Wladimir Putins Bilanz von Erfolgen und Misserfolgen@ kremlin.ru

Wladimir Putins Bilanz von Erfolgen und Misserfolgen

Junge Menschen teilen am wenigsten positive Einschätzungen des Präsidenten

Lew Gudkow, Direktor des russischen Meinungsforschungsinstituts Lewada-Zentrums

Text veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung von VTimes. Баланс достижений и неудач Владимира Путина

Im März dieses Jahres wurden den Befragten im Rahmen der regelmäßigen monatlichen Umfrage des Lewada-Zentrums zwei gepaarte Fragen zu den Erfolgen und Misserfolgen von Wladimir Putin gestellt, zusammen mit einer Reihe von Routinefragen zur Einstellung der Öffentlichkeit gegenüber dem Präsidenten. Was betrachten die Menschen als Putins wichtigste Leistung während seiner Regierungsjahre? Beide Fragen (in der neuesten Version) lauten wie folgt:

  1. In welchen (der folgenden) Bereichen hat Wladimir Putin während seiner Amtszeit Erfolge erzielt?
  2. In welchem ​​dieser Bereiche waren Wladimir Putins Handlungen am wenigsten erfolgreich?

In fast jeder Hinsicht besser

Sowohl die Anerkennung des Erfolgs seiner Regierungszeit als auch das Verständnis für das Ausbleiben der erwarteten Ergebnisse wird von einer relativen Minderheit der Befragten geäußert (der Konsens übersteigt in beiden Fällen nicht 40 Prozent, aber es handelt sich nicht um scharf abgegrenzte Gruppen: beide Reihen überschneiden sich und bilden eine instabile Zone sich überschneidender Meinungen). Die Gesamtbilanz von Putins Erfolgen und Misserfolgen als Staatschef, der das Land bis 2021 mehr als 20 Jahre lang autoritär geführt hat, sieht wie folgt aus.

Wir können fünf oder sechs Bereiche identifizieren, in denen die Anerkennung von Erfolgen deutlich gegenüber Misserfolgen überwiegt (der Überhang der Ersteren gegenüber den Letzteren beträgt mindestens zehn Prozentpunkte), und drei Bereiche der Regierungsführung, die als Misserfolge gelten (der Kampf gegen „Oligarchen“, die Erhöhung des Wohlstands der Bevölkerung, der Kampf gegen Korruption). Die öffentliche Meinung schreibt alle folgenden Bereiche des gesellschaftlichen Lebens der Zuständigkeit des Präsidenten zu, was nur in Regimen geschieht, in denen die Gewaltenteilung, die Autonomie der lokalen Regierung und der Zivilgesellschaft beseitigt sind und die Wirtschaft von zentralisierten Behörden und Staatsbetrieben dominiert wird.

Die Fragen dieser Art werden in den Umfragen unseres Zentrums seit 2004 gestellt, seit der Zusammenfassung der Ergebnisse der ersten Amtszeit Putins, was es uns ermöglicht, die Dynamik der öffentlichen Meinung bezüglich der Effektivität der vom Staatsoberhaupt  verfolgten Politik zu verfolgen. Es ist offensichtlich, dass mittlerweile der Anteil derer, die seine Verdienste anerkennen, inzwischen in fast allen Aspekten zunimmt.

Krieg und Tschetschenien

Putins wichtigste Errungenschaft, die seit 2014 von der öffentlichen Meinung anerkannt wird, ist die Stärkung der Armee und die Modernisierung der Streitkräfte. Die beiden langwierigen Tschetschenienkriege zeigten die Schwächen der russischen Militärorganisation und das sinkende Prestige des Militärs. Die Reformen in der Armee nach dem russisch-georgischen Krieg führten zusammen mit einer wirksamen militaristischen Propaganda zu Ergebnissen: Die Autorität der Streitkräfte nahm zu, und die Armee belegte in der Rangliste der vertrauenswürdigen Institutionen noch vor dem Präsidenten den ersten Platz. Der Anteil der Russen, die Putins Politik nicht nur lobten, sondern auch als seine Hauptleistung ansahen, stieg in den letzten fünfzehn Jahren von 8 Prozent auf 38 bis 41 Prozent. Nach Ansicht der Russen ist eine starke Armee der Hauptbestandteil der Idee einer „Großmacht“ und verdrängt alle anderen Definitionen eines Staates dieses Ranges: die Gewährleistung eines hohen Lebensstandards der Bürger, entwickelte Rechtsinstitutionen, international anerkannte Erfolge der nationalen Wissenschaft und Kultur usw. „Mächtige Armee“ und „Weite des Territoriums“ dominieren in den Köpfen der Bevölkerung, wenn sie über Russland als „Großmacht“ sprechen. Das ist es, was die Menschen wirklich wollten: Ende der neunziger  Jahre erwartete die öffentliche Meinung vom Jelzins Nachfolger zwei Dinge: „Einen Ausweg aus der tiefen Wirtschaftskrise“ und die Rückkehr zu dem Status einer „Supermacht“, den die Sowjetunion ihrer Meinung nach besessen hatte. Die Demonstration militärischer Macht gegenüber der Weltgemeinschaft hat durchaus die neue Armut, die auf die Krise von 1998 folgte, und die Enttäuschung über die Ergebnisse der Reformen, die die Menschen sehr schmerzlich erfahren mussten, kompensiert.

Putins zweitwichtigster Erfolg ist die Lösung des Tschetschenien-Problems. Nicht jeder ist bereit, dieser Version eines politischen Kompromisses nach zwei Kriegen, die mehr als zwölf Jahre dauerten, zuzustimmen, aber die Mehrheit der Russen, wie schon bei früheren Umfragen des Lewada-Zentrums, stimmt zu, dass „Kadyrow besser als ein endloser Krieg ist“, der zu einer chronischen Bedrohung der Verbreitung des Terrorismus aus dem Kaukasus in die inneren Regionen Russlands führt. Der Anteil derartiger Meinungen zur Tschetschenienpolitik stieg ebenfalls von 8 Prozent (2004) auf 34 Prozent (2021), ebenso wie das Bewusstsein, die Gefahr von Terroranschlägen zu beseitigen, was ebenfalls Putin zugeschrieben wird (der Anteil solcher Antworten stieg von 3 auf 32 Prozent). Dass der Terrorismus eine direkte Folge der Politik Jelzins und später Putins im Kaukasus ist, ist den meisten Russen nicht bewusst oder sie wollen es nicht wahrhaben; sie verdrängen es aus ihrem Bewusstsein und verschließen sich vor dieser Tatsache.

Weniger erfolgreiche Handlungen

Mit weniger Gewissheit und Zuversicht, aber immer noch mehr als ein Viertel der erwachsenen Bevölkerung erkennt solche Leistungen Putins an, wie die Herstellung von Ordnung im Land (ein Anstieg von 12 auf 28 Prozent), die Bekämpfung der Kriminalität (von 6 auf 25 Prozent) und die Stärkung der internationalen Position Russlands (von 15 auf ein Maximum von 34 Prozent im Jahr 2017, gefolgt von einem Rückgang auf 24 Prozent im Jahr 2021). Letztere Meinung kann auch als Indikator für die Effektivität der Propaganda dienen, die die Menschen davon überzeugen kann, selbst offensichtliche Misserfolge der russischen Außenpolitik (zunehmende Isolation des Landes, härtere Sanktionen der internationalen Gemeinschaft, allgemeiner Anstieg des Negativismus gegenüber Putins Russland usw.) als Erfolg seines politischen Führungskurses wahrzunehmen.

Gleichzeitig sind die Bewertungen von Putins Politik nicht nur widersprüchlicher geworden (es ist klar, dass verschiedene gesellschaftliche Gruppen seine Politik unterschiedlich bewerten), sondern auch negativer, vor allem in Bezug auf die Dinge, die das tägliche Leben eines großen Teils der russischen Bevölkerung direkt bestimmen. Unter Berücksichtigung der charakteristischen Zurückhaltung, negative Meinungen über die Aktivitäten der Machthaber zu äußern, und der üblichen Tendenz, sich einer Antwort zu entziehen oder sich hinter der Option „Ich finde es schwierig zu antworten“ zu verstecken, wurde bereits 2004 die Formulierung „die am wenigsten erfolgreichen Handlungen“ (statt einer direkteren Definition – „Misserfolg“, „Versagen“, „keine Erfolge“) übernommen und in den Erhebungen beibehalten.

Illusorische Hoffnungen

Die Misserfolge der Regierung Putin sind nicht mit symbolischen Errungenschaften („Renaissance Russlands“, „Stabilität“, „Ordnung“) verbunden, sondern mit wichtigeren Kriterien und Bewertungen seiner Politik – in Bezug auf die alltäglichen Probleme der privaten Existenz einfacher Menschen: Dazu gehören die Fragen des Wohlergehens der Bevölkerung, der wirtschaftlichen Entwicklung des Landes, der Gewährleistung der sozialen Gerechtigkeit, und damit der Kampf gegen die Plutokratie, die Korruption der herrschenden Bürokratie, die „gleichmäßige Entfernung“ der zum „Hof“ nahen „Oligarchen“ usw.

Die Dynamik der Masseneinschätzungen in dieser Hinsicht war wie folgt: das enttäuschende Verständnis des Scheiterns der Verbesserung vom Lebensstandard, das Mitte der 2000er Jahre von jedem fünften Russen erkannt wurde, wurde allmählich verdrängt, der Anteil solcher Antworten hatte sich bereits bis 2009 fast halbiert (von 21 auf 13 Prozent), begann aber nach der Krise von 2015 wieder schnell zu wachsen und erreichte im März 2021 ein Maximum (39 Prozent).

Als hartnäckig erwies sich die Wahrnehmung, dass der „Kampf gegen die Korruption“ (vor allem von Beamten und des Staatsapparats) in Wirklichkeit deklarativer Natur sei (Putins „Erfolglosigkeit“ in diesem Bereich lag im Durchschnitt aller Jahre bei 32 Prozent; sie erreichte auf dem Höhepunkt der Anti-Putin-Proteste 2012 und auch 2021 mit 38 Prozent ihren Höhepunkt).

Ebenso illusorisch waren die Hoffnungen auf soziale Gerechtigkeit, Gleichheit aller vor dem Gesetz und dass Putin „die Oligarchen zügeln“ würde, wie er es im Geiste des radikalen Populismus während der Kampagne zur Beschlagnahmung von Yukos von Chodorkowski versprochen hatte. Die Meinung der Russen zu diesem Thema hat sich weiterverbreitet: Seit 2004/2005, als der Prozess begann, ist der Anteil solcher Antworten von 14 bis 16 Prozent auf 34 Prozent im Jahr 2021 gestiegen.

Die Enttäuschung über die fehlenden Ergebnisse in der Wirtschaft (die vielen Menschen nach mehr als zehn Jahren Stagnation und einem Rückgang der Realeinkommen klar wurde) hat merklich zugenommen; das niedrigste Niveau diesbezüglicher negativer Antworten trat 2008 auf – dem „besten Jahr“ in Bezug auf das Einkommenswachstum (8 Prozent), aber bis 2017-2021 stieg der Anteil solcher Antworten auf 26 bis 28 Prozent.

Der allgemeine Optimismus, der für die ersten Jahre von Putins Herrschaft charakteristisch war, hat sich deutlich abgeschwächt und verblasst.

Die Normalisierung der Beziehungen zu den westlichen Ländern, die für mehr als die Hälfte der Russen ein wichtiges politisches Ziel zu sein scheint, wird im Kontext des zunehmend konfrontativen Kurses des Präsidenten immer schwerer zu erreichen sein.

Putins Erfolge werden häufiger und höher von älteren, gebildeten und wohlhabenden Bevölkerungsgruppen geschätzt (unter denen die Beamten und Angestellten der alten Schule, die noch die Trägheit der sowjetischen Mentalität bewahrt haben und die am meisten von der autoritären Herrschaft profitiert haben, herausragen). Für sie sind die militärische Macht, die „Befriedung“ Tschetscheniens (um jeden Preis), die „Ordnung im Land“, die wirtschaftliche Entwicklung und die Stärkung der internationalen Position Russlands Dinge von symbolischer Bedeutung, Indikatoren für die Wiederherstellung der staatlichen Ordnung, die zu Sowjetzeiten bestand, der Zeit ihrer Jugend und sozialen Prägung.

Am wenigsten werden positive Einschätzungen des amtierenden Präsidenten einerseits von jungen Menschen, andererseits von Bewohnern depressiver Provinzen (Kleinstädte, Dörfer oder sozial schwache Schichten der Großstädte) sowie von Befragten mit niedrigem Einkommen, die weit entfernt von den Fragen der aktuellen Politik und der Größe des Staates sind, geteilt.

Woher stammen die Informationen?

Es geht nicht nur um die soziale Konditionierung von Einschätzungen, sondern auch um die Art der Informationskanäle, über die die Informationen über die staatliche Politik gelangen. Da die staatlichen Medienholdings und die kremlfreundlichen Massenmedien – TV, Radio und die Printmedien mit hoher Auflage – längst Teil einer mächtigen Propagandaindustrie sind, ist es verständlich, dass ihre Nutzer nur sorgfältig kontrollierte, „gesellschaftlich abgesegnete“ und ausschließlich positive Informationen über Wladimir Putins Aktivitäten erhalten. Solche Informationen gehen über politische Werbung und persönliches Lob für den „nationalen Führer“ hinaus. Sie sind Teil einer sorgfältig durchdachten Technologie, um Unterstützung für die Regierung zu mobilisieren und ihre Gegner zu denunzieren. Diese Kanäle bieten nur gefilterte „Inhalte“, die Informationen über die Misserfolge und negativen Folgen von Putins Politik sowie die sozialen Kosten bestimmter Maßnahmen seiner Regierung in Bezug auf den nationalen Wohlstand und die zivile Sicherheit ausschließen.

Im Gegenteil sind die Informationen, die im Internet und in den sozialen Netzwerken auftauchen, unvergleichlich vielfältiger und spiegeln (im Gegensatz zu offiziellen Informationen) die unterschiedlichen Interessen und Positionen ihrer Produzenten, Autoren, Kommentatoren und Nutzer wider. Das Internet und soziale Netzwerke zeichnen sich (zumindest bis jetzt) durch eine relative Unabhängigkeit von offiziellen Instanzen aus und unterliegen weniger der Zensur (Selbstzensur). Daher bewerten die Nutzer von Internetportalen, sozialen Netzwerken und insbesondere von Kanälen des Messengerdienstes Telegram das Handeln Wladimir Putins und die Ergebnisse seiner Politik im Allgemeinen viel häufiger und zum Teil auch recht kritisch. Die Einschätzungen Putins zu vielen wichtigen Fragen und Aspekten der Ereignisse unterscheiden sich nicht nur, sondern sind bei den Zuschauern und Abonnenten von Telegramkanälen direkt gegensätzlich. Hier sind nur einige Beispiele für solche Unterschiede.

Zum Beispiel bewerten Fernsehzuschauer die Art der wirtschaftlichen Entwicklung unter Putin als sein Erfolg, während Telegram-Nutzer sie eher als Misserfolg bewerten (45 Prozent). Putins Schutz der Menschenrechte und der Demokratie wird nur von 4 Prozent der Fernsehzuschauer und 15 bis 17 Prozent der Nutzer von Telegramkanälen, sozialen Netzwerken und dem Internet als „misslungen“ angesehen.

Im Durchschnitt zählen 21 Prozent die „Verbesserung des Lebensstandards der Bürger“ zu den Erfolgen des amtierenden Präsidenten und 39 Prozent zu den „Misserfolgen“, aber unter denjenigen, die vor allem dem Fernsehen vertrauen, sind erstere deutlich zahlreicher (29 Prozent). Dagegen halten nur 33 Prozent der Zuschauer seine Politik in dieser Hinsicht für „erfolglos“, während unter den Nutzern sozialer Netzwerke und Telegram seine Handlungen in diesem Bereich von 47 Prozent bzw. 44 Prozent in den sozialen Netzwerken und im Internet und von 54 Prozent (!) beim Publikum von Telegramkanälen negativ bewertet werden.

Nur 17 Prozent der Befragten (im Durchschnitt) würden Putins derzeitiges Gesundheitssystem als „große Errungenschaft“ ansehen; 29 Prozent würden es als Misserfolg betrachten. Unter den Fernsehzuschauern steigt der Anteil derer, die ihm in dieser Hinsicht zustimmen, jedoch auf 24 Prozent, aber unter denjenigen, die das Internet bevorzugen sinkt diese Zahl auf 13 Prozent. Nur 9 Prozent sind das unter denjenigen, die Telegram-Kanälen bevorzugen. Im Gegenteil, 21 Prozent der Fernsehzuschauer, 35 Prozent der Nutzer sozialer Netzwerke, 39 Prozent der von Internet-Portalen und 48 Prozent derjenigen, die Informationen in Telegramkanälen bevorzugen, betrachten seine Politik in diesem Bereich als Misserfolg.

Übersetzung aus dem Russischen

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