Welche Strategieoptionen der Westen tatsächlich hat

Welche Strategieoptionen der Westen tatsächlich hat

[von Michael Schütz] Zugegebener Maßen hat der Autor gezögert diesen Artikel niederzuschreiben, denn wir begeben uns damit auf für die Meisten unbekanntes Terrain. Doch lassen Sie sich an die Hand nehmen, liebe Leserschaft, der Autor versucht Sie schonend durch das vor uns liegende Minenfeld zu lotsen.

Bekanntlich ist es um das Verhältnis des kollektiven Westens zu Russland nicht zum Besten bestellt und wir möchten hier auf eine etwas ungewöhnliche Art und Weise Strategieoptionen aufzeigen, die es derzeit für den Westen, insbesondere die Europäische Union in diesem Verhältnis gibt. Um es gleich vorweg zu sagen, es sind derer nicht allzu viele.

Vor kurzem wurde hier auf russland.NEWS ein Artikel veröffentlicht mit dem Titel:
„Kreml an Diskussion über das Bild der Zukunft Russlands interessiert“.
Darin geht es um die von einschlägigen russischen Fachleuten veröffentlichten Studie:
Wahrnehmung grundlegender Werte, Faktoren und Strukturen der sozialgeschichtlichen Entwicklung Russlands“, die der Frage nachgeht, welches Bild Russland in der Zukunft
von sich abgeben möchte. Die Studie wurde im Rahmen von Gruppendiskussionen entwickelt.
Im Artikel von russland.NEWS wird dazu folgende Feststellung aus der Studie zitiert:
„Nach wie vor wurde eine messianische Staatsauffassung vertreten – Russland als „Prophetenland“ oder „Messias“, das dem „Großinquisitor“ gegenübersteht, sowie Russland als „Weltenwächter“, als „Hüter des Guten“. „Nachdem es sein Schicksal erfüllt hat, werden Russland und die Russen in eine bessere Welt gehen, denn sie haben sie gerettet“, so die Forscher.“

Eine in gewisser Weise messianische Staatsauffassung ist nicht unbedingt eine russländische Besonderheit, die kennen wir von anderen Nationen ebenfalls, das jeweils spezifische daran ist vielleicht immer der Kontext, innerhalb dem ein solches Selbstbild verankert ist.
So hat denn auch dieses Zitat aus der Studie den Autor an eine Stelle in Alexander Rahrs Roman 2054 Putin decodiert erinnert. Wer das Buch gelesen hat und das werden hier wahrscheinlich einige sein, kennt den Absatz auf Seite 309, in dem Rahr zwei Mönche auf dem Berg Athos einige mystische Überlegungen anstellen lässt, die schließlich in die Erkenntnis münden:
„Doch am Ende der Zeit wird Russland an der Spitze derjenigen Völker stehen, die das Gute verkörpern.“
Alexander Rahr als auch die Studienautoren kommen also in ihrem Befund über russländische Befindlichkeiten zu einem gleichartigen Schluss. Uns interessiert hier im weiteren die spezielle Herleitung, aus der Rahr seine Protagonisten diese Schlussfolgerung ziehen lässt.

Zunächst sei hier aber auf den weit verbreiteten Mythos hingewiesen, das schlussendlich das Gute das Böse besiegen werde und in ein endzeitliches, goldenes Zeitalter überführen werde. Diese Idee scheint im Menschen tief verankert zu sein, hat aber nichts desto trotz einen totalitären Charakter. Sie basiert offenbar auf einem bereits frühkindlich angelegten Abwehrmechanismus, mit dem man sich die Welt dadurch schönzureden versucht, in dem man sie in Gut und Böse einteilt. Wir selbst sind dabei natürlich immer die Guten.
Diese Welten-Deutung ist gerade hochaktuell, denn die westliche Politik und ihre sog. Leitmedien stellen uns den Konflikt mit Russland seit Jahrzehnten genau in diesem Sinne dar. Da gebe es jemanden ganz Bösen in den Weiten des Ostens, den müssten wir besiegen – natürlich am besten militärisch. Endsieg, klar, anders werde es nicht gehen.
Das Bedürfnis im Menschen nach dem Endsieg des Guten, d. h. eigentlich der Erlösung, scheint so groß zu sein, dass eine derartige, kuriose Konfliktdarstellung noch immer bei einem großen Teil des Nachrichten-Publikums als plausibel und gerechtfertigt durchgeht.

Dieser Endsieg des Guten wird im mitteleuropäischen Kontext in einem Mythos (bzw. einer Sage) durchgespielt, der u.a. im Salzburger Land angesiedelt ist und Kaiser Karl den Großen (in Varianten auch Friedrich Barbarossa) als den Endsieger vorstellt. Karl ist in einen Berg entrückt worden und schläft dort der Endschlacht entgegen. Es gibt im deutschen Sprachraum mehrere Berge, in denen Karl für diesen Zweck eine Wohnung besitzt, schlussendlich ist er aber in den eindrucksvollsten dieser Berge umgezogen, den Untersberg vor den Toren der Stadt Salzburg. Dort im Inneren des Untersberges schläft er dahin, bis die Zeit gekommen ist. Dann wacht er auf und zieht mit seinen Getreuen aus dem Untersberg hinaus auf das vor dem Berg liegende, weite Feld, um dort die Krieger des Bösen vernichtend zu schlagen. Dabei werden die siegreichen Guten knöcheltief durch das Blut waten, das in der Schlacht vergossen wurde. Dann werde Karl ein endzeitliches Friedensreich errichten….

Wie schon angedeutet, kommt einem vor, dass man gegenwärtig solcher Art Mythen, in dem der Erlösungsgedanke in einen weltlichen Zusammenhang transformiert wird, in Varianten bereits gehört hat: in den medialen Darstellungen von Weltpolitik und in den globalen Strategievorstellungen des Westens. Das Problem dabei ist, dass vom Guten, wenn es einmal knöcheltief im Blut des Bösen herum watet, nicht mehr allzu viel übrig bleiben wird. Zumindest der Autor hat eindeutig andere Vorstellungen vom Charakter des Guten.
Dieser beschriebene Untersberg-Mythos basiert im übrigen auf einer Prophetie und die vorhergesagte Schlacht ist scheinbar tatsächlich eingetreten, wenn auch unter etwas anderen Vorzeichen. In den Koalitionskriegen um die Wende zum 19. Jahrhunderts kämpfte die Armee der Habsburger-Monarchie dort auf dem Feld vor dem Untersberg gegen die anrückenden französischen Truppen und es war tatsächlich die blutigste Schlacht, die jemals auf Salzburger Boden stattgefunden hat.

Halten wir also fest: Auch wenn uns die Hoffnung der Menschen, der Mythos, sowie Politik und Medien etwas anderes erzählen: Wenn das Gute das Böse vernichtet, vernichtet es sich letztendlich selbst.
Warum das so ist und was das mit der aktuellen Krise zwischen Russland und dem Westen zu tun hat, darum soll es im Folgenden gehen. Kommen wir daher wieder auf Alexander Rahrs Darstellung des Gesprächs der beiden Mönche auf dem Berg Athos zurück.

Der Starez des betreffenden Klosters klärt dabei seinen Mitbruder Nikolai darüber auf, warum Russland auserwählt sei und dass es mit jeder Prüfung, die dem Land auferlegt werde, seinen Status als Führungsmacht des Guten weiter ausbauen werde:
Dort, wo das Gute ist, befindet sich immer auch das Böse. Je stärker das Gute – umso mehr wird es vom Bösen der Versuchung ausgesetzt. Das Gute und das Böse; im engsten Verhältnis zueinander entwickeln sich der Mensch und die Geschichte der Menschheit…“

Ist das so, wie es der Starez beschreibt?

Der Starez – bzw. Alexander Rahr – spielt hier auf ein Konstruktionsprinzip unserer irdischen, materiellen Existenz an, nämlich dass unsere Welt aus einem Mosaik besteht, das sich aus Gegensatzpaaren zusammensetzt. Der Autor hat in seinen Beiträgen an dieser Stelle gelegentlich schon auf diesen Umstand hingewiesen.
Dieses Prinzip der Polarität hat gravierende Folgen für unser Handeln, die man im Westen allerdings nicht zur Kenntnis nehmen möchte. Der sich als Wertegemeinschaft definierende Westen, stellt den zur Militärmacht erstarrten Kampf gegen dieses Prinzip dar, während man den Eindruck gewinnt, dass im Osten das Prinzip – scheinbar – besser verstanden wird.

Es sind vor allem zwei Dinge, die in diesem Zusammenhang von Interesse sind:
Einerseits, bilden die jeweiligen Gegensatzpaare zusammen ein Ganzes und sind miteinander verschränkt. Das bedeutet, sie sind voneinander abhängig. Wir kennen das vom Yin-Yang Symbol. Die Entscheidung der einen Seite hat unmittelbare Auswirkung auf das Verhalten der anderen Seite. Und ich kann natürlich auch nicht die Gegenseite auslöschen, ohne das Ganze an sich zu vernichten.
Und zum Anderen entsteht sinnstiftendes Handel und eine gewisse Form von Wahrheit dadurch, dass man paradoxe Entscheidungen trifft.

Die Paradoxie der Existenz ist im Sprachgebrauch des Deutschen durchaus verankert, etwa in der Redewendung, dass dort wo viel Licht ist, auch viel Schatten ist. Oder in dem Satz, der seit den 2000er Jahren an Bedeutung gewonnen hat, dass nämlich Weniger Mehr sei. In den letzten Jahren scheint dieser Satz wieder aus der Öffentlichkeit verschwunden zu sein, vielleicht weil die westlichen Regierungen in den aktuellen Krisen eben nach dem Motto handeln, dass Mehr Mehr ist. Auch wenn der Umgang mit dem Weniger ist Mehr geübt sein muss: wenn man diese Paradoxie auf die Spitze treibt, bedeutet sie eben, dass Nichts Alles ist und wer das schon einmal erlebt hat, hat eine existenzielle Grunderfahrung gemacht.

Große Denker, Dichter wie spirituelle Führer haben sich seit eh und je mit diesem Prinzip der Polarität auseinandergesetzt und sind zum Beispiel zu dem Schluss gekommen, dass das Gegensatzpaar stets versucht, in ein – dynamisches – Gleichgewicht zu kommen.
In diesem Moment des Gleichgewichts heben sich die beiden Gegenkräfte auf und es entsteht eine Art Schwerelosigkeit. Der Autor würde daher vorschlagen, den Begriff Glück nicht als zum Beispiel Lottogewinn zu definieren, sondern als diesen kurzen Moment des Gleichgewichts, in dem sich die Kräfte der beiden Pole gegenseitig neutralisieren.

Da dieses Prinzip des Gleichgewichts der Gegensätze so auffällig und so wichtig ist, gehen spirituelle bzw. existenzielle Grundlagenwerke natürlich darauf ein: im Tao de King von Lao Tse zum Beispiel wird der Zusammenhang gleich unter Punkt 2 Pflege der Persönlichkeit beschrieben.
Und die jüdisch-christliche Bibel beschäftigt sich damit gar bereits auf den aller allerersten Zeilen: Die Schöpfungsgeschichte der Bibel berichtet nämlich nicht so sehr davon, dass Gott die Welt erschaffen hat, sondern wie er sie erschaffen hat, nämlich in der Polarität von Gegensätzen. Die wichtigsten Gegensatzpaare, die hier vorgestellt werden, sind Himmel und Erde, Licht und Finsternis, Land und Wasser, Mann und Frau sowie eben Gut und Böse. An der kreativen Art und Weise wie Gott Mann und Frau erschaffen hat, lässt sich eben auch erkennen, dass die beiden Pole immer miteinander verschränkt sind.

Wie bekämpfe ich also das existenzielle Böse?
Die Antwort ist: gar nicht!
Es kommt darauf an, ein Gleichgewicht zwischen Gut und Böse herzustellen. Was das dann in der Praxis tatsächlich bedeutet, ist stets zu diskutieren und zu hinterfragen.
Das Böse bleibt Teil des Entwicklungsprozesses des Menschen und der Menschheit, so wie es Alexander Rahr in seinem Roman 2054 in der zitierten Stelle eben auch andeutet.

Damit haben wir schon die Stichworte erwähnt, die im Verhältnis des kollektiven Westens zu Russland von Bedeutung sind und die auch die Strategieoptionen, die dem Westen tatsächlich zur Verfügung stehen, vorzeichnen.
Der Anschein, den der Westen bei seinem Publikum erwecken möchte, dass er nämlich im Falle Russlands gegen das Böse ankämpfe, ist klarerweise in jeglicher Hinsicht Unsinn. Es ist allerdings auch davon auszugehen, dass die Macher von westlicher Politik und Medien diesen Köder, den sie für ihre Zuseher ausgelegt haben, mittlerweile selbst gefressen haben.

Die grundlegenden Stichworte in diesem Zusammenhang sind Gleichgewicht und Verschränkung.
Den sog. Kalten Krieg kann man als eine solch kurze Phase des Gleichgewichts beschreiben, zwar mit einiger Instabilität, aber immerhin. Die einzige wirklich große Krise in dem Zusammenhang – die Kubakrise – entstand einerseits durch Großmachtinteressen auf Kuba, andererseits dadurch, dass die USA das Gleichgewicht zwischen den Supermächten durch Aufstellung von Atomraketen in der Türkei gestört hat und die Sowjetunion daraufhin durch Stationierung von Raketen auf Kuba das verlorengegangene Gleichgewicht wieder herstellen wollte – wenn auch auf einer noch stärker instabilen Ebene. Die Krise wurde dann eben im Sinne des Gleichgewichts gelöst. Beide Seiten zogen ihre Raketen wieder ab und man kehrte zum alten, stabileren Gleichgewicht zurück.

Das zweite Stichwort Verschränkung beschreibt insbesondere das Verhältnis des westlichen Europas, also quasi EU Pluszu Russland als ein Europa und Ant(i)Europa, bzw. umgekehrt. In dem Sinne wie Arktis und Antarktis, dazwischen entfaltet sich das ganze Spektrum europäischer Politik, Geschichte und Kultur. Verschränkung bedeutet auch, eine Bewegung auf der einen Seite führt automatisch zu einer Resonanz bzw. Veränderung auf der anderen Seite.
Johann Wolfgang von Goethe sagt einmal in einer Rede über Shakespeare:
„… Das, was wir bös nennen, ist nur die andere Seite vom Guten, die so notwendig zu seiner Existenz und zum Ganzen gehört, als Zona torrida (heiße Zone; Anm.) brennen und Lappland einfrieren muss, dass es einen gemäßigten Himmelsstrich gebe…“
Wenn man diese Erkenntnis des Dichters auf europäische Verhältnisse umlegen möchte, so würde das bedeuten, dass der europäische Geist und das, was er an Errungenschaften hervorgebracht hat nur daraus entstehen konnte, dass er sich eben zwischen den entgegengesetzten Polen des Europäischen entfalten konnte und musste.

Die EU bzw. die ihr zugrundeliegende Geisteshaltung versucht schon eine ganze Weile, diese Verschränkung aufzulösen, zuletzt augenfällig geworden in der Vertreibung russischer Künstler, im Aussortieren russischer Literatur aus Bibliotheken, in der Entfernung russischer Produkte aus Supermarktregalen etc.. Die Auflösung dieser Verschränkung EUropas mit Russland führt letztendlich zum Verlust der eigenen Identität, so wird EUropa zur leichten Beute des Hegemons.
Die Bemerkung mancher Zeitgenossen dahingehend, dass Frieden und Stabilität in Europa nur mit Russland und nicht gegen Russland zu erreichen seien, basieren letztendlich auf dieser Erkenntnis der Verschränkung.

Der wichtige russische geopolitische Analyst Fjodor Lukjanow hat in einer Art Bilanz zu der letzten Valdai-Konferenz (auf Deutsch: Das westliche Verständnis von Gerechtigkeit ist dem Rest der Welt nicht vermittelbar) geschrieben:
„Viele in Russland sprechen seit langem von der Notwendigkeit, sich von dem westlich zentrierten Weltbild zu lösen, das unserem politischen Bewusstsein seit Jahrhunderten innewohnt. Es geht dabei nicht um Sympathien oder Antipathien, sondern um das Verstehen von Veränderungen in der Weltordnung…
Aber es ist schwierig, die tief verwurzelte Gewohnheit zu überwinden, das eigene Handeln durch das Prisma der Beziehungen zum Westen zu bewerten. Die Ereignisse des Jahres 2022 erzwangen diese Überwindung schließlich im Schnelldurchlauf – und der Westen selbst ergriff dabei die Initiative…“

Der Autor würde in Sinne des hier von ihm beschriebenen Modells allerdings nicht von einer tief verwurzelten Gewohnheit sprechen wie Lukjanow, sondern eher von einer Notwendigkeit. Es ist auch sehr fragwürdig, inwieweit man diese Verschränkung überhaupt auflösen kann, da man ja die faktische Geschichte nicht rückgängig machen kann. Man kann sie vielleicht neu bewerten, bzw. in einem neuen Zusammenhang sehen.
Insofern könnte jetzt ein anderes Bild von den Vorgängen in der Welt Platz greifen, nämlich das einer klassischen Waage. China bzw. der Westen bilden die beiden Waagschalen und Russland stellt den Waagebalken dar, der für die Ausgleichsbewegungen zwischen den beiden Schalen sorgt. Genau so sieht auch die Geografie aus und Russland ist aufgrund seiner Großmachtstellung in Sachen Diplomatie geradezu dafür geschaffen, diese neue – zentrale – Rolle zu übernehmen. Im Idealfall würde Russland also jetzt von dem alten Bild des Europa und Ant-Europa in das neue Bild der Waage mit dem Waagebalken überwechseln.
Dann müsste einerseits die europäische Verschränkung nicht aufgegeben oder bekämpft werden, andererseits würde das der Weltgemeinschaft ermöglichen, wieder in eine Form von Polarität zurückzukehren, denn das sich jetzt durchsetzende multipolare System wird im Zuge der dabei ablaufenden Selbstfindungsprozesse einige Unsicherheit produzieren.
Was der Westen in diesem Sinne gerade versucht, ist, den Waagebalken zu zerstören und damit die beiden Waagschalen zum Absturz zu bringen. Was das bedeutet, wollen wir uns lieber nicht ausmalen.

Noch ist es allerdings nicht so weit, wir befinden uns mitten in dem Versuch die europäische Polarität und Verschränkung „zu überwinden“, mit den entsprechenden Folgen.
Welche Handlungsmöglichkeiten ergeben sich nun für die Europäische Union aus dieser Verschränkung mit Russland, die man nicht einfach ungeschehen machen kann.
Wir haben schon festgestellt, dass sinnstiftendes Handeln im optimalen Falle aus der Paradoxie heraus entsteht. Wir wissen, dass es nicht unbedingt die Sache des Westens ist, sinnstiftend zu handeln, aber er könnte sich immerhin dazu gezwungen sehen, wenn nämlich bei ihm zuhause die Dinge vollends aus dem Ruder laufen würden.
Die westliche Politik „verschenkt“ gerade Volksvermögen in großem Stil, ohne damit auch nur irgendetwas Konstruktives geschaffen zu haben. Die mit diesem verschenkten Vermögen verbundene Kraft fehlt daher und das manifestiert sich letztendlich in einer Abstiegsbewegung.

Mit ihrer Sanktionspolitik hat die EU gleichsam die ungünstigste aller Optionen gewählt. Um den Schein zu wahren, muss sie immer zuerst auf einen Impuls warten, der auf irgendeine Weise aus Russland kommt, bevor sie ihre Sanktionen umsetzen kann. Das bedeutet, man nimmt damit eine passive, reaktive Rolle ein. Wollte die Europäische Union nicht eine Führungsrolle in der Welt übernehmen? Dieser Anspruch war offensichtlich gestern.
Russland, das bei unabhängigen Beobachtern bisher weitgehend immer als reaktiver Spieler wahrgenommen wurde, hat jetzt jedoch seinerseits aktiv einige Pflöcke eingeschlagen und die EU kann aufgrund der von ihr eingenommenen Haltung wieder nur passiv-reaktiv darauf reagieren. Das Bild, das die Europäische Union damit vor der Welt von sich abgibt, widerspricht eindeutig ihrem eigenen Anspruch.

Die Sanktionen der EU stellen natürlich ihrerseits einen, wenn auch passiven und daher schwachen Impuls dar und Russland kann es sich inzwischen leisten, diesen Impuls zu ignorieren, bzw. ihm auszuweichen.
Die andere Möglichkeit, die man in einer Verschränkung hat, ist, selbst den Impuls aktiv zu setzen und dadurch den anderen dazu zu zwingen, darauf zu reagieren. Wenn man eine bestimmte Reaktion beim Gegenüber auslösen möchte, muss man also auch einen entsprechenden Impuls setzen. Das scheint man in der EU aber nicht zu wissen, bzw. nicht wissen zu wollen.

Die EU hat in diesem Verhältnis jetzt tatsächlich auch selbst eine aktive Rolle übernommen, indem sie als Losung ausgegeben hat, Russland zerstören zu wollen. Das wurde bekanntlich von Spitzenvertretern, insbesondere Spitzenvertreterinnen der westlichen Wertepolitik öffentlich sinngemäß so verkündet. Der Haken liegt – wie oben bereits beschrieben – darin, dass man sich damit in einer Verschränkung selbst zerstört. Dieser Prozess bildet sich in EUropa gerade überdeutlich ab und wenn es den Vertretern der westlichen Wertegemeinschaft gar doch noch gelingen sollte, einen Atomkrieg auszulösen, dann wird die Selbstzerstörung nur dadurch nicht auffallen, weil alle so schnell tot sind.
Die großangelegten Versuche im Laufe der Zeiten Russland zerstören zu wollen, endeten mehr oder minder damit, dass der Zerstörer selbst versenkt worden ist – und Russland damit stärker in mitteleuropäische Angelegenheiten hineingezogen worden ist, als vielleicht so manchen recht gewesen ist. Dass es diesmal anders sein sollte, davon ist nicht unbedingt auszugehen.

Die dritte Möglichkeit, die für die EU realistischer Weise jetzt noch bleibt, besteht, wie gesagt, in einer aktiven, aber paradoxen Reaktion. Es ist die allerletzte Chance, die man bei Brüssel & Co noch hat. Der Krug ist in jeglicher Hinsicht zerbrochen, aber vielleicht gelingt es doch noch einige größere Scherben wieder zusammenzufügen, die man dann später einmal ehrfurchtsvoll in der Vitrine eines Museums bestaunen kann. Paradoxe Reaktion heißt hier natürlich aus der Logik der Eskalation auszusteigen und das Weniger ist Mehr in all seinen Spielarten verantwortungsvoll in die eigene Politikstrategie einzubauen.
Das wäre dann fast schon eine Art von Kopernikanischer Wende im EUropäischen Selbstverständnis, die allerdings (die Art nämlich) in der europäischen Kultur-, Geistes- und Politikgeschichte gut abgesichert wäre.

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