Uniformen statt Kremltürme: Neujahrsansprache des russischen Präsidenten

Uniformen statt Kremltürme: Neujahrsansprache des russischen Präsidenten

Im Grunde ist die Neujahrsansprache ein Ritual, das die Obrigkeit und die Menschen miteinander verbindet. Gesellschaftliche Rituale wie Silvester sollen positive kollektive Emotionen hervorrufen und durch „Rückkopplung“ eine Art rituellen Geschenkaustausch vollziehen.

Man „schenkt“ seine Loyalität, indem man das Radio/Fernsehen einschaltet, der Ansprache lauscht und das Glas erhebt, während der Herrscher am Silvesterabend buchstäblich alle Menschen im jeweiligen Lande anspricht, Feedback gibt und darüber berichtet, was im Laufe des Jahres geschehen ist. Die Neujahrsansprache des Herrschers ist seine „Hommage“ an die Bürger.

Viele denken an eine alte Tradition, aber sie wurde erst vor 100 Jahren in Großbritannien erfunden. Der Gründer und erste Generaldirektor der BBC, John Reith, schlug König Georg V. vor, zu Weihnachten 1922 eine Radioansprache an die Nation zu halten. Der Monarch lehnte dies ab, weil er der Meinung war, das Radio diene nur der Unterhaltung und der politischen Agitation.

Zehn Jahre später änderte George jedoch seine Meinung. Im Jahr 1932, wenige Stunden vor Weihnachten, ging er live auf Sendung. Der Text der Rede ­– insgesamt 251 Wörter – wurde von dem britischen Schriftsteller und Dichter Rudyard Kipling verfasst. Die Ansprache löste weltweit ein großes Echo hervor und wurde ab 1957 nicht nur im Radio, sondern auch im Fernsehen ausgestrahlt.

Führende Politiker in anderen Ländern übernahmen den Brauch schnell, wobei viele ihn von Weihnachten auf den Neujahrstag verlegten – offenbar, um seinen säkularen Charakter zu betonen. In Deutschland zum Beispiel hielt seit 1949 der Bundespräsident (Staatsoberhaupt) die Weihnachtsansprache und der Bundeskanzler (Regierungschef) die Neujahrsansprache.

In Russland konnte sich die Neujahrsansprache erst mit Verzögerung durchsetzen, da das neue Jahr in der damaligen Sowjetunion zunächst gar nicht gefeiert wurde: Weihnachtsbaum, Geschenke und Väterchen Frost waren zu sehr mit vorrevolutionären Weihnachtstraditionen verbunden.

Der Feiertag wurde 1936 ‚rehabilitiert‘, als die Prawda am 1. Januar ein Bild von Josef Stalin mit einem Gruß veröffentlichte: „Frohes neues Jahr, Genossen! Glückliche neue Siege unter dem Banner von Lenin-Stalin!“ Am 31. Dezember 1941 hielt Michail Kalinin, das damalige offizielle Staatsoberhaupt der Sowjetunion, im Radio seine erste Neujahrsansprache an die Nation. Weitere Ansprachen wurden jedoch nicht regelmäßig durchgeführt. Leonid Breschnew begründete die Tradition von im Fernsehen und im Radio übertragenen Neujahrsansprachen – seine erste hielt er am 31. Dezember 1969.

Michail Gorbatschow war der einzige sowjetische Kremlchef, der jedes Jahr eine Neujahrsansprache hielt. In Erinnerung wird die Fernsehansprache vom Neujahrstag 1987 bleiben, als der amerikanischen Präsident Ronald Reagan den Sowjetbürgern und Gorbatschow den Amerikanern gratulierte und den Menschen in den USA mit Nachdruck zurief: „Es wird keinen Atomkrieg geben“. Vielleicht die beste aller Neujahrsbotschaften, die sich angesichts heutiger Zustände wie eine verspielte Träumerei aus längst vergangenen Zeiten anhört.

Unter Boris Jelzin gingen die Spielereien weiter. Am Neujahrstag 1992 – wenige Tage nach dem Ende der UdSSR – hörten die Russen eine Rede des Komikers Michail Sadornow. In den folgenden Jahren wurde Jelzin auf verschiedenen Fernsehkanälen immer wieder durch Stars wie Alla Pugatschewa und Sofia Rotaru ersetzt. Am Silvesterabend 1999 wurde auf dem (damals oppositionellen) Fernsehsender NTV eine Puppe des Präsidenten aus einem satirischen Programm gezeigt. Ein Jahr später gab Jelzin seinen Rücktritt bekannt und stellte in einer Neujahrsansprache Wladimir Putin als seinen Nachfolger vor.

Unter Putin waren die Spiele vorbei. An jedem Silvesterabend, den er als Präsident begrüßte, hielt er eine Fernsehansprache, und kein Sender hatte ihn jemals durch einen anderen als Dmitri Medwedew ersetzt.

Während der letzten Amtszeit von Wladimir Putin waren die Rituale der „Rückkopplung“ am 31. Dezember fast immer unpolitisch. Der Präsident sprach über Glück, Gesundheit und erneut über das Glück der Familie. Das heißt, dass in diesen Ansprachen nicht von politischer Loyalität die Rede war (und wenn politische Loyalität angesprochen wurde, dann nur am Rande), und dass die Rückkopplung auf Kosten universeller Werte hergestellt wurde: Glück und Gesundheit der Familie sind uns allen wichtig.

Am 31. Dezember 2022 hat sich das Ritual der Rückmeldung geändert. Der Präsident spricht vor grünem Hintergrund, aber leider keinem Weihnachtsbaum, sondern vor Militäruniformen. Und er spricht hauptsächlich über den Krieg. Putins Rede steht rhetorisch in der Nähe von Stalins berühmter Rede von 1941 „Brüder und Schwestern…“. Sie ist wie folgt aufgebaut:

  1. Ich danke euch, Brüder und Schwestern, dass ihr in den Krieg zieht.
  2. Vielen Dank, liebe Menschen in Russland, für die Unterstützung und Hilfe.
  3. Der Westen hat uns (und das friedliche ukrainische Volk) betrogen und wird dies auch weiterhin tun.
  4. Wir müssen uns vereinigen!

Niemand weiss, ob es eine weitere Welle der militärischen Mobilisierung in Russland geben wird, aber das Feedback des Präsidenten am 31. Dezember 2022 fordert mit Sicherheit zumindest eine totale ideologische Mobilisierung.

Die Neujahrsansprache des russischen Präsidenten ist traditionell eine der meistgesehenen Sendungen im Fernsehen. Diese Bewertung ist jedoch seit 2019 rückläufig.

[hrsg/russland.NEWS]

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