Warum Putin die Russen verlieren kann

Warum Putin die Russen verlieren kann

[Kommentar von Roland Bathon] Bei einer aktuellen Umfrage des Lewada-Zentrums in Russland, ob Putin noch über das Jahr 2024 hinaus Präsident bleiben soll, gab es ein überraschendes Ergebnis. Denn es stimmten nicht einmal 50 Prozent für Putin – bisher ging es ja immer darum, wie deutlich seine Mehrheit bei irgendwelchen Befragungen ausfiel. Gibt es in Russland eine Putin-Müdigkeit, und wenn ja, warum und kann sie für ihn gefährliche Ausmaße annehmen?

Unverständnis der Putin-Fans

Russlands Präsident Putin hat auch in Deutschland viele Fans. Sie verweisen, wenn ihre eigenen Medien diesen verteufeln, gerne auf seine unbestreitbaren Verdienste. Das politische Kaltstellen der Oligarchen – gegen den Druck des Westens -, die Stabilisierung und den Wohlstandsgewinn des Landes gegenüber den 90er Jahren unter Jelzin und Russlands gestiegene Bedeutung in der globalen Arena.

Doch all diese Fans leben nicht in Russland – wo außenpolitische Erfolge weit weg sind und man mitten im eigenen, russischen Leben steht. Die Verdienste, die im innenpolitischen Bereich zurecht genannt werden, fanden fast ausschließlich in Putins Frühzeiten statt, wie die Stabilisierung nach den chaotischen 90er Jahren oder der Wohlstandsgewinn nach dem Millennium. Und diese Frühzeiten sind bei einem Präsidenten, der seit über zwanzig Jahren im Amt ist, doch schon recht lange her.

Magere letzte Jahre prägen junge Russen

Was die Russen vor Ort in den letzten Jahren unter seiner Regierung erlebt haben, war oft weniger erfreulich. Etwa seit mehreren Jahren einen Rückgang der Realeinkommens, eine zunehmende Verkrustung des Herrschafts- und Machtapparats, der seit Putins Machtantritt weitgehend unverändert vor allem aus alten Seilschaften in Schlüsselpositionen besteht mit normalen Begleiterscheinungen wie zunehmender Korruption und immer weiter eingeschränkten Freiheitsrechten.

Gerade jüngere Russen haben aktive Erinnerungen vor allem an diese späte Epoche seiner Herrschaftszeit und kennen die 90er Jahre eher aus Geschichtsbüchern als aus eigener Anschauung. Was ihr eigenes Lebensumfeld angeht – etwa das Internet – erleben sie den russischen Staat vor allem als restriktiv – eine Erfahrung, die übrigens jüngere Mitteleuropäer im Zeitalter der unbeliebten Urheberrechts“reformen“ ebenfalls machen. Und all das mit der Erfahrung, dass es seit Jahren im eigenen, privaten Umfeld materiell mehr bergab als bergauf geht. Wer da dem politisch aktiven Teil der russischen Jugend den Wunsch nach Erneuerung vorwirft, war selbst nie jung.

2020: Putin macht Hoffnung – und zerstört sie

Im Januar sah es kurzzeitig so aus, als ob eine solche Erneuerung sogar auf Initiative von Putin selbst kommen könnte. Eine umfassende Verfassungsänderung, Beschränkung der Macht und Amtszeiten des Präsidenten, Erneuerung der Regierung – einige Optimisten hofften da gar auf eine Erneuerung des nach zwanzig Jahren doch recht verknöcherten Zwischenbaus der russischen Macht von oben mit Billigung von unten. Quasi eine Reform durch den „Zaren“ – wie in Russland schon geschehen.

Doch diese Hoffnung hat Putin selbst zerstört, indem er der Initiative seiner etablierten Apparatschiks folgte und nun den Eindruck erweckt, er können auch nach 2024 noch Präsident bleiben, durch eine trickreiche „Nullstellung“ seiner bisherigen zwanzig(!) Präsidentenjahre. Doch diese Enttäuschung ist nur ein prominentes Symptom für weitere Enttäuschungen.

Denn Putins große Reform bringt so wenig echte Erneuerung im erstarrten russischen Machtgefüge wie sein Regierungswechsel. Einige Kompetenzen werden hin und her geschoben, in Bezug auf das internationale Recht zweifelhafte Klauseln in die Verfassung aufgenommen, die das Petitionsrecht etwa an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte – den Russland mit eingerichtet hat – beschneiden könnte. Die Experten streiten, ob die Macht des Präsidenten überhaupt durch die Reform beschnitten wird.

Die Alte Garde prägt das Bild

In der Regierung wurden nur im wirtschaftsorientierten Bereich einige der Silowiki, wie man die Vertreter der alten Garde Putins nennt, durch Technokraten ersetzt. Maßgebliche politische Bereiche wie die Verteidigung oder das Äußere blieben gleichbesetzt. Da Technokraten eher unpolitische Amtsinhaber sind, die meist den Vorgaben der Politik folgen, wird sich an der grundsätzlichen erzkonservativen Richtung der Regierung, die der Rest des Kabinetts vorgibt, nicht viel ändern. Putin selbst fällt hier immer häufiger durch einen wachsenden Konservativismus auf, auch um sich mit der schon fast reaktionären und zunehmend einflussreichen orthodoxen Kirche gut zu stellen.

Dass da besonders die Jüngeren, die, sofern politisch aktiv, selbst Fortschritt für ihr Land wollen und keinen Stillstand oder gar reaktionären Rückschritt, nicht „juhu“ schreien, ist mehr als nachvollziehbar. Denn eine große Mehrheit der jungen Russen sieht sich laut Umfragen eben nicht als konservativ. Und generell überwiegt in der Bevölkerung derzeit die Stimmung in Bezug auf die Verfassungsreform, dass wohl alles so bleibt, wie es ist, und sie nur dem Zweck dient, dass die Mächtigen ihre Macht behalten. Und dass schon lange nicht mehr vor allem aus Gründen der Stabilität, sondern mit einer großen Portion Eigeninteresse und Selbstbedienung – man betrachte hier nur den Fall von Putins in die zweite Reihe zurückgerufenen Ex-Premiers Medwedjew.

Viele Russen wollen keinen Greis als Präsidenten

So wundert es nicht, dass eine Umfrage einmal nicht in der Art ausgeht, dass die Mehrheit der Russen Putin auch im vergreisten Alter noch weiter als Präsident will. Dieses Schicksal teilt er übrigens mit anderen alt gewordenen politischen Helden, die ihr Amt mit Aufbruchsstimmung und großer Bevölkerungsmehrheit im Rücken begannen, aber irgendwann in verkrusteten Strukturen erstarrten und dann besonders von der eigenen Jugend nicht mehr unterstützt wurden. Man denke an Fidel Castro oder Robert Mugabe.

Auch Putin ist nach zwanzig Jahren nicht mehr in der Aufbruchsphase. Das ist nicht sein Fehler, sondern eine natürliche Folge des großen Zeitablaufs. Er selbst hat im Januar in mehreren Reden eine Erneuerung der Macht als Notwendigkeit bezeichnet – und gerade diese Aussagen, die auf die Spätphase der Sowjetunion gemünzt waren, im März wieder zurückgenommen. Viele Russen denken noch so – bei einer Umfrage sprachen sich nur 26 Prozent der Russen gegen eine Altersbegrenzung für das Präsidentenamt aus.

Imagegewinn als neuer Krisenmanager fraglich

Viele von Putins nach wie vor zahlreichen Anhängern hoffen, dass er als Manager der kommenden Krise, ein Thema, das gemäß seinem Ruf zu seinen Spezialitäten gehört, wieder punkten und die Russen hinter sich vereinen kann. Doch die aktuelle Situation wird ihm dazu nicht dieselben Möglichkeiten bieten, wie die ersten Jahre nach dem Jahrtausendwechsel. Der Ölpreis und damit Russlands Haupteinnahmequelle liegt längerfristig am Boden, was damals ganz anders war. Bei der momentanen Corona-Pandemie kann Putin sich wesentlich weniger im Rahmen seiner üblichen PR als Held inszenieren, als etwa bei einer Überschwemmung oder bei einem Erdbeben. Denn die Leute werden trotzdem weiter erkranken und sterben, auch wenn sich Putin stimmungsvoll in Anti-Seuchenausrüstung präsentiert. Hier kommt es auf wirkungsvolle Maßnahmen an, wo Putin im Ranking der weltweiten Staatschefs eher im Mittelfeld als in der Spitzengruppe liegt.

Der Wohlstandsrückgang der letzten Jahre wird sich nach dem Ende der Pandemie fortsetzen und voraussichtlich noch beschleunigen, und es wäre das erste Mal in der Geschichte, dass eine solche Entwicklung keine breite Unzufriedenheit produziert, nur weil derselbe Amtsinhaber zwanzig Jahre davor erfolgreich ein paar korrupte Oligarchen kalt gestellt und mehr Stabilität gebracht hat. Zusätzlich vergleichen die Menschen ihre gegenwärtigen Lebensumstände mit denen der jüngeren Vergangenheit. Was Putin in den 00er Jahren zugute kam – der Vergleich zwischen den schlimmen 90ern und besseren Zeiten nach dem Millennium – könnte ihm nun auf die Füße fallen: Der Vergleich der krisengeschüttelten 2020er mit dem relativen Wohlstand davor.

Putin wird wahrscheinlich 2024 nicht die Möglichkeit nutzen, mit erhobenem Haupt angesichts seiner Leistungen in den ehrenvollen Ruhestand zu gehen und ein neues Gesicht an der Spitze zuzulassen. Das ist in seinem älter werdenden Apparat auch schwer zu finden. Er muss wirklich sein gesamtes Geschick aufbieten, um dann nicht einige Jahre später weniger ehrenvoll von anderen kaltgestellt zu werden, denn er ist im Staatsapparat nicht so allmächtig wie viele in Mitteleuropa denken und das wird sich im fortgeschrittenen Alter kaum verbessern. Ob dann eine wirklich besser und fortschrittlichere Regierung kommt, steht natürlich auf einem anderen Papier.

Quellen für statistische Daten wie Realeinkommen oder die erwähnten Umfragen:


https://www.gks.ru/free_doc/new_site/population/urov/urov_12kv.doc
https://www.dekoder.org/de/gnose/silowiki
https://www.heise.de/tp/features/Fuer-Putin-ist-Ehe-eine-Vereinigung-von-Mann-und-Frau-4661003.html
https://fom.ru/TSennosti/13288

Foto: kremlin.ru, Creative Commons 4.0

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