WM-Blog – Auf gehts nach Saratow [Fotos, Video]

Norberto weckt mich unerbittlich um 5:00 Uhr. Kein Nachgeben Sicht. „Osvaldo, du musst aufstehen!“
Habe keine Augen, also so überhaupt keine.
Duschen, alles in den Koffer schmeißen (nachdem der Schwenker bei Guntar ist, ist ja richtig Platz), auf geht’s, Taxifahrer kommt. Wolgograd Zentrum (etwa 15 Minuten entfernt). Ab in Bus. Schlafen, schlafen, schlafen.
Immer der Wolga entlang!
Unterwegs in den Weiten Russlands
10 Uhr Ortszeit irgendwo zwischen Wolgograd und Saratow. Der kleine, vollbesetzte Bus fährt seit vier Stunden, was das Zeug hält. Ab und zu eine kurze Pause, Leute steigen aus, neue ein.
Mir ist heute nicht sonderlich gut. Zu sehr hat der letzte Abend mit Vladimir 1 (der Hotelbesitzer) und Vladimir 2 (Auspeitscher in der Sauna und Masseur der alten Schule) geschlaucht. Kann aber auch der Hummer gewesen sein, den es in der Sauna gab. Oder das Bier. Oder das Schaschlik oder der Whisky. Egal. Muss da durch.
Kurios, was die Russen bei einer Panne machen: Das Warndreieck wird einfach 5 – in Worten: fünf – Meter vors Auto gestellt. Und dann wird auf offener Strecke repariert.  Ich vermute einmal, die meisten Toten im Straßenverkehr gibt es in Russland bei aufgestellten Warndreiecken.
400 Kilometer sind es von Wolgograd nach Saratow, 7 Stunden sind angesetzt. Die meiste Zeit ist es völlig flach.
Wenn meine Frau jetzt dabei wäre, könnte sie mir alles genau erklären: Die Landschaft, die Bodenzusammensetzung, das Klima. So aber sehr ich nur Sträucher, Gräser und Asphalt. Ab und zu ein paar abgebrochene Birkenbäume. Und Norberto. Aber der hat auch keine Ahnung. Hoffentlich geht es ihm zumindest besser als mir.
Internet gibt es in der Weite auch nicht. Muss mit dem Abschicken der Mail wohl bis Saratow warten. Dort wartet übrigens bereits Olga auf uns, eine unverheiratet Russin, die Norberto kennt. Bin mal gespannt.
So ein „Geschoggel“! Anders kann man das Auf- und Ab-Gehupse im Bus nicht beschreiben.

In fast jeder größeren russischen Stadt ist ein ewiges Feuer als Mahnmal für den Zweiten Weltkrieg zu finden.

Hier in Engels (im Hintergrund die Wolga):

Spaziere während des Viertelfinalspiels Frankreich gegen Uruguay in Engels an der Wolga-Uferpromenade entlang. Es ist Freitagabend, kurz vor 19:00 Uhr, die Menschen schlendern entspannt. An einer Stelle in einem Park gibt es Tanzvorführungen und Live-Musik. Ein veraltetes Riesenrad dreht sich irgendwo am Horizont. Ein paar Schritte weiter bereitet sich eine Band auf ihren Auftritt vor. Nirgendwo ein Fernseher in der Nähe, kein Public Viewing, keinerlei Fußball-Stimmung. Mit meinem Eintracht-Trikot falle ich total aus der Reihe.
Jetzt noch kurz an die Wolga, Füße rein strecken, den wunderschönen Abend genießen. Noch zweimal schlafen, dann geht es wieder nach Hause. Wird auch Zeit. Die Energiereserven neigen sich dem Ende, wir laufen bereits auf Reservetank.
Heute ist es genau drei Wochen her, dass ich nach Russland gestartet bin. Mit großen Hoffnungen und Erwartungen an gute deutsche Fußballspiele. Diese herbe Enttäuschung wurde wett gemacht, mehr als wett gemacht sogar, durch die großartigen Erfahrungen, die ich hier mit Land und Leuten machen durfte. Danke Russland!
Morgen Früh um 6:00 Uhr geht es auf zur letzten Etappe: Samara. Diese Großstadt liegt 400 km von Engels entfernt. Mary werden wieder den Zug nehmen. Die 7-Stunden-Busfahrt war einfach zu holprig heute. Je näher wir Saratow kamen, desto größer wurden die Wellen im Asphalt. Die andauernde große Hitze hat die Straßen nach und nach deformiert.
Die beiden Städte Saratow und Engels verbindet eine beeindruckende Brücke über die Wolga. Dies ist die engste Stelle der Wolga, trotzdem noch 3 km.
Olga, Norbertos Bekannte, die mit acht Jahren nach Deutschland ausgewandert ist und in unserem Heimatort in aufgewachsen ist, ist seit zwei Jahren wieder zurück nach Russland gezogen. Sie erzählt uns, dass 100 km weiter südlich die Wolga an einer Stelle sage und schreibe 12 km breit sei.
Kein Wunder jedenfalls, dass dieser so majestätisch daherkommende Fluss so oft gesungen, bedichtet und gemalt wird.
Auf der ganzen Fahrt heute gab es kaum einen Hügel, alles unglaublich eben. Die bei uns im hohen Norden würden sagen: „Da kann man heute schon sehen, wer morgen zu Besuch kommt.“
Russische Eigenarten
Tätowierte gibt es in Russland mindestens genauso viele, eher noch mehr. Auffällig, dass besonders viele junge Frauen tätowiert sind.
Was in keinem Hotel in Russland fehlt: ein neues Paar Hausschuhe für jeden Gast. In Russland wird sehr viel Wert gelegt auf Sauberkeit.
Dachte ich bisher immer, es würde nur in den WM-Spielorten durchgehend in Geschäften, Restaurants und sonstigen öffentlich zugänglichen Einrichtungen und Plätzen geputzt werden, so wurde ich heute eines Besseren belehrt: Bei der Ankunft im Busbahnhof von Saratow (400 km entfernt vom nächsten WM-Spielort) fielen sofort die vielen Reinigungsarbeiten auf, die gerade durchgeführt wurden.
Dazu passt auch das „Lied unserer WM“:
„Mark Boombastic – Putzen“.
In Deutschland total unbekannt, in Russland ein großer Hit.
Noch besser ist natürlich der Song unseres Team-Mitglieds Maxim:
„Max Bousso – Yoo-lele“.
Ein echter Ohrwurm.
Doppelte Herausforderung
Sitze auf der Terrasse unseres Hotels und schaue auf die gemächlich daher fließende Wolga. Irgendwie macht das Hunger. Fühle mich ja schon so wie Norberto. Er ist übrigens mit Olga auf Tour. Sie machen um 21:00 Uhr Ortszeit eine vierstündige Wolga-Fahrt auf einem Tanzboot. Eigentlich hätte ich das natürlich schon gerne mit erlebt, Norberto bei lateinamerikanischen Standardtänzen zuzusehen. Bin aber einfach immer noch komplett platt. Brauche heute eine Auszeit, um morgen irgendwie über die Runden zu kommen.
Schlage dann die Karte auf. Liest sich gut, die Preise sind auch o. k. Problem: alles ausschließlich in kyrillischen Buchstaben geschrieben. Boah. Mache mich nach und nach an die Entschlüsselung heran. Mit der Zeit kriege ich ein paar russische Wörter zusammen. Dann taucht aber ein weiteres Problem auf, nämlich: Was bedeuten die Wörter auf Russisch? Merke, dass ich so nicht weiterkomme.
Rufe den Google-Übersetzer auf und gebe ein:
„Ich möchte Nudeln essen. Ohne Fisch. Ohne Meeresfrüchte.“
Habe vor, die Übersetzung nachher der Kellnerin zu zeigen.
Nach einer Weile kommt sie und ich möchte ihr meinen so gut ausgeheckten Plan vorstellen. Jetzt taucht ein weiteres Problem auf: kein WLAN mehr! D.h., mein Plan geht nicht auf. Ich kann ihr die Übersetzung nicht zeigen.
Frage sie, ob sie Englisch kann. Leider nein.
Bin kurz davor, mit dem Finger blindlings auf irgendein Gericht zu zeigen.
Da fällt mir dann ein: Ich versuche es mit „Spaghetti“.
Ich ernte nur ein Achselzucken.
Ich probiere es mit „Pasta“. Und tatsächlich! Sie versteht, was ich meine. Sie zeigt mir drei unterschiedliche Nudelgerichte in der Speisekarte. Ich entscheide mich für das mittlere. Hoffentlich kein Fisch und keine Meeresfrüchte! Bin gespannt.
Auf die Nacht freu ich mich … Blick an die Hotelzimmer-Decke. Wolga-Moskitos, Schnaken der übelsten Sorte. Selbst die Russen gehen nicht nach draußen, ohne sich vorher mit Mittelchen eingesprüht zu haben.
Das Letzte, das meine Frau mir mit auf den Weg gegeben hatte kurz vor der Abfahrt, war eine „Migge-Pletsch“. Auf meine Frau kann ich mich eben immer verlassen. Es gab übrigens harte Kämpfe. Mit den Mücken, meine ich. Das Foto dokumentiert einen Teil des Ergebnisses.
Nachtrag zum Essen. Ich bekam übrigens die Nudeln mit dem Lachs.

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