Volkszählung in Russland: erfolgreich durchgeführt oder gescheitert?©russland.NEWS

Volkszählung in Russland: erfolgreich durchgeführt oder gescheitert?

Vom 15. Oktober bis zum 14. November fand in Russland die Volkszählung statt. Dabei wurden mehr als 50 Millionen Haushalte befragt. Die Daten wurden von Volkszählern, dem Portal der staatlichen Dienste Gosuslugi, militärischen Einheiten, Gefängnissen und aus Verwaltungsdaten gewonnen. Die ersten Daten über die Einwohnerzahl Russlands sollen Ende Januar und die vollständigen Ergebnisse Ende 2022 veröffentlicht werden.

Die allerersten vorläufigen Daten liegen bereits vor. Seit der letzten Volkszählung ist die Bevölkerung in der Region Moskau zum Beispiel um 3,1 Millionen Menschen gewachsen. Im Jahr 2010 waren es 7,7 Millionen Menschen, und jetzt sind es fast 11 Millionen.

In einem Interview mit dem Radiosender Echo Moskwy sprach Wladimir Sorin, Vorsitzender der Kommission der Volkskammer für die Harmonisierung der interethnischen und interreligiösen Beziehungen, über die Bedeutung der Volkszählung: „Es ist für jeden Teilnehmer sehr wichtig, dass unsere ethnisch-kulturellen Bedürfnisse in der Zukunft und heute berücksichtigt wurden. Dazu gehören die Sprache, die Schulbücher, die Lehrer, das Nationaltheater, die Nationalliteratur und so weiter. Durch die Teilnahme an der Volkszählung, durch die Beantwortung aller Fragen stellen wir unser Bild in einem gemeinsamen Bild des multinationalen Volkes der Russischen Föderation dar, wir bitten um die Berücksichtigung unserer Interessen und der Interessen unserer Kinder und Enkelkinder für die Zukunft“.

Laut Pawel Malkow, dem Leiter vom Amt für Statistik Rosstat, „zeichnete sich die Volkszählung dadurch aus, dass sie unter genauer öffentlicher Beobachtung und Kontrolle durchgeführt wurde“. Die Online-Volkszählung war erfolgreich, wobei mehrere DDoS-Angriffe auf das staatliche Dienstleistungsportal Gosuslugi die Nutzer nicht beeinträchtigten.

Fast dreitausend Volkszähler erkrankten aufgrund der vielen menschlichen Kontakte an dem Coronavirus. Sie erhalten Versicherungsleistungen sowie ihr Gehalt für die geleistete Arbeit.

Pawel Smelow, stellvertretender Leiter von Rosstat, erklärte gegenüber der Zeitung Kommersant, dass „mehr als 100 Prozent“ der Russen an der landesweiten Volkszählung teilgenommen haben. Diese Zahl ist nicht paradox: Die Daten stammen aus vier Quellen und werden mit der geschätzten Zahl der Menschen am 1. August 2021 verglichen. Dies sind die so genannten „noch zu verarbeitenden Rohdaten“. So ist zum Beispiel die Duplizierung von Volkszählungsfragebögen ein weit verbreitetes Phänomen. Jemand meldete sich bei einem Volkszähler an, änderte dann seine Meinung und nahm über Gosuslugi an der Zählung teil.

Laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstitut WZIOM vom Oktober dieses Jahres haben 85 Prozent der Russen die Absicht geäußert, an der Volkszählung teilzunehmen, so dass das Endergebnis aus Sicht des Kremls und des loyalen Teils der Gesellschaft durchaus akzeptabel sein dürfte.

Viele Experten bezweifeln jedoch, dass die Zählung erfolgreich war. So hatten viele Russen Angst, sich dafür beim Gosuslugi-Portal anzumelden, da sie befürchteten, ihre Daten weiterzugeben. Viele Menschen schreiben in russischen sozialen Netzwerken, dass sie auf die Volkszähler gewartet haben, aber niemand kam. Es gibt auch Hinweise darauf, dass die Russen mit ihrer Weigerung, an der Volkszählung teilzunehmen, einen stillen Protest gegen die Politik des Staates zum Ausdruck bringen wollten.

Die Volkszählung ist die Grundlage, auf der Soziologen, Politikwissenschaftler, Anthropologen, Demographen und Kulturwissenschaftler „ein Bild der Realität zeichnen“, sagt die bekannte russische Politikwissenschaftlerin Ekaterina Schulmann. „Diejenigen, die aus ihrer Dissidenten-Einstellung heraus meinen, dem Staat sozusagen heimlich einen Stinkefinger zu zeigen, entziehen uns natürlich die Grundlage, mit der wir dann arbeiten werden. Aber ich verstehe diese Menschen. Ihr Misstrauen gegenüber den politischen Institutionen ist extrem hoch. Dieses Vertrauen ist seit mehreren Jahren in Folge rückläufig. Geringes Vertrauen ist unser gesellschaftlicher Fluch. Die Menschen trauen dem Staat nicht, sie fürchten, er könnte sie zählen und dann mit Bußgeldern, Steuern und allgemeiner Überwachung belegen und ihre Freiheiten irgendwie einschränken“, so Schulmann.

Außerdem war der Zeitpunkt der Volkszählung ungünstig gewählt, denn die Covid-19 Situation in Russland ist äußerst dramatisch. Ursprünglich sollte sie im Jahr 2020 stattfinden, wurde aber wegen der Pandemie verschoben.

[hrsg/russland.NEWS]

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