blogger, gegen die wegen „Diskreditierung“ der russischen Streitkräfte ermittelt wurde. Der russische Generalstabschef Waleri Gerassimov soll Roskomnadzor gebeten, die Arbeit folgender Autoren zu überprüfen: Igor Strelkow (Girkin), Semjon Pegow (WarGonzo-Kanal), Juri Podoljaka, Vladlen Tatarski, Sergei Mardan, Igor Dimitrijew, Kristina Potuptschik und die Betreiber der Kanäle GreyZone und Ribar.

Rimma Poljak zufolge schätzt der Kommentar von Alexandrina Elagina, Chefredakteurin von polit.ru (lebt in Moskau) „den Schaden, der dem russischsprachigen Journalismus durch diese Rechtsakte zugefügt wird“ sehr genau ein:

 Aufgrund des neuen FSB-Befehls können weder Publikationen noch Journalisten im Lande etwas über die Geschehnisse in der Ukraine schreiben – es sei denn, sie verweisen auf das Verteidigungsministerium, was aus fachlicher Sicht ziemlich sinnlos ist. Es wird sich herausstellen, dass nur russischsprachige Publikationen im Ausland über die Ereignisse schreiben können, d.h. mit minimalen persönlichen Risiken.

Diejenigen, die im Land sind, werden nicht mehr in der Lage sein, öffentlich etwas zu sagen, weil die Risiken zu hoch sind. Diejenigen, die nicht im Land sind, werden weiterhin das Verständnis dafür verlieren, wie man mit den Menschen hier spricht und was in der Realität passiert. Und nur wer die Möglichkeit hat zu sprechen, bestimmt die semantische Agenda.  

[hrsg/russland.NEWS]

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