Unbekanntes Europa an der Grenze zu RusslandAbchasien

Unbekanntes Europa an der Grenze zu Russland

[Von Wolfgang Matzke und David X. Noack] Eine Reise nach Abchasien lohnt sich immer wieder. Das kleine, mehrheitlich christliche Kaukasusland – gelegen zwischen dem Schwarzen Meer, Georgien und Russland – hat viel zu bieten. Das reicht von Gastfreundschaft und sehr gutem Essen über beeindruckende Naturlandschaften bis hin zu Wein und Chacha – dem „abchasischen
Grappa“ – für diejenigen, die das interessiert. Das Sich-vor-Ort-Umsehen eröffnet auch viele Möglichkeiten des Blicks hinter die Kulissen, die einem bei vielen Artikeln im deutschen Blätterwald bedauerlicherweise verwehrt bleiben. Viele Mitglieder der schreibenden Zunft in unserem Land beschreiben das Gebiet als „russisch besetzt“, eigentlich zu Georgien gehörig oder gar als Marionette des „großen Nachbarn“ Russlands. In Abchasien selbst ist davon wenig zu sehen. Bei der standardmäßigen Einreise über die russische Grenze sieht man die letzten russischen Sicherheitsbeamten bei der Grenzabfertigung – danach gibt es nur noch abchasische Polizisten und Soldaten. Russland hilft zwar bei der Grenzsicherung zu Georgien und unterhält an zwei Orten im Land große Militärbasen, doch als einfacher Reisender merkt man davon nichts.

Das ständige Gerede von der angeblich russischen Marionette versperrt den Blick auf die lokalen Realitäten. Abchasien hat eine eigene politische Landschaft, die schwer vergleichbar ist mit allen anderen post-sowjetischen Staaten, da Parteien beispielsweise nur eine untergeordnete Rolle spielen und es außerordentlich wichtige soziokulturelle Organisationen gibt, wie zum Beispiel die Veteranenorganisation des Unabhängigkeitskrieges 1992/1993. Hinzu kommt eine eigene Medienlandschaft inklusive abchasischen Fernsehsendern, Radiostationen und Zeitungen, in denen Kritik an der Innen- und Außenpolitik des Landes auf der Tagesordnung stehen. Auf dem „Freiheitsindex“ der US-Denkfabrik „Freedom House“ erreicht das Land im Jahr 2019 ein fast doppelt so gutes Ergebnis wie Russland selbst und gilt als „teilweise frei“.

Bei Reisen durch das international kaum anerkannte Land fallen in allen Städten die omnipräsenten Wiederaufbauarbeiten auf. Hotels, Restaurants, Fabriken und andere Gebäude werden wiederhergerichtet oder neu errichtet. Auch Schulen, Polizeistationen, Feuerwehren und MTschS – in etwa das Pendant zum deutschen Technischen Hilfswerk – sind meist bereits in einem guten bis sehr guten Zustand. Doch bei der weiteren öffentlichen Infrastruktur, vor allem Straßen und Regierungsgebäuden, stockt die Instandsetzung. Dafür fehlt das Geld und das liegt daran, dass Investitionen aus dem Ausland verhältnismäßig wenig fließen.

Bis heute sind die Spuren der verheerenden 1990er Jahre noch nicht beseitigt. Nachdem sich das Land von Georgien losgesagt hatte und auch ein georgischer Waffengang 1992/1993 daran nichts änderte, verhängte die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) ein Totalembargo – lediglich die Regierung von Belarus wandte sich damals dagegen. In Moskau stimmte man den harschen Maßnahmen zu, da im Gegenzug die Zentralregierung in Tiflis die Grenze zum von Russland abtrünnigen Tschetschenien abschnürte. Abchasien wurde damit zum Opfer geopolitischer Auseinandersetzungen im postsowjetischen Raum, mit denen das kleine Land selbst gar nichts zu tun hatte.[] Während des GUS-Embargos blieb die einzige Einnahmequelle für die politischen Eliten der Schmuggel – unter anderem der eigenen Industrieanlagen ins Ausland. Viele Bauern konzentrierten sich einzig und allein auf den Eigenbedarf. Erst im Jahr 2008 hat Russland die GUS-Sanktionen einseitig aufgehoben. Aus der Zeit der 1990er Jahre und aufgrund der Geschichte[] dominiert die abchasische Politik ein starkes Gefühl der Eigenständigkeit – auch gegenüber Moskau.

Seit knapp 10 Jahren läuft nun der Wiederaufbau in Abchasien. Immer wieder sieht man sogar Gastarbeiter aus Zentralasien auf den Baustellen, da der Lohn in der Schwarzmeerrepublik höher ist als in Ländern wie Tadschikistan und Kirgisistan. Während einige private Investoren das nötige Geld auftreiben für die Instandsetzung und Neuerrichtung von Hotels und anderen touristischen Gewerben, fehlt es dem Staat jedoch weiterhin an Zoll- und Steuereinnahmen.

Der gesteigerte Handel mit Bulgarien, Rumänien und Griechenland in den vergangenen Jahren konnte daran auch nichts ändern. Bereits seit langer Zeit ist – trotz fehlender Anerkennung – die Türkei der zweitgrößte Handelspartner Abchasiens. Laut der in Brüssel ansässigen Denkfabrik „International Crisis Group“ baute Abchasien seit Beginn der umfassenden Sanktionen gegen Russland im Jahr 2014 den Handel mit diversen EU-Staaten aus. Eine realistischere Haltung der EU zum Abchasienkonflikt folgte daraus bis heute nicht. Bis in die Gegenwart halten sich die EU-Staaten offiziell an die offizielle georgische Sichtweise. Abchasier haben dementsprechend auch immer wieder Probleme bei der Einreise in die EU. All das hilft nicht bei der Aussöhnung vor Ort.

Während EU-Politiker weiterhin starr an ihrer Blockadehaltung festhalten, steigt der Einfluss Chinas vor Ort. Zuletzt hielt sich Mitte November eine chinesische Delegation in Abchasien auf und diskutierte mit offiziellen Vertretern die Errichtung einer Handy-Fabrik in einer zu schaffenden Sonderwirtschaftszone. Der Einfluss der EU auf die Lage vor Ort wird damit perspektivisch immer kleiner.

 

[] Ganz im Gegenteil kämpften Tschetschenen prominent auf abchasischer Seite gegen Georgien. Nach heutiger im Westen weit verbreiteter Lesart also auf der „pro-russischen Seite“, was nur beweist, wie beschränkt diese Sichtweise ist.

[] Im Jahr 1864 endeten Jahrzehnte brutaler Auseinandersetzungen im Kaukasus. Das Russische Zarenreich hatte das Gebiet endgültig erobert. In Abchasien lebte nur noch weniger als die Hälfte der vormaligen Einwohner. Die Parlamente Abchasiens und Georgiens haben die staatliche russische Repression 1997 und 2011 als Völkermord anerkannt. Seit dem Exodus von vielen Abchasen damals leben große abchasische Communitys in Jordanien, Syrien, dem Libanon und der Türkei.

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