Tichanowskaja: Opposition hat die Straße verloren

Tichanowskaja: Opposition hat die Straße verloren

Die belarussische Opposition hat „die Straße verloren“ und kann nicht gegen die Regierung kämpfen, sagte Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja. Die Aktivisten, die in den Untergrund gegangen sind, hoffen zwar, die Strafverfolgungsbehörden auf ihre Seite zu ziehen, das sei jedoch wahrscheinlich aussichtslos, denn diese Beamten wollen nicht das Schicksal der ukrainischen „Berkut“ im Falle eines Staatsstreichs erleben.

Die belarussische Opposition habe bei den Straßenprotesten verloren, weil ihr „die Mittel zum Kampf fehlen“, sagte sie in einem Interview mit der Schweizer Zeitung Le Temps. Die belarussischen Strafverfolgungsbehörden „haben Waffen, und haben die Macht, also im Moment – ja, wie es scheint, haben wir verloren“. Jedoch würde die Opposition „Strukturen für den morgigen Kampf“ aufbauen, um „ständigen Druck auf das Regime auszuüben – bis zu dem Moment, wenn die Menschen bereit sind, wieder auf die Straße zu gehen, vielleicht im Frühjahr.“

„Die Rückkehr zur Demokratie wird länger dauern als geplant… In Belarus wollen die Menschen Licht am Ende des Tunnels sehen, an den Tag denken, an dem alles gut sein wird. Da sie mit einer schnellen Lösung gerechnet haben, hoffen sie jetzt auf einen fantastischen Plan, einen Messias, der ihnen sagt: ‚Morgen gehen wir raus und übermorgen geht Lukaschenko‘. Allerdings gibt es keinen solchen Plan, niemand kann vorhersehen, was passieren wird“, gab Tichanowskaja zu.

Im vergangenen August, unmittelbar nach der Präsidentschaftswahl, die Lukaschenko angeblich mit 81 Prozent gewann, brachen Massenproteste im Land aus. Tichanowskaja verließ das Land, appellierte aus dem Ausland an die Demonstranten und traf sich mit europäischen Politikern. Der litauische Präsident gab Tichanowskaja politisches Asyl und schlug sie für den Friedensnobelpreis vor.

Als einzigen Erfolg kann Tichanowskaja die Entscheidung des Internationalen Eishockey-Verbandes verbuchen, Belarus das Recht zu verweigern, die Eishockey-Weltmeisterschaft 2021 auszurichten.

Die Experten sind sich einig, dass man in diesem Stadium von einer Niederlage der Opposition sprechen kann. Der Minsker Politologe Dmitri Bolkunets erinnerte daran, dass die Opposition in der Vergangenheit versprochen hatte, die Macht zu übernehmen, wenn 100.000 Menschen auf die Straße gehen würden. Tatsächlich gingen „mehr als eine halbe Million Menschen auf die Straße, um zu protestieren – aber nichts geschah. Es ist also eine Art Niederlage“, so der Experte.

Der stellvertretende Direktor des Instituts für GUS-Länder, Wladimir Scharichin, meint, „sie hat nicht die Straße verloren, sie hat sich selbst verloren. Die Opposition hat die Straße verloren, weil Tichanowskaja nicht zu einer politischen Figur geworden ist“.

Kirill Koktysch, außerordentlicher Professor für politische Theorie an der MGIMO, ist der Meinung, dass die in Belarus gezeigten TV-Sendungen über die abgehörten Verhandlungen der geflüchteten Opposition der Opposition schwer geschadet haben. „Es ist klar geworden, dass es nichts anderes gibt als Streitereien um Geld. Und das Geld ist sehr beträchtlich. Die Spitze der Opposition hat sich spürbar bereichert. Vom moralischen Standpunkt aus betrachtet, hat die neue Opposition es nicht geschafft, ihre Fahne sauber zu halten“, sagt Koktysch.

Tichanowskajas Interview sieht der Politikwissenschaftler als Statement für die Sponsoren, „um die Geldgeber zu beruhigen“. „Einiges von dem, was sie sagt, wird eintreten, aber es wird eher nichts mit der politischen Realität zu tun haben, sondern damit, dass die neue Opposition sich irgendwie selbst unterstützt, sich selbst ernährt. Innenpolitisch werden sie das Schicksal der ersten nationalistischen Welle in den 90er Jahren wiederholen. Keiner erinnert sich daran“.

Bolkunets will künftige Proteste nicht ausschließen, aber statt Tichanowskaja brauche man ein mehr vernünftiges, ein neues Team, das sowohl die Nomenklatura, die Gesellschaft und die Opposition einschließt. Ein Erfolg der Demonstranten würde auch möglich sein, wenn sich einige Sicherheitsbeamte auf die Seite der Opposition schlügen, aber niemand werde das System flicken wollen, um „nicht das Schicksal der ukrainischen „Berkut“ zu erleiden.

Es gebe mehr als tausend verschiedene Untergrundzellen, die lokale Proteste koordinieren. Irgendwann könnten sie sich im Untergrund stabilisieren und irgendwann in der städtischen Infrastruktur aktiv werden, warnt Bolkunets. Außerdem habe die Opposition immer noch Unterstützung aus dem Westen, wo es „Dutzende von Organisationen und Strukturen gibt, die helfen, das belarussische System zu untergraben, auch durch Sanktionspakete.“

Koktysch hingegen sieht keine weiteren Perspektiven für die Proteste. „Die Opposition hatte kein substantielles Programm, also war alles vorhersehbar und entwickelte sich logisch. Ihre Argumentation basierte auf der emotionalen Ablehnung der Behörden, hatte selbst aber kein positives Programm“, so der Politikwissenschaftler.

[hrsg/russland.NEWS]

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