WM-Blog – Ruhepause, Spielpause, Fanpause in Tarussa

Es beschleicht mich heute ein seelisches Tief. Ich vermisse die Familie. Aber zum Glück habe ich ja die Jungs. Und Guntar natürlich.
Unser nach Russland ausgewanderter Freund hat uns gestern in Serpuchow mit seinem Militärfahrzeug, einem Jeep UAZ, sehr herzlich in Empfang genommen und nach Tarussa mitgenommen. Serpuchow (dort sind russische Atomraketen stationiert) ist eine Stadt rund 100 Kilometer südlich von Moskau.
Die Fahrt nach Tarussa (nochmals rund 35 Kilometer) wird uns noch lange in Erinnerung bleiben. Außer Luft zum Atmen war kein Platz für nix mehr in dem Auto (die Koffer hatten wir auf dem Schoß, die Arme irgendwo in einer freien Spalte, Rausgucken und selbst ein Foto machen war kaum möglich).
In Tarussa wohnt Guntar seit mehr als 20 Jahren. Er und seine Freunde betreiben eine Bio-Farm und er ist Chef-Herausgeber von russland.news. Er erzählt uns so viel Spannendes über Russland, dessen Geschichte, Kultur, seine Menschen. Und auch Guntar selbst hat ein bewegtes Leben. Alles hier darzustellen, würde leider den Rahmen sprengen und ein eigenes Buch ausfüllen. Nur so viel: Wir haben in der kurzen Zeit in Tarussa unglaublich viel gelernt!
Der Transfer von Kasan nach Tarussa dauerte insgesamt 17 Stunden – TransSib, Metro in Moskau, ausgiebiger Fußmarsch samt Gepäck, russische Eisenbahn (die ist breiter als die deutsche) und schließlich
Wir lassen es den ganzen Tag gemütlich angehen, gehen an die Oka (zweitgrößter Fluss der Welt mit drei Buchstaben – für alle Kreuzworträtselfans) in ein schnuckeliges Restaurant, essen Borsch (traditionelle russische Suppe mit Fleisch und Gemüse, sehr lecker!).
Viele reiche Russen aus Moskau machen seit ein paar Jahren Urlaub in Tarussa oder fahren übers Wochenende in ihre Ferienhäuschen (Datschen). Richtig gemocht werden die Moskauer Touristen hier nicht wirklich. Kaufen die doch oft das ganze Fleisch auf.
Bier geht zum Glück nicht aus. Guntar hat einen sensationellen Kühlschrank, der nie leer wird. Trotz aller Anstrengung. Man könnte meinen, er funktioniere halbautomatisch und es säße jemand drin, der stetig nachfüllt.
Wohnen tun wir im „Stiftungshaus“. Guntar und seine schweizer Freunde haben eine Stiftung gegründet, die z.B. Menschen mit Behinderung, in Arbeit bringt. Man betreibt Viehzucht, und landwirtschaftliche Produkte werden angebaut. Die werden dann nach Moskau in teure Restaurants verkauft.
Auch im Stiftungshaus werden wir freundlich empfangen. Und ein eigenes Zimmer nach zwei Wochen diverser Schlafplatzgesellen ist ebenfalls toll! Landschaftlich erinnert mich diese Gegend sogar an meinen Heimatort Marpingen.
Und es gibt ein tolles blaues Haus, das mich an Pippi Langstrumpfs Villa Kunterbunt erinnert:
Dass Schwule und Lesben in Russland verfolgt werden würden – so wie in der westlichen Presse gerne dargestellt -, ist vollkommener Quatsch. Es gibt auch in Russland zum Beispiel Kneipen für Homosexuelle. Oder die Internetseite www.gay.ru. Diese darf man erst ab 18 Jahren einsehen. Aber daraus gleich eine „Unterdrückung“ zu machen, ist sehr weit hergeholt.
Überhaupt: Russland wird vielfach von westlichen Medien in ein schlechtes Licht gerückt. Vieles, was wir vorher an Negativem über Russland gelesen haben, trifft schlicht nicht zu. Wir treffen so viele aufgeschlossene, freundliche Menschen, die fortschrittlich denken und sich daüber freuen, dass so viele Fans aus allen Ländern der Welt nach Russland kommen.
Was ist anders als in Deutschland? Zum Beispiel die Nylontüten, die es an den Einkaufskassen gibt. Und viele Plastikflaschen – die dann einfach mit dem übrigen Restmüll entsorgt werden.
Bei Guntar im Garten – Entspannungstag:
Auf dem Wochenmarkt:
Orthodoxe Kirche in Tarussa:
Guntar erwies sich eines Schwenkers absolut würdig! Zum Dank bekam er natürlich unser mitgebrachtes Roter-Platz-Exemplar geschenkt. Steht nun exponiert in seinem Garten. Macht sich gut, wie wir finden.
Außerdem bekam Guntar ein Team-Trikot von uns. Er gehört jetzt ja mit dazu!
Und dann kam der große Moment: Wir stießen mit unserem ersten Wodka gemeinsam an … es sollte – wie sollte es anders sein – traditionsbedingt nicht der letzte sein …
Ehemaliges Gefängnis in Tarussa. Heute Unterbringung der Feuerwehr. Hier waren insbesondere die Häftlinge untergebracht, die mit einem Bann belehrt worden waren: Sie durften nicht näher als 100 km an Moskau herankommen.
Typisches Fahrzeug:
Tomaten aus Aserbaidschan:
Norberto Grillmeister:
Bei Guntar ließen wir gestern auch den zweiten Tag gelassen angehen: Frühstück um die Mittagszeit, danach eine Marktbesichtigung, kleiner Spaziergang, Grillen (Norberto war nicht zu bremsen!), Fußball Argentinien-Frankreich.
Von Guntar erfahren wir weiter viel über Russland und wie es kam, dass er dorthin auswanderte. Die Lebenshaltungskosten sind gering (etwa 80 Euro an Nebenkosten im Monat für ein Haus). Vermietete Wohnungen gibt es so gut wie gar nicht. Nach der Wende Anfang der 90er Jahre wurden die Wohnungen an diejenigen verschenkt, die gerade darin wohnten. So wurde man zwar Eigentümer der Wohnung (und kann diese weiterverkaufen), nicht aber Eigentümer des gesamten Hauses oder des Grundstücks. Das verbleibt im Staatsbesitz. Das erklärt vielleicht auch, warum so viele Häuser äußerlich in einem verbesserungswürdigen Zustand sind.
Putin hat viel für dieses Land gemacht. Auf Putins Vorgänger Boris Jelzin dagegen sind die meisten Russen nicht so gut zu sprechen. Unter ihm gab es Sodom und Gomorrha, die Reichen wurden reicher, die Armen immer ärmer. In dieser Zeit machten einige Russen richtig Kasse, weil sie tun und lassen konnten, was sie wollten. Mit Putin wollten die Oligarchen dann einen weiteren „Strohmann“ installieren, aber Putin ließ das nicht mit sich machen und unterband dieses Treiben letzlich. Das stärkte den Anfangs unterschätzten neuen Präsidenten.
Putin hat den Russen auch ihr Selbstbewusstsein und den Stolz zurückgegeben. Warum ihn einige doch nicht wählen würden, liegt an der Sozialpolitik, die von westeuropäischen Standards weit entfernt ist.
Das Alter zwischen 20 und 50 ist in Russland das gefährlichste, schwierigste Alter. „Erlebst du die 50, hast du gute Chancen, richtig alt zu werden“, meint Guntar. Als Beispiel nennt Guntar seine unmittelbare Nachbarschaft, in der zwei Männer auf mysteriöse Art gestorbene seien: Der eine bekam von seiner aktuellen Ehefrau (nachdem er mit seiner Ex ein Trechtelmechtel anfing) einen Messerstich in den Oberschenkel und verblutete quasi noch während des Zechens, der andere ging besoffen in den Fluss.
Die reichsten Leute seien früher übrigens die Verkehrspolizisten gewesen, meint Gunnar. Und auch noch heute könne man Führerscheine kaufen. Auf Autos legen Russen mindestens ebenso viel Wert wie die Deutschen – im Allgemeinen zumindest, denn mit meinem Dacia würde ich auch in Russland eher belächelt werden.
Guntars Wunder-Kühlschrank, der nie leer wird, war gestern Morgen noch voller als wir  abends zuvor.
Doch ganz am Ende – also nach zwei vollen Tagen – schafften wir es doch noch, den Kühlschrank komplett zu plündern. Guntar ist ein liebenswerter, hervorragender Gastgeber. Vielen lieben Dank, lieber Guntar! Vielleicht kriegst du ja mal die Kurve, im Saarland vorbeizuschauen – wir haben ähnlich gute Kühlschränke …

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