„Wir sind wohl die letzte Generation, die Sex als Lebensgrundlage versteht“Foto: © Timofey Kolesnikov

„Wir sind wohl die letzte Generation, die Sex als Lebensgrundlage versteht“

Alexander Tsypkin ist der neue Star der russischen Literatur. Frech und erfrischend schreibt er darüber, worüber die großen russischen Schriftsteller lieber schwiegen – über Sex. Tsypkin ist der erste Frauenversteher der russischen Literatur. In seinen kurzen präzisen Texten (russland.NEWS hat die Übersetzung seiner Erzählung „Eine Brodelle Edüde“ im März 2018 veröffentlicht) entsteht das vielfältige Porträt einer modernen Russin und Großstadtbewohnerin, die ganz genau weiß, was sie will. In einem Interview mit dem angesagten Petersburger Magazin Sobaka hat er über Harassment in Russland gesprochen. Russland.NEWS bringt das Interview verkürzt.

Während die Aktivisten im Westen gegen Harassment kämpfen, wird in Russland darüber nur gewitzelt. Im Unterschied zu den amerikanischen Frauen haben unsere Mütter ihre BHs nicht verbrannt. Warum eigentlich?

Weil die BHs eine Mangelware waren. Eine ganz simple Antwort. Ich denke, unsere Gesellschaft war schon immer etwas freier in sexueller Hinsicht. Wenn Sie sich erinnern, die Bolschewiki begannen mit der absoluten sexuellen Freiheit. Russland ist ein Land der Kälte und der unendlichen Katastrophen, daher kommt die Liebe zu einfachen Vergnügungen. Wir haben wenig Grund, glücklich zu sein, also nutzen wir das, was wir haben. Der andere Grund: beim Überfluss an attraktiven Frauen mangelt es an wenig trinkenden und sexuell aktiven Männern. Die jungen Frauen denken zurecht: wenn man sich jetzt gegen Harassment auflehnt, besteht die Gefahr, ganz ohne Sex zu bleiben. Ernsthaft gesprochen, macht mir das, was grade im Westen passiert, Angst. Sex wird aus dem normalen Leben verdrängt. Ich weiß nicht, vielleicht wollen sie so gegen die Überbevölkerung kämpfen oder sich dem radikalen Feminismus verschreiben, aber das ganze ähnelt einer Hexenjagd.

Natürlich ist sexuelle Belästigung ein Problem, im Eifer des Gefechts hat man aber die Unschuldsvermutung total vergessen. Wie kann man jemanden nur auf Grund einer Aussage über Ereignisse vor 20 Jahren bestrafen? In der Sprache von Verschwörungstheoretikern würde ich sagen, man versucht so die Gesellschaft unter Kontrolle zu halten. Das hatten wir schon im Mittelalter gehabt. Die beste Demokratie und die in sexueller Hinsicht freieste Gesellschaft war das antike Griechenland. Ein Zufall? Das denke ich nicht. Es ist ein Paradox, aber heute beobachten wir auch in den westlichen Gesellschaften einen gewissen Rückgang der Demokratie zum Beispiel durch das Eindringen in die Privatsphäre, angeblich aus Sicherheitsgründen. Jetzt ist Sex an der Reihe. Es kann sein, dass wir die letzte Generation sind, die Sex als Lebensgrundlage und Basismotivation versteht. Einige sind wohl der Meinung, dass Freiheit und 7 Milliarden Menschen auf der Erde schlecht zusammenpassen.

Wo ist die Grenze zwischen einem Kompliment und einer sexuellen Belästigung?

90 Prozent meiner Komplimente hätte man in den USA gewiss für sexuelle Belästigung gehalten. Deswegen schwieg ich dort, ich hatte keine Lust auf ein amerikanisches Gefängnis. Aber die Grenze ist immer sehr leicht festzulegen: wenn Sie ihr Kompliment einer Frau in Anwesenheit ihres Mannes oder gar in Anwesenheit ihrer eigenen Frau genauso gut hätten machen können, dann ist das keine Belästigung. Ich denke, ein Kompliment kann keinen beleidigen, wenn es mit Zärtlichkeit und Bewunderung ausgesprochen wird.

Um in einer Frau eine Persönlichkeit zu sehen muss man zuerst aufhören, sie als Frau zu sehen?

Ganz im Gegenteil! Geschlecht ist einer der Schlüssel zur Identifizierung der Persönlichkeit! Jeder Dialog zwischen Mann und Frau ist immer ein Dialog zwischen zwei Geschlechtern! Sobald ein Mann oder eine Frau ihre geschlechtliche Zugehörigkeit verlieren oder ändern, hat das eine unausweichliche Auswirkung auf ihre Persönlichkeit. Und Hand aufs Herz – mir ist noch nie eine schöne, interessante und erfolgreiche Frau begegnet, die vergessen hätte, dass sie eine Frau ist. Der liebe Gott hat uns unterschiedlich geschaffen. Er muss einen Grund dafür gehabt haben.

[aus dem Russischen von Daria Boll-Palievskaya/russland.NEWS]

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