Wankt das „System Putin“?

Wankt das „System Putin“?

[von Roland Bathon] In Moskau gingen aktuell, wenn man oppositionsnahen Quellen glaubt, bis zu 50.000 Menschen auf die Straße. Die Unzufriedenheit der Beteiligten mit der russischen Regierung geht tatsächlich tiefer als der oberflächliche Anlass – der Ausschluss von Kandidaten zur kommenden Kommunalwahl. Doch wankt wegen der aktuellen Aktionen bereits das gesamte „System Putin“, wie in Veröffentlichungen der dpa und wichtiger deutscher Medien zu lesen ist? Oder ist das Wunschdenken? Und wer wünscht sich das aus welchem Grund?

Unzufriedenheit ist berechtigt

Grund zur Unzufriedenheit gibt es nicht nur in Moskau genug, sondern in ganz Russland. Unterhalb des Aushängeschilds Putin hat sich in Staat und Gesellschaft eine Funktionärsschicht breit gemacht, die die wachsende Stabilität der 00er Jahre schon längst schleichend in eine Stagnation und Verkrustung der 2010er Jahre verwandelt hat, gegen die gerade jüngere Russen aufbegehren.

Hierbei darf man nicht vergessen: Durchschnittliche Russen haben sehr selten direkt mit dem weiterhin recht populären Präsidenten zu tun – anders als deutsche Nachrichtenzuschauer – , sondern vielmehr mit dem unteren und mittleren Funktionärskörper. Dieser rekrutiert sich schon seit Jahrzehnten aus den an das System Angepassten. Und das sind nicht unbedingt immer die Fähigsten – und nie die Reformfreudigsten. Es sind die, die mithelfen, Zustände zu zementieren, um die eigene Macht zu schützen. Ob diese Zustände nun gut oder schlecht sind. So kam es zur selbst nach Ansicht der Kreml-Oberen überzogenen Verhaftung des Journalisten Golunow, der aktiv gegen Korruption auf dieser Ebene ermittelte und damit gegen die negativen Erscheinungen dieses Systems.

Auch Putin selbst gibt hier in den letzten Jahren wenig neue Impulse, ganz anders als in den frühen Zeiten seiner Regierung, als er etwa die politisch außer Rand und Band geratenen Oligarchen wegfegte und ihren Einfluss zurechtstutzte. Dieser erstreckte sich damals bis hin in die oberste Politik, wo Chodorkowski, wenn Putin ihn gelassen hätte, einen kapitalistischen Ausverkauf russischer Interessen an den Westen betrieben hätte. Heute betätigt sich Putin jedoch in seinen Reden weniger als Reformer, sondern eher als Bewahrer eines nationalen Konservativismus, der in Russland Dinge zementieren will, die ohnehin schon in Stein gemeißelt scheinen, und gegen den eine Jugend, die eine viel fortschrittlichere Einstellung hat, aufbegehrt.

Protestwellen enden nicht in Veränderungen

Die Korruption ist dabei im festgefügten Machtapparat ein entscheidender Faktor. Das regt viele Russen auf, die darunter im Alltag leiden, denn Korruption fängt in der Behörde um die Ecke an. So wundert es nicht, dass der Populist Nawalny, als er zu Antikorruptionsprotesten aufforderte, hier vor gar nicht zu langer Zeit ein landesweites, heftiges Echo unter den jüngeren Unzufriedenen erntete. Die Russen gingen nicht nur in Moskau, sondern auch in Sankt Petersburg, Jekaterinburg, Nowosibirsk und vielen anderen Städten auf die Straße. Doch nun kommen wir zu einem entscheidenden Faktor: Diese große Protestwelle – obwohl russisches Problemthema Nummer eins, bei dem auch Putins Premier Medwedjew keine gute Figur macht – verpuffte komplett. Die Lage beruhigte sich wieder und nichts schien davon übrig. Ohne, dass es zu einer einschneidenden Änderung im Machgefüge kam. Gleiches geschah nach umfassenden Sozialprotesten infolge der von fast allen Russen ungeliebten Rentenreform – die dennoch durchgesetzt wird. Und auch diese Proteste waren größer und landesweiter als die aktuellen.

Warum soll nun ausgerechnet durch die aktuelle Protestwelle die neue russische Revolution ausbrechen, die uns die deutschen Leitmedien für die unmittelbare Zukunft erneut vorhersagt? Viele führende oppositionelle Köpfe glauben nicht an sie. Wie etwa der linke Politologe Boris Kargalizky, der selbst zu den Demonstrationen mit aufruft, aber  dennoch meint, Putin selbst tangiere diese aktuelle Protestwelle in Moskau nicht. Eine weitaus größere Anzahl an Demonstranten wäre notwendig, damit sich die Mächtigen im Kreml überhaupt Gedanken darüber machen würden. Die aktuelle Protestwelle gefährde Putin in keiner Weise. Obwohl nach seiner Auffassung die Unzufriedenen in Russland schon die Mehrheit ausmachen.

Auch die traditionsreiche liberale Partei Jabloko steht dem verbotenen Teil der Proteste kritisch gegenüber, da er der Protestbewegung bei vielen Russen – im Gegensatz zu westlichen Journalisten – keine Sympathien verschafft. Nicht jeder findet Verhaftungen cool. Wie dem auch sei: Landesweit springt der Funken – anders als beim Antikorruptionsprotest – kaum über. Gerade wenige hundert oder gar nur ein paar dutzend Menschen gingen an diesem Wochenende in anderen russischen Metropolen auf die Straße, als man zur Solidaritätskundgebung mit Moskau aufrief. Die liberale Avantgarde, die man so oft in die Mikrofone von ARD oder ZDF sprechen hört, ist vom Durchschnittsrussen noch weit entfernt. Auch wenn dieser mit seiner Regierung heute unzufriedener ist als vor zwei Jahren.

Warum Oppositionelle an bevorstehende Umstürze glauben

So ist landesweit gesehen die Aufregung über die Demonstrationen wegen ausgeschlossener Kommunalwahlkandidaten mit Sicherheit gering. Warum glauben dann manche jugendlichen Protestierer an der Basis, und auch westliche Journalisten, an die jetzt kommende große Umwälzung angesichts der aktuellen Demos?

Bei den jungen Protestierern ist das recht einfach zu erklären. Groß ist die Macht, die man spürt, wenn man auf der Straße mit 20.000 oder 50.000 Gleichgesinnten einen mächtigen Demonstrationszug bildet. Auch im eigenen Freundeskreis überwiegen unter Großstadt-Jugendlichen und jungen Erwachsenen die Unzufriedenen, die nun eher bereit sind, gegen das System aktiv aufzubegehren, es vielleicht sogar mit Freude zu provozieren und nach der Verhaftung aus dem Polizeiauto Selfies in den sozialen Netzwerke zu verbreiten. Hinein in ein Milieu, in dem die Beteiligung an einer solchen Aktion zu den Statussymbolen gehört. Auch Künstler unterstützen vermehrt die Protestierer. Als die Regierung der letzten verbotenen Demo mit einem zeitgleichen riesigen Kulturfest im Gorki-Park den Wind aus den Segeln nehmen wollte, verweigerten mehrere Bands dort einen Auftritt. Kritische politische Anmerkungen von Künstlern werden in jüngster Zeit ebenfalls häufiger.

Wie leicht vergisst man dabei aber den Rest von Russland. Millionen Moskauer, die in ihrer überwältigenden Mehrheit gar nicht daran denken, aus Protest auf die Straße zu gehen. Für die eine Verhaftung kein Statussymbol ist, sondern ein Makel. Ebenso die Gesamtheit der Russen, von denen nach aktuellen Umfragen nicht nur über 60 Prozent Putin unterstützen, sondern sogar über 40 Prozent die unter ihm stehende (mit Ausnahme von Lawrow und Schoigu) farblose Regierung. Ein Wert, der wesentlich über der Zustimmung zur „Großen Koalition“ in Deutschland liegt. Und der Rest ist mitnichten eine homogene, protestbereite Masse, sondern besteht überwiegend aus Menschen, die die Unzufriedenheit oder das Desinteresse ins Private getrieben hat, in die Welt jenseits der Politik, in der sich viele unzufriedene Deutsche ebenfalls befinden. Menschen, die von einer anderen Bewegung abgeholt werden müssten, um ihr Land zu ändern, als von einer, die sich darin gefällt, möglichst stark zu provozieren. Auch wenn sie zu erkennen beginnen, dass die Dauermacht des aktuellen Establishments trotz der entstandenen Stabilität mehr Nachteile für das Land und ihr Leben bringt. Deswegen beteiligen sich diese Gruppen verstärkt bei den genehmigten Demonstrationen – aber eben nicht bei dem, was deutsche Journalisten am liebsten filmen.

Warum Journalisten bevorstehende Umstürze verkünden

Bei den westlichen Journalisten und Politiker ist der Drang zur ständigen Verkündung der Putin-Dämmerung, die dennoch nicht kommen will, schwer zu erklären. Immerhin handelt es sich hier um politisch gebildete Menschen, die es besser wissen müssten als junge Idealisten. Wollen sie ihre Vorstellung von Demokratie missionarisch und krampfhaft nach Russland exportieren oder handeln sie, wie viele Russlandfreunde vermuten, gar aus niedrigen Motiven – nämlich der Schwächung Russlands als geopolitischem Konkurrenten zur westlichen Hegemonie?

Hier sollte man anschauen, wie der Westen bisher mit demokratischeren, aber dennoch nicht auf eigener Linie befindlichen, Regierungen umgegangen ist, wo die Motivation der „Verbesserung der Welt“ nicht gegeben war. Dieser Blick erschreckt, denn solche Regierungen werden ebenso erpresst und notfalls ausgetauscht, so dass sie auf Linie von NATO, EU und USA „funktionieren“. Hier muss man nicht weit in die Vergangenheit schauen, etwa zu CIA-initiierten Stürzen gewählter lateinamerikanischer Präsidenten.

Auch der aktuelle ukrainische Hoffnungsträger Selenski genießt nicht die Unterstützung der westlichen Medien und Politiker bei seinem Kampf gegen die verkrusteten Oligarchen-Strukturen im eigenen Land. ARD, Spiegel und Co. berichteten bis zu seiner Wahl vielmehr zugunsten des Oligarchen Poroschenko, obwohl er für die Ukrainer stärker den Inbegriff verkrusteter Strukturen verkörperte als für die Russen Putin. Deshalb wurde Poroschenko mit einem historisch schlechten Ergebnis aus dem Amt gefegt.

Auch wissen die Russen aus den 90er Jahren, als die Demokratie in Russland außer Frage stand, dass der Westen das Land damals nicht etwa stärkte, sondern nur zur Profitmaximierung ausbeutete. Kaum konnten die Russen wieder eine eigene außenpolitische Linie ihrer Regierung verfolgen, kippte die westliche Berichterstattung – der „böse Russe“ wurde wiederbelebt.

Umgekehrt fällt die Medienkritik an Regimes wie Saudi-Arabien, die ihre Wurzeln im Mittelalter haben, aber schön auf West-Kurs sind, wesentlich leiser und dezenter aus. Man versucht sogar Selbstverständlichkeiten etwas Positives abzugewinnen, wie etwa dass dort Frauen jetzt Auto fahren dürfen. Darüber wird dann mehr berichtet als über die letzte Hinrichtung oder eine Frauendiskriminierung, die es so in „bösen“ Staaten wie Russland oder China in keinem vergleichbaren Ausmaß gibt.

So geht es offenbar nicht um demokratische Erneuerung, wenn Journalisten deutschsprachiger Leitmedien für oder gegen eine russische Regierung berichten, sondern eher um die Interessen des eigenen transatlantischen Machtblocks. Die russischen Liberalen täten gut daran, sich vor diesen Freunden zu hüten, die nur so lange Freunde bleiben, solange sie in der liberalen Bewegung eine Chance auf westliche Machtsteigerung oder russische Schwächung sehen. Denn auch ein Präsident Nawalny wäre bei ARD und ZDF ganz schnell ein Böser, wenn er sich westlichen Macht- und Wirtschaftsinteressen nicht unterordnen würde. Oder seine idealistischen Anhänger, die aktuell diese Medien gerne mit passenden Statements versorgen.

Was Russland statt einem Wanken braucht

Unabhängig vom Willen dieser deutschen Leitmedien wankt das System Putin aktuell, und wohl auch in den nächsten Jahren, noch nicht. Es ist von der Zustimmung der Bevölkerung noch besser getragen als das derer, die es von außen stürzen wollen. Besser als eine steigende Eskalation wäre für Russland, wenn es durch echte Reformen unter Leitung klügerer Köpfe als großer Teile des bestehenden Machtapparats eine längerfristige, aber nicht eine Revolutionsparteien Veränderung gäbe. Köpfe, die von der breiten russischen Bevölkerung – oder ihrer fortschrittlicheren Hälfte – akzeptiert werden.

Boris Kargalizky fordert hierzu eine neue Bewegung. Führungspersonen einer solchen Bewegung müssen sich aus der aktuellen russischen Jugend rekrutieren. Nicht aus denen, die sich am besten mit der provokantesten Oppositionsaktion in sozialen Netzen brüsten und nicht aus denen, die im aktuellen Apparat angepasst mitschwimmen. Die Konzentration auf diese Extreme, die in den Medien am liebsten dargestellt werden, trübt den Blick auf Wichtigeres: Auf fähige Köpfe zwischen diesen Polen, die in Russland ebenso wie in jedem anderen Land heranwachsen. Köpfe, die schon erkennen, dass die Stagnation ebenso wenig guttut wie ein gewaltsamer Umsturz und sich für einen dritten Weg zusammenfinden. Das müssen keine Superhelden sein, nur Menschen, die von vielen gleichzeitig als fortschrittlich und vertrauenswürdig akzeptiert werden. Ein Umsturz im Chaos würde nur anderen geopolitischen Playern nutzen, die die die entstehende Schwäche Russlands ebenso rücksichtslos ausbeuten würden, wie sie das in den 90er Jahren getan haben. Er sollte für kluge russische Oppositionelle nur der letzte aller möglichen Wege sein. Und der klügste Oppositionelle muss nicht immer der radikalste sein.

Russlands Mächtige wiederum täten gut daran, wenn sie auf die Unzufriedenheit ihrer Großstadt-Jugend nicht mit Härte reagieren, sondern darüber nachdenken würden, was im Land falsch läuft. Wenn sie, statt die Stagnation weiter zu fördern, fähige neue Köpfe mit frischen Ideen eine Chance geben würden. Auch wenn sie nicht anschmiegsam zu allem ja sagen, was von oben kommt, als sei man noch in der Sowjetunion. Denn die Stagnation, Verkrustung und einen Ultra-Konservativismus zu stützen führt nur dazu, dass sich auch größere Teile der Jungen vom System abwenden werden. Dann kann langfristig der Druck unter dem Deckel irgendwann wirklich so groß werden, dass Russland erneut explodiert. Doch das ist nur eine denkbare Perspektive für eine fernere Zukunft, wenn es noch einige Jahre verkrustet weitergeht. Aushängeschild Putin wird nicht ewig regieren können. Im Interesse des Landes wäre die Explosion allerdings nicht und das ist eine Sache, die man in der Tat nicht aus den deutschen Medien erfährt. Ebenso wenig wie die Tatsache, dass es in den nächsten Jahren nicht dazu kommt. Wer durch den Genuss von ARD oder der dpa denkt, für die Normalbevölkerung wäre sofortiger Umsturz in Russland wünschenswert, sollte sich den Lebensstandard der Durchschnittsrussen nach den letzten beiden Ereignissen dieser Art 1917 und 1990 anschauen – die dort ebenfalls nicht vergessen sind. Oder den eines durchschnittlichen Ukrainers im Jahr fünf nach dem Euromaidan.

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