Warum China vom Westen zum Gegner erklärt wird Teil 1: Argwohn durch unterschiedliche Wertvorstellungen

Warum China vom Westen zum Gegner erklärt wird Teil 1: Argwohn durch unterschiedliche Wertvorstellungen

[von Bernd Murawski] Die während des Europabesuchs des chinesischen Präsidenten Xi Jinping mit Italien vereinbarte Kooperation wirft die Frage auf, ob den Offerten Chinas zu trauen ist.

In den vergangenen Jahrzehnten war es das Profitstreben der weltgrößten Konzerne, das sie zu einem Engagement in China veranlasste und den wirtschaftlichen Aufstieg des Landes förderte. Sind es jetzt der Kredithunger und das Interesse an neuen Absatzmärkten, das EU-Staaten dazu bewegt, mit China zu kooperieren und es dadurch politisch zu stärken?

Die USA und ihre Verbündeten Deutschland, Frankreich und Großbritannien werfen der italienischen Regierung vor, bei der Verfolgung eigener Ziele von westlichen Interessen und Werten abzurücken. Da es sich bei den Vereinbarungen zwischen Peking und Rom lediglich um eine Absichtserklärung handelt, überrascht die Vehemenz der Reaktion. Artikulieren sich hier Ängste vor einem Bröckeln der westlichen Dominanz?

Der wirtschaftliche Aufstieg Chinas erscheint unaufhaltsam. Dessen kaufkraftbereinigtes Bruttoinlandsprodukt übertraf das US-amerikanische im Jahr 2017 bereits um 20 Prozent und dürfte inzwischen jenes der EU überrundet haben. Der chinesische Erfolg wird im Westen vielfach auf unlauteren Wettbewerb zurückgeführt, der den Export begünstigt. Der Regierung werden massive Eingriffe in das Wirtschaftsleben vorgeworfen: Die Wechselkurse würden manipuliert, gegen Patentschutzverstöße und die Kopie von Markenprodukten werde nicht energisch vorgegangen, Exportzuschüsse würden Dumpingpreise ermöglichen, der staatliche Sektor könne sich unbegrenzter Kreditierung erfreuen.

Ähnliche Praktiken beflügelten allerdings auch den Wirtschaftsaufschwung anderer Staaten Ostasiens. Bekanntermaßen beruhten die Exporterfolge Japans auf einer Bündelung der wirtschaftlichen Potentiale durch das Handels- und Industrieministerium (MITI) zum Zweck einer systematischen Eroberung ausländischer Märkte. Wettbewerbsverzerrende Maßnahmen gibt es gleichwohl im Westen: Der Marktzugang für ausländische Anbieter wird durch Normen, Standards und andere Bestimmungen erschwert, eigene Unternehmen werden mit Subventionen und staatlichen Aufträgen konkurrenzfähig gemacht. Erwähnt sei etwa die Schrittmacherfunktion von NASA, Pentagon und US-Geheimdiensten bei der Einführung und Verbreitung neuer Technologien.

Globales Kräfteverhältnis und Weltmachtambitionen

Weil wirtschaftlicher und politischer Aufstieg nicht zu trennen sind, wird China im Westen zunehmend als Hauptkontrahent begriffen. Daher ist nicht verwunderlich, dass Donald Trump trotz seines rüpelhaften Stils Unterstützung bei dem Bestreben findet, den Chinesen Zugeständnisse abzuringen. Ein rationales Abwägen möglicher Szenarien lässt es für die chinesische Seite ratsam erscheinen, einzulenken. In einem kürzlich vom nationalen Volkskongress verabschiedeten Gesetz werden ausländischen Investoren bessere Rahmenbedingungen sowie effektiver Schutz geistigen Eigentums zugestanden. Damit kommt die chinesische Führung westlichen Forderungen entgegen, wenn auch der Schritt vorgeblich im Rahmen einer Strategie der Marktöffnung bereits geplant gewesen sei.

Für die globale wirtschaftliche Kooperation sind Kompromisse unerlässlich. In ihnen widerspiegelt sich das jeweilige Kräfteverhältnis, das sich im Zuge wirtschaftlicher Veränderungen fortlaufend wandelt. Ein wichtiger Meilenstein für den chinesischen Machtzuwachs war die Gründung der asiatischen Infrastrukturinvestmentbank (AIIB) im Jahr 2016. Die Teilnahme führender europäischer Länder stieß auf den Widerwillen der USA, die befürchteten, dass ihnen die Kontrolle der globalen Finanzströme entgleiten könnte. Noch bedeutender dürfte das „One Belt one Road“-Projekt sein. Obwohl es vorrangig ökonomischen Zwecken dient, stärkt es gleichsam die chinesische Position bei globalpolitischen Verhandlungen und Absprachen.

Die Regime-Change-Aktivitäten der USA und ihrer westlichen Verbündeten, die neben „bunten Revolutionen“ und Sanktionen auch militärische Interventionen einschließen, werden in China als latente Bedrohung wahrgenommen. Demgemäß avanciert Russland zum gegenwärtig wichtigsten Verbündeten. Das Land verfügt zum einen über ein großes militärisches Potential, das die Expansionsgelüste der USA dämpft. Es ist zum anderen ein bedeutender Wirtschaftspartner dank umfangreicher Rohstoffe und eines wachsenden Markts für chinesische Produkte.

Umgekehrt fühlt sich der Westen durch ein erstarkendes China bedroht. Die Ängste vor einem „Drangs Asiens nach Westen“ haben eine lange Tradition. Erinnerungen an die Eroberungsfeldzüge von Hunnen, Mongolen, Osmanen und des „Iwan“ werden wach. Allerdings hatten die Chinesen den europäischen Kontinent niemals in kriegerischer Absicht betreten. Der verbreitete Argwohn erklärt sich eher aus den autoritären politischen Strukturen, die keine demokratisch legitimierten Entscheidungen zulassen. Zugleich werden den Bürgern elementare Menschenrechte vorenthalten, die in der UN-Charta festgeschrieben sind. Trotz seiner kritischen Haltung zur US-Politik steht daher für den Finanzexperten Dirk Müller außer Frage, dass der amerikanische Hegemon einem chinesischen vorzuziehen sei.

Indes gibt es keine Äußerungen von einflussreicher chinesischer Seite, die sich als Weltmachtstreben oder als Versuch, anderen Ländern das eigene System aufzwingen zu wollen, interpretieren lassen. Anders verhält es sich bei den USA, deren Präsidenten einen globalen Führungsanspruch aus der Überzeugung ableiten, „God‘s own country“ vorzustehen. Dass dies keine bloße Stimmungsmache ist, bezeugen strategische Entwürfe zur Erlangung und Aufrechterhaltung politischer Dominanz, wie sie in Zbigniew Brzezinskis „The Grand Chessboard“ und in Expertisen von Think Tanks zu finden sind, darunter solche, die dem State Department nahe stehen.

Den Chinesen kann nun unterstellt werden, ihre eigentlichen Ziele raffiniert zu verbergen. Dagegen spricht, dass ein fundamentaler Schwenk in der Außenpolitik Vertrauenskapital zerstört, die Kooperation erschwert und Widerstand provoziert. Zudem bedarf es propagandistischer Vorarbeit, damit die Bürger aggressive Aktionen der eigenen Regierung gegen vermeintliche Feindstaaten befürworten. Wie ein geschichtlicher Rückblick belegt, haben ambitionierte Herrscher vielmehr bewusst ihre Absichten und Ziele offengelegt, um eine wachsende Anhängerschaft zu gewinnen, die auch für gröbste Untaten einsetzbar war.

Außer bei dem historisch begründeten Anspruch auf Taiwan und einige dem Festland vorgelagerten Inseln hält sich die chinesische Regierung aus internen Angelegenheiten anderer Staaten heraus. Weder setzt sie diese unter Druck noch spricht sie Drohungen aus. Dass Peking trotz dieser prinzipiellen Position den Sanktionen gegen Nord-Korea und den Iran zugestimmt hat, erklärt sich aus der Befolgung des globalen Konsensus, der über die Nichtverbreitung von Atomwaffen erzielt wurde. Falls allgemein anerkannte Spielregeln wie im Fall des Ausschlusses Huaweis beim 5G-Netzausbau durch Australien und Neuseeland verletzt werden, ist China zuweilen auch bereit, mit wirtschaftlichen Gegenschlägen zu antworten.

Unterschiedliche Werte und Leitbilder

Die Volksrepublik China wird zweifellos autoritär regiert, die Entscheidungskompetenzen sind stark zentralisiert. Während Diktatoren im westlichen Einzugsbereich danach streben, der gesellschaftlichen Elite Macht und Reichtum zu verschaffen, ähnelt das chinesische System eher den Erziehungsdiktaturen des „realen Sozialismus“. Wurde der wirtschaftliche Aufstieg des Landes bis zum Ende der Kulturrevolution im Jahr 1976 durch ideologische Fesseln behindert, so orientierte sich China seitdem am Vorbild der Nachbarstaaten. Auch dort existierten anfangs autoritäre Strukturen, die sich offenkundig als hilfreich erwiesen, die Entwicklung der Volkswirtschaften zu beschleunigen und sich dem Niveau des Westens anzunähern. Noch heute finden sich in ost- und südostasiatischen Staaten Relikte aus jener Phase, sodass deren politische Systeme mit dem Begriff „gelenkte Demokratie“ versehen werden.

Eine eurozentrische Betrachtung neigt dazu, die chinesische Gesellschaft als entwicklungsbedürftig zu charakterisieren. Unterschlagen wird, dass die Zivilisationsgeschichte des Landes auf mehrere Jahrtausende zurückblicken kann. In diesem Zeitraum sind Leitbilder entstanden, die den Alltag und die Politik bis heute prägen: Garantierte Grundversorgung und ein glückliches Leben wiegen mehr als Privateigentum, Luxus und ein Maximum an Freiheit, gesellschaftliche Verantwortung und Konsenswille ersetzen repräsentative Strukturen und Pluralismus. Wenn die chinesische Regierung auf die Kritik an der Menschenrechtslage im Land mit Gegenvorwürfen antwortet, dann kann angenommen werden, dass eine große Mehrheit der Bürger ihre Position teilt.

Die Einschränkung persönlicher Freiheiten in China wird mit dem Primat gesellschaftlicher Interessen begründet, das recht exzessiv ausgelegt wird. Jedoch werden Bürgern auch anderswo die in der UN-Menschenrechtscharta aufgelisteten individuellen Rechte verwehrt. Obwohl sie in westlichen Staaten formell jedem zustehen, entscheidet vielfach die Größe des Geldbeutels über die Möglichkeiten, sie wahrzunehmen. In ärmeren Weltregionen befindet sich das Gros der Bevölkerung in einer nahezu rechtlosen Position, die sich von jener der Chinesen nicht unterscheidet. Wird das ebenso in der UN-Charta enthaltene Postulat eines allgemeinen Zugangs zu Arbeit, Bildung und Grundversorgung betrachtet, dann können auch Kritiker nicht umhin, der chinesischen Führung Verdienste zuzubilligen.

Ein wichtiges Kriterium bei der Beurteilung von Gesellschaftssystemen ist der Zufriedenheitsgrad der Bevölkerung. Dieser liegt in China unvergleichlich höher als in westlichen Staaten. Wie die BBC im Jahr 2012 ermittelte, wurde die staatliche Wirtschaftspolitik von 91 Prozent der Bürger positiv beurteilt, bei nur 43 Prozent in Großbritannien. Die Zahlen dürften sich seitdem nicht merklich verändert haben, zumal der von westlichen Ökonomen mehrfach vorausgesagte Wirtschaftseinbruch nicht stattgefunden hat. Die positiven Resultate der Umfrage mögen zu einem gewissen Teil durch die verbreitete Medienzensur begründet sein, die es ermöglicht, Verhältnisse zu beschönigen und Missstände zu vertuschen. Auf Dauer dürfte es jedoch keiner Regierung gelingen, die Bürger des Landes zu täuschen. Misstrauen und Unzufriedenheit würden sich ausbreiten und die Zuspruchswerte in den Keller drücken.

Sowohl im Westen als auch in China begreifen sich die meisten Bürger als unpolitisch. Trotz größeren Angebots an Nachrichten, Analysen und Meinungen dürfte der westliche Normalbürger daher kaum besser informiert sein als ein chinesischer Medienkonsument. Personen, die politisch interessiert und engagiert sind, fühlen sich von Restriktionen verständlicherweise stärker betroffen. Wenn sie Kritik an chinesischen Verhältnissen üben, dann geraten sie leicht in das Fahrwasser eines Überlegenheitsanspruchs westlicher Werte. Anstatt sich auf die Aussagen oppositioneller Kräfte zu stützen, die ausländischen Einflüssen unterliegen, sollten sie sich mit landesinternen Debatten zur Lokalisierung und Beseitigung von Missständen befassen.

Was in China per Dekret umgesetzt wird, besorgen im Westen vielfach gesellschaftliche Strukturen. Die freie Meinungsäußerung wird tendenziell ausgebremst, wenn sie sich kritisch mit den gesellschaftlichen Verhältnissen befasst. Noch höher werden die Hürden, wenn Bürger zu politischer Umsetzung schreiten.

Historisch begründeter Argwohn

Es ist gegenwärtig nicht erkennbar, dass China von seiner rigiden Position abweicht und etwa alternative Medien zulässt. Dennoch gibt es hoffnungsvolle Entwicklungen. Wie der Rechtsanwalt Rolf Geffken in einem Vortrag über Arbeitskämpfe und Gewerkschaften in China berichtete, werden illegale Streiks in der Privatwirtschaft von der Parteiführung oft wohlwollend quittiert. Vielerorts wurde spontan entstandenen Arbeiterräten später gewerkschaftlicher Status gewährt. Beeindruckt zeigt sich Geffken von einer Regierungskampagne, in der die Belegschaften aufgefordert werden, die ihnen im neuen Arbeitsvertragsgesetz gewährten Rechte aktiv wahrzunehmen.

Trotz solch ermutigender Berichte ist zu konstatieren, dass in China weiterhin individuelle Freiheiten beschnitten und politische Aktivitäten unterbunden werden, sobald gesellschaftliche Machtstrukturen in Frage gestellt werden. Was hält die Staatsführung davon ab, nach der wirtschaftlichen Öffnung die politische voranzutreiben und „mehr Demokratie zu wagen“? Die Konzentration politischer Macht ist angesichts der seit Jahrtausenden währenden Herrschaft unterschiedlicher Despoten offenbar zum Normalzustand avanciert. Die auf der Lehre der „Diktatur des Proletariats“ basierende Führungsrolle der kommunistischen Partei fügt sich gut in diese Tradition ein. Zudem scheint die Geschichte zu lehren, dass bei einer Schwächung der Pekinger Zentrale ein Souveränitätsverlust des Landes droht.

Der Argwohn der Regierenden wurde durch die Ereignisse auf dem Tiananmen-Platz im Jahr 1989 verstärkt. Anlässlich des 30. Jahrestages beschreibt Peter Frey die Hintergründe, die bis in die 60er Jahre zurückreichen. Den USA gelang es während der Präsidentschaft Nixons, die Gegnerschaft Chinas zur Sowjetunion zu nutzen und das Land für den Westen zu öffnen. Seit Beginn der 80er Jahre wandelte sich Chinas Außenpolitik jedoch in eine pragmatische Richtung. Die US-amerikanische China-Politik war fortan von dem Bestreben inspiriert, eine Annäherung an die Sowjetunion zu verhindern.

Zu diesem Zweck wurden die historisch ersten NGOs ins Leben gerufen, die sich auf Gene Sharps Konzept „friedlicher Revolutionen“ und „gewaltfreien Widerstands“ stützten. Frey verweist in diesem Kontext auf eine Äußerung von Allen Weinstein, den Gründungsvater des National Endowment for Democracy (NED): „Vieles von dem, was wir heute tun, wurde vor 25 Jahren verdeckt von der CIA erledigt“. Während der Unruhen im Jahr 1989 begab sich Gene Sharp persönlich nach Peking, wo er führende Oppositionelle traf und sie bei der Koordination der Protestaktionen unterstützte.

Obwohl die gesellschaftlichen Machtstrukturen der Volksrepublik China zu keinem Zeitpunkt ernsthaft bedroht waren, war der Schaden immens. Zum Ärger der poltischen Führung kamen die Aktivisten aus einer Bevölkerungsgruppe, die dazu auserwählt war, künftig verantwortungsvolle Aufgaben in Wirtschaft und Gesellschaft zu übernehmen. Noch gravierender wog der Ansehensverlust im Ausland, der die wirtschaftliche Öffnung erschwerte und die Entwicklung in den Folgejahren beeinträchtigte.

Das China-Bashing wurde seitdem zu einem nicht wegzudenkenden Bestandteil westlicher Medienberichterstattung. Unter Berufung auf NGOs wird der Pekinger Regierung die Unterdrückung ganzer Völkerschaften unterstellt. Dabei wird besonders auf die Uiguren Bezug genommen, die in der strategisch wichtigen Region Nordwestchinas beheimatet sind. Die von Peking durchgeführten Umerziehungsmaßnahmen, die vielerorts mit einer vorübergehenden Internierung einhergehen, sind tatsächlich als fragwürdig anzusehen. Da andererseits ethnischen Minderheiten  weitgehende Sonderrechte gewährt werden, gilt die chinesische Nationalitätenpolitik für den asiatischen Raum als beispielhaft.

Wo Widerstand aufflammt, handelt es sich bei den Führungspersonen oft um Kräfte, die Privilegien verloren haben oder einem traditionellen Gesellschaftsmodell anhängen. Mit Unterstützung westlicher Geheimdienste bemühen sie sich um eine Eskalation von Konflikten, die etwa durch Zuwanderung ethnischer Chinesen oder durch unverhältnismäßige Übergriffe der Ordnungshüter entstehen. Die letzten größeren Unruhen ereigneten sich im Vorfeld der Olympischen Spiele im Jahr 2008, wobei die Opfer nicht Tibeter, sondern wirtschaftlich erfolgreiche Zugewanderte waren. Sie erinnerten an die wiederholten Pogrome gegen die chinesische Minderheit in südostasiatischen Ländern.

Wenn der westliche Applaus für gewalttätige Aktionen Oppositioneller dem Zweck dienen soll, die Durchsetzung fundamentaler Menschenrechte zu beschleunigen, so erreicht er gerade das Gegenteil. Die Vermutung liegt nahe, dass es bei den antichinesischen Kampagnen weniger um die Lage der Menschen geht als vielmehr um die Stigmatisierung eines lästigen globalen Konkurrenten. Faktisch wird den Reformgegnern innerhalb der chinesischen Führung in die Karten gespielt.

Die Unterdrückung kritischer Stimmen mag die Herrschaftsverhältnisse stabilisieren, sie verschüttet aber auch intellektuelles Potential, das für die Entwicklung dienlich wäre. China scheint daher weiter auf Impulse aus dem Ausland angewiesen zu sein, die nicht nur die Wirtschaft, sondern gleichsam gesellschaftliche Werte betreffen. Dabei geht es etwa um Umweltschutz, Technologiekritik, neue soziale Organisationsformen und alternative Forschungsbereiche. Ein etwaiger Argwohn von Führungskadern wird durch das hohe Maß an Interesse und Neugierde wettgemacht, mit dem ausländische Erfahrungen aufgenommen werden.

Entscheidungsstrukturen in China und im Westen

Die Unterschiede zwischen China und dem Westen treten besonders bei einem Vergleich der gesellschaftlichen Entscheidungsstrukturen zutage. In der Regierungstätigkeit westlicher Staaten widerspiegeln sich die Machtverhältnisse unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen, die jeweils eigene Interessen verfolgen. Mehrheiten werden gesucht, Kompromisse angestrebt und vertraglich besiegelt. Freie Meinungsäußerung und ein gewisses Maß an Transparenz sind in diesem Prozess unverzichtbar. Allgemeine Wahlen, Gewaltenteilung und Minderheitenschutz bilden das notwendige Gerüst.

Es wird angenommen, dass sich auf diese Weise der Mehrheitswille bestmöglich durchsetzt. Dagegen betont der Sozialwissenschaftler Ullrich Mies, dass relevante Entscheidungen im Westen hauptsächlich von den gesellschaftlichen Eliten getroffen werden. Innerhalb dieses engen Kreises herrschen tatsächlich Pluralismus und demokratische Prozeduren.

In China sieht die Regierung ihre primäre Aufgabe darin, die Lebensqualität der Bürger zu erhöhen und zu sichern. Die dazu erforderlichen Schritte und Etappen werden jeweils auf Parteitagen vorgestellt. Was als Ausdruck einer breiten demokratischen Willensbildung proklamiert wird, ist in Wahrheit das Werk von Experten aus Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft. Die Herangehensweise ist recht pragmatisch, ideologische Argumentationen haben nach den traumatischen Erfahrungen der Kulturrevolution keine Chance. Die Stimmungen und Erwartungen der Bevölkerung werden eruiert und von den Verfassern der Beschlussvorlagen im Rahmen des wirtschaftlich Vertretbaren berücksichtigt.

Die Überlegenheit des westlichen politischen Systems wird damit begründet, dass Willkür und Korruption weitgehend ausgeschlossen werden. Dies scheinen globale Untersuchungen zu bestätigen, die für die Industrieländer des Westens einen deutlich geringeren Korruptionsgrad feststellen. China befindet sich immerhin im Mittelfeld, es lässt die meisten Staaten Asiens, Afrikas und Lateinamerikas hinter sich. Als Korruption werden allgemein Geld- oder anderweitige Zuwendungen angesehen, die mit dem Ziel getätigt werden, Gegenleistungen zu erhalten. Das im Westen verbreitete Zuschanzen von Jobs an Familienangehörige und Bekannte fällt allgemein nicht darunter, obwohl der finanzielle Nutzen oft um ein Vielfaches größer ist.

Durch Transparenz, pluralistische Strukturen und eine relative Unabhängigkeit der Medien sind in den westlichen Staaten Kontrollmöglichkeiten gegeben, über die China nicht verfügt. Wiederholte Anti-Korruptions-Kampagnen und gelegentliche Schauprozesse dürften keinen vergleichbaren Effekt erzielen. Ein wichtiges Drohmittel sind Jobverlust und damit einhergehende Einkommenseinbußen. Hier dürfte der Westen ebenfalls im Vorteil sein, wenn auch China zunehmend in die Position gelangt, Staatsbediensteten ordentliche Gehälter zu zahlen.

Für die chinesische Seite spricht hingegen der gesellschaftlich-moralische Druck, dem die Bürger stärker unterliegen als etwa in den USA. Werden Verantwortliche in der Pekinger Führung oder in lokalen Behörden der Korruption verdächtigt, dann nehmen westliche Beobachter implizit an, dass die Mittel für ein luxuriöses Leben verwendet werden. In China gilt jedoch die Zur-Schau-Stellung von persönlichem Reichtum in einem armen Umfeld als moralisch verwerflich. Die Autorität staatlicher Repräsentanten würde erheblich leiden, es käme zu Unzufriedenheitsbekundungen. Dies nachzuvollziehen dürfte Vertretern der älteren Generation nicht schwerfallen, da Werte wie Genügsamkeit, Verantwortungsgefühl und Gerechtigkeitsempfinden das Leben in großen Teilen Europas prägten, bevor sie im Zuge der neoliberalen Wende sukzessive verdrängt wurden.

Hier gehts zum Teil 2 >>>

Erstveröffentlichung auf dem Heise-Portal „Telepolis“

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