Tag 198 – Moskau

Um 2.14 Uhr erhielt ich am Kölner Hauptbahnhof mehrere Münzen Rückgeld. Hatte mir zuvor eine Brezel gekauft. War erstaunt, dass sogar zwei „10-Centavos“-Stücke darunter waren. Die gibt‘s in Deutschland sonst ja eher weniger. Vor allem nicht als Rückgeld. Mmhhh … Wurde also schon gleich zu Beginn des Trips übers Ohr gehauen. Auf’s Ohr hauen würde ich mich jetzt allerdings viel lieber. Bin mittlerweile etwas müde nach fast 24 Stunden ohne Schlaf. Aber der Tag beginnt ja erst. Ist jetzt 5 Uhr morgens.

Auf der Zugfahrt von Mainz nach Köln habe ich vorher den Ralf kennengelernt. Er stand am Bahnsteig und wurde mitten in der Nacht freundlich von zwei Damen und einem Herrn verabschiedet. Als er bei der Abfahrt zwei Deutschland-Hüte überreicht bekam, klingelte es sofort bei mir: „Der fährt bestimmt nach Russland“.

Beim Einsteigen fragte ich ihn: „Na, geht‘s nach Moskau?“

„Ja! Bei dir auch, wie ich sehe.“

Meine vorm Bauch baumelnde FAN-ID war nicht zu übersehen.

Kamen dann schnell ins Gespräch. Für ein Bier reichte es aber nicht, es gab keinen Speisewagen. Ralf erzählt, dass er bereits seit 1994 regelmäßig mehrere Wochen zu Fußball-Weltmeisterschaften fährt. Sein selbst kreiertes T-Shirt ist übersät mit Eintrittskarten vergangener WM-Spiele. Ganz oben: Das Ticket zum Finale 2014, Deutschland – Argentinien 1:0 nach Verlängerung.

„Das Bier holen wir in Moskau nach!“, schlug er mir beim Aussteigen vor.

Ein zufriedenes Grinsen zog mir durchs Gesicht. Bin gespannt, ob wir uns nochmal sehen werden.

Um kurz vor 3 dann am Flughafen Köln/Bonn. Die ganze Zeit dachte ich, da sei um diese Zeit außer mir keine Menschenseele. Von wegen! Die Flure waren schwarz vor Leuten. Vertreibe mir dann bis zum Boarding um 6 Uhr die Zeit mit Kaffee trinken. Eigentlich wollte ich auf dem Flug nach Wien ein Nickerchen machen. Da hab ich mir jetzt wohl selbst einen Strich durch die Rechnung gemacht. Müsste eigentlich ein Konterbier trinken, damit ich wieder schön schlapp werde.

Schaue mir in der Zwischenzeit auch ein paar russische Buchstaben an. Kommt mir mittlerweile alles Spanisch vor. Diane hatte es ja aufgegeben, mit mir Russisch zu lernen. Kann sie nur allzu gut verstehen.

Auf dem Flug von Wien nach Moskau sitzt dann Ayan neben mir. Er ist Inder, wohnt in London – und hatte totales Pech. Aus irgendeinem Grund wurde sein Flug von London nach Frankfurt gestern gestrichen. Er verpasste den Anschluss nach Moskau. Das ist deshalb so schlimm, weil er ein Ticket für das Match Argentinien – Island hat.

„Run faster than Messi!“, rufe ich ihm zu, als wir in Moskau landen.

Bis zur Unterkunft, also meinem Schlafsaal, brauche ich sage und schreibe vier Stunden. Gut, ich war völlig dehydriert ein paar Mal unterwegs eingekehrt. Aber vier Stunden? Die Zeit vergeht schnell hier in Moskau.

Genau wie die Rolltreppen. Die sind ein gutes Stück schneller eingestellt als in Deutschland. Gut, dass keine Kurven da sind, sonst würdest du wegen der Fliehkraft rausgetragen werden. Und ewig lang und steil sind sie auch. Außergewöhnlich. Fans unterschiedlicher Länder klatschen sich beim Vorbeifahren ab. Sehr schöne Szenen direkt zu Beginn. Was ich mich freue!

Die Menschen: Alle sind am Rennen. Ich schließe mich dem Tempo an. Automatisch. Muss aufpassen, dass ich nicht falsch abbiege.

Die U-Bahn-Stationen: Sehr beeindruckend. Regelrechte Kunstwerke.

Die Stadt: Unglaublich sauber. „Das war vor 20 Jahren noch anders“, erklärt mir Evgeniy, den ich abends kennenlerne (er wohnt mit Frau und zwei Kindern in einem Vorort von Moskau).

Die Unterkunft: „Strange“ trifft es wohl am ehesten. Eher wie eine Katakombe. Alles unterirdisch, keine Fenster. Ein ewig langer Flur, rechts und links davon die gemischten Schlafsäle aneinandergereiht. Man muss die Schuhe ausziehen und bekommt ein paar Sandalen. Mir haben sie Frauengröße gegeben. Egal. Direkt neben dem Eingang ein eigener Raum, in dem sämtliche Schuhe der Gäste untergebracht sind. Schön geordnet, jeder eine Kiste.

Neben mir schlafen zwei Kroaten, Zlatko und Antonio. Nette Typen. Verabrede mich mit ihnen zum Spiel Kroatien gegen Nigeria, das wir uns in der Fan-Meile zusammen ansehen wollen.

Hab‘ mal nach der Übersetzung von „Brandschutz“ ins Russische gegoogelt. Kamen aber nur ein paar Smileys, denen die Tränen laufen vor Lachen.

Ungewaschen geht’s dann ins Getümmel. Waschen und schlafen (und ich glaub‘, das Dritte ist Atmen) sind überbewertet.

Viele Kroaten ziehen sich als Outfit Wasserballmützen an. Auf dem Weg zur Fanzone müssen wir laufend stehenbleiben, weil die Zlatko und Antonio ständig nach Fotos gefragt werden.

Die Kroaten haben es in Russland gut stehen, seit sie in der Qualifikation zur EM 2008 am letzten Spieltag gegen England 3:2 gewannen und deshalb die Russen statt England teilnehmen durften.

In der Fanmeile dann ganz großes Spektakel. Fast alle teilnehmenden Länder sind vertreten. Alle liegen sich irgendwie kreuz und quer in den Armen.

Auch auf der Straße nur gut gelaunte und freundliche Menschen. Ich glaube, die Russen sind neugierig auf die Fans. Und umgekehrt genauso.

Auch in den Schlafsälen sind viele Nationen vertreten: Peruaner, Kroaten, Mexikaner, Argentinier, Russen. Auch ein paar Deutsche. Eine bunte Mischung auf Zeit. Es ist ein ständiges Kommen und Gehen. Die Luft ist stickig, die Kapseln sind relativ neu. Wenn alle gleichzeitig aus ihren Betten rauskommen wollten – es würde nicht gehen. Höchstens die Hälfte hätte einen Platz zum Stehen in dem winzigen Raum.

Für den ersten Tag war‘s das jetzt. Bin hundemüde nach 42 Stunden ohne Schlaf.

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