Altes Neues vom Lexikus-Verlag – Russisches Leben – 13. Die Mongolen und ihre Herrschaft in Russland

Altes Neues vom Lexikus-Verlag – Russisches Leben – 13. Die Mongolen und ihre Herrschaft in Russland

Aus: Russisches Leben in geschichtlicher, kirchlicher, gesellschaftlicher und staatlicher Beziehung. Nebst Reisebildern aus Russland während des ersten Erscheinens der Cholera.

Autor: Simon, Johann Philipp (?-?),

Eines Nachmittags kam ich in Twer an. Nachdem ich ein wenig ausgeruht hatte, ging ich die Stadt, welche etwa 74 Meilen von St. Petersburg und 25 Meilen von Moskau entfernt liegt und historisch merkwürdig ist, in Augenschein zu nehmen. Twer und sein Gebiet erinnert ganz besonders an die tiefste Erniedrigung, die Russland je erlebt hat, nämlich an die Unterjochung der Russen durch die Mongolen, an das schauderhafte Wüten dieser Barbaren und an die grässlichen Todesurteile, welche ihre Chane in den Zelten auf den Steppen Asiens, wohin sie die russischen Fürsten vor Gericht forderten, über diese aussprachen und an ihnen vollstrecken ließen; zugleich aber auch an die unseligen Zwistigkeiten der russischen Teilfürsten, welche doch, nach Jaroslaws mündlicher Ermahnung und kraft seines Testamentes dem Großfürsten untergeordnet sein sollten, ihn statt dessen aber befehdeten und wenn er umgekommen war, sich teils wie Räuber, teils wie Übermütige und Ränkesüchtige um einen Thron mit einander stritten. Auf diese Weise dauerten die Bruderkriege selbst während der schmählichen Knechtschaft, wo doch Einigkeit mehr als je not getan hätte, ununterbrochen fort. Der schwächere der streitenden russischen Fürsten suchte den stärkeren beim Chan zu verleumden und brachte es vermittelt reicher Geschenke dahin, dass dieser ihm ein Heer von Barbaren gab, um seinen Feind zu schlagen, mithin auch das eigene Vaterland zu verwüsten. Wie lehrreich ist doch die russische Geschichte für jede Nation, der es an Einheit gebricht! Und wäre ein Volk noch so mächtig, ohne solide Einheit muss es untergehen!

Die Mongolen, ein den östlichen Türken stammverwandtes Volk, durchschwärmten nach Nomadenweise die Heidenländer der jetzigen chinesischen Tatarei. Dieser wilde, in einzelnen Horden lebende Stamm nährte sich von der Jagd, der Viehzucht und vom Raube, und stand unter der Botmäßigkeit der im nördlichen Sina herrschenden niudischen Tataren. Der Chan dieses Volkes, Jesukai Bajadur, eroberte im zwölften Jahrhundert unserer Zeitrechnung einige benachbarten Gebiete und machte sich durch seine Siege furchtbar. Bei seinem frühzeitigen Tode hinterließ einen dreizehnjährigen Sohn, Namens Dämudschin, und 40.000 ihm untertänige Familien oder Lehnsleute. So erzählt Karamsin, der berühmte russische Historiograph, dessen Geschichtswerk wir bei unsern kleinen historischen Betrachtungen zum Grunde legten. Was die Abstammung der Mongolen betrifft, so hat Karamsin, wie auch mancher andere Schriftsteller sich nicht deutlich genug ausgedrückt; denn die Mongolen sind nicht bloß kein den Tataren und Türken stammverwandtes Volk, sondern sie gehören auch nicht zu der kaukasischen Rasse, zu welcher diese letzteren gerechnet werden. Die Mongolen haben ein flaches Gesicht, kleine Augen und flach ausgefüllte, gegen die Nase zu ein wenig schief abwärts laufende Augenwinkel, hervorstehende Backenknochen und große abstehende Ohren, wie alle Völker, z. B. die Kalmüken, Chinesen, Lappen und Japaner, die man zu dieser Menschenrasse zählt.

Die Tataren sind ein Nebenstamm des großen Hauptstammes der Turks und werden bekanntlich zur kaukasischen Menschenrasse gerechnet. Sie kommen in den chinesischen Annalen des neunten Jahrhunderts unserer Zeitrechnung zuerst unter dem Namen Tata vor. Tata hieß ein Stamm der Mongolen, der in der Tatarei wohnte, welches Land seinen Namen von ihnen erhielt und mit der Zeit auch zum Völkernamen der eigentlichen Tataren dadurch wurde, weil diese letzteren die Mehrzahl der Bewohner dieses Landes ausmachten. Karpin, päpstlicher Gesandter an den Groß-Chan Oktai behauptet, der Name Tatar komme von einem Fluss her, der diesen Namen führt. Die Tataren hatten ihre ursprünglichen Wohnsitze im Osten am oberen Amur, welcher Fluss in der Nähe von Nartschinsk in Sibirien entspringt, wurden aber später, im dreizehnten Jahrhundert, in die westlicheren Gebirge verdrängt und von eben jenem Dämudschin unterjocht. Dieser war ein echter Mongole, wie er sich und sein Volk selbst nannte. Und seitdem kam der Name geschichtlich in Gebrauch. Da die meisten seiner Familien oder Lehnsleute aus eben jenen ihm unterworfenen Tataren bestanden, und da er sie auf allen seinen Eroberungszügen vorausschickte, wo sie die Schrecken seiner Annäherung verbreiteten, so wurden sie auch von andern Völkern nicht nur mit diesem Namen benannt, sondern auch, ihrer wahren Abstammung zuwider, mit ihren Unterjochern für gleichbedeutend gehalten. Dass die Mongolen und Türkenstämme schon im zehnten Jahrhundert unserer Zeitrechnung neben einander wohnten, wie oben gesagt, mag auch mit dazu beigetragen haben.

Wie ein schlichter Hirte wurde der Knabe Dämudschin erzogen; aber das ewige unerforschliche Geschick der Völker hatte beschlossen, dass er, ein zweiter Alexander, Reiche umstürzen und gründen sollte: es war der berühmte Dschingis-Chan, der fast ganz China eroberte und später das ganze zivilisierte Europa in Schrecken setzte. Als sich mehrere seinem Vater unterworfenen Tatarenhorden von seiner Herrschaft wieder losreißen wollten, zog der junge Dämudschin 30.000 Kriegsleute zusammen, rückte den Aufständischen entgegen, schlug sie und ließ die meisten ihrer Hauptanführer in siebzig Kesseln lebendig sieden. Ein Vornehmer aus seinem Heere wollte ihn einmal mit dem Schwerte durchbohren, es misslang und der Verwegene wurde niedergemacht. Dämudschin ließ seinen Schädel in Silber einfassen und bediente sich desselben als Trinkgeschirr. Dieser, zu einem Pokal gemachte Schädel sollte für die ganze Tatarei ein Denkmal von Dämudschins Zorne sein.

Bald darauf trat, der Sage nach, ein Seher oder Einsiedler unter das Heer des Mongolen-Chans, der im Lager war und erklärte: „Der große Gott im Himmel hat mir offenbart, dass er Dich, Dämudschin, zum Herrn über alle Länder auf Erden gemacht hat und dass Du dieser halben heißen sollt: Dschingis-Chan!“ (d. i., König aller Könige.) Darauf nahm der junge Held diesen Namen an, der auch in der Geschichte der übliche wurde. Er verweigerte dem Groß-Chan der Tataren den ferneren Tribut, schlug ihn in einer Schlacht und unterwarf sich noch mehrere Tatarenstämme. Mohamed II, Beherrscher der Türken, der einen großen Teil von Persien und der großen Bucharei inne hatte und sich einen zweiten Alexander nennen ließ, befahl die Gesandten Dschingis-Chans, die zu ihm gekommen waren, ihm die Freundschaft ihres Herrn anzubieten, zu ermorden.

Quelle: http://www.lexikus.de/bibliothek/Russisches-Leben–13-Die-Mongolen-und-ihre-Herrschaft-in-Russland

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