Tag 162 – WM-induzierte posttraumatische Belastungsstörung (WM-PTBS) oder: Der Weg zum sicheren Titelgewinn

Die Auswirkungen von Traumata können ein ganzes Leben verändern. Ein guter Freund von mir, der Failowatschkov, leidet nach eigenen Aussagen an einer posttraumatischen Belastungsstörung. Ausgelöst durch die WM 1998 und die WM 2006. Sei regelrecht nachgewiesen. Meint sein Psychologe. Meine Frau dagegen meint, es verhalte sich simpler, und er sei einfach nur verrückt. „Ihr beide könnt Euch die Hand geben, wieso zieht ihr eigentlich nicht zusammen?“, hat sie mich letztens gefragt. Eine Antwort konnte ich ihr spontan nicht geben. Sowas will gut überlegt sein.

Trauma Nummer 1 hat er sich in ziemlich fahrlässiger Weise selbst zuzuschreiben. Es hat jedenfalls zur Folge, dass er bis heute Schweißausbrüche bekommt, wenn er nur das Wort „Public Viewing“ hört – und sich bei einem Spiel der deutschen Fußballnationalmannschaft allein in einen abgedunkelten Raum zurückzieht. Trauma Nummer 2 – behauptet er – habe er, ja, ja … mir zu verdanken. Ohnmachtsanfälle“ bekomme er, und „grob fahrlässig“ hätte ich gehandelt, wie er stets beteuert. Es löse bei ihm „eine Dauerstressreaktion aus“, sobald er eine Garage aufräumen müsse, nur weil er mal bei mir zu Hause auf einer Leinwand ein Fußballspiel mitverfolgt habe. Seine Frau, Ärztin, – und ähnlich veranlagt wie meine – versichert jedes Mal, Elektroschocks wären ziemlich heilsam. Mein Freund Failowatschkov will sich trotzdem noch eine Zweitmeinung einholen.

Aber der Reihe nach.

Trauma Nummer 1:

Public-Viewing-Phobie – induziert durch das Viertelfinale der WM 1998 (Deutschland – Kroatien, 0:3)

Rein psychologisch gesehen ist seine Public-Viewing-Phobie der Selbstheilungsversuch seiner Psyche, alles zu vermeiden, was ihn an das Trauma vom 4. Juli 1998 erinnert. So habe man ihm es jedenfalls im Sanatorium erklärt. Der 4. Juli 1998 war ein grässlich heißer Tag, und er sei bei einem Freund in einer Großstadt zu Besuch gewesen.

Der Freund, nennen wir ihn mal Damir, hätte vorgeschlagen, das Spiel Deutschland – Kroatien auf einer Großleinwand in einem Restaurant anzusehen. Er fand das eine gute Idee, zumal jedem Fußballexperten klar war, dass die sympathischen Kroaten nicht viel mehr als passable Sparringspartner unserer Nationalmannschaft auf dem Weg ins Finale waren. So ähnlich wie Luxemburg oder die Färöer-Inseln. Er hätte skeptisch werden sollen, als Damir den Namen des Restaurants nannte, in dem er sich zur Anstoßzeit einzufinden hatte: „Restaurant Dalmacja Grill“. Rückblickend wäre er besser in die „Bruzzel-Stubb“ gegangen.

Und nur, weil er sich nicht wehrte, nahm die Geschichte ihren Lauf. Pünktlich um 21.00 Uhr gesellte er sich zu Damir und seinen Kollegen an einen Tisch. Mit vorzüglichem Blick auf die Leinwand. Dubravko, den untersetzen und überaus sympathischen Wirt, hatte es Mitte der 70er nach Deutschland verschlagen. Bei der Bestellung seines Weizenbiers erzählte er ihm, dass er gar nicht wisse, für wen er halten solle. Er sei eben halb Deutscher und halb Kroate. Aber mit dem Herzen sei er voll und ganz Deutscher.

Irgendwie musste Dubravko das in der 45. Minute total vergessen haben. Denn beim 1:0 für Kroatien hüpfte er mit den anderen 250 wild gewordenen Kroaten so vor der Leinwand rum, dass die vor Schreck erstarrte Handvoll Schlachtenbummler mit Deutschlandfahnen sogar die Zeitlupe nicht mehr sehen konnten. In diesem Augenblick sei Failowatschkov mit einem Schlag bewusst geworden, was für ein schöner Volltrottel er gewesen sei, um sich Deutschland gegen Kroatien in einem kroatischen Restaurant anzusehen. Ebenso gut hätte man sich mit einem Bayern-Trikot in den Sankt-Pauli-Ultra-Block stellen können. Eigenen Angaben zufolge ließ er seine Fahne unterm Tisch verschwinden. Das 0:3 habe er dann gar nicht mehr miterlebt, weil er vorher gegangen sei. Ohne zu bezahlen. Er habe es einfach vergessen. Hätte sein Psychologe sogar bestätigt. Amnesie sei ein Symptom seines Traumas.

Ein Trost, dass die Kroaten dann noch die Holländer rausgekegelt haben, bevor sie dann selbst vom späteren Weltmeister Frankreich besiegt wurden. Das ändert aber nichts an den entsetzlichen Spätfolgen des Traumas. Er wagt sich seither nicht mehr zum Public Viewing. Nie wieder. Er bekommt Schweißausbrüche, wenn er nur daran denkt.

Er hat mir dann in die Hand versprochen, bei der WM 2018 vorsichtshalber keine schwedischen, mexikanischen oder südkoreanischen Restaurants zu betreten. Hält er sich daran, sind wir so gut wie sicher im Achtelfinale.

Trauma Nummer 2: Vegetative Übererregung in Form einer chronischen Dauerstressreaktion in Bezug auf Garagen, induziert durch das Halbfinale der WM 2006 (Deutschland – Italien, 0:2)

Der 4. Juli 2006 war ein brüllend heißer Tag. Die Folgen von Trauma 1 waren bei Failowatschkov so gut wie abgeklungen. Er nahm also meine – wie er behauptet –, heimtücksche und grob vorsätzliche Einladung zum Public Viewing in der heimischen Osvaldo-Garage an.

Rückblickend hätte es ihm klar sein müssen, dass das – seiner Meinung nach – zwingend in einer Katastrophe enden musste: Ersten war es der Jahrestag seiner posttraumatischen Belastungsstörung im „Restaurant Dalmacija Grill“ acht Jahre zuvor. Zweitens sollte es Pizza geben. Angeblich hätte ich – wie beim Pfeifen im Walde – die Angst vor den Italienern durch diese lustige Koinzidenz besiegen wollen. Denn auf den Tag genau acht Jahre zuvor hätte er eine Sarajevo-Platte gegessen. Drittens hätte Deutschland (damit brüstet sich jeder Italiener) bis dato bei einer WM noch nie gegen Italien gewinnen können und viertens … wäre es eben ein Public Viewing gewesen. Das Elend nahm – glaubt er – in der Nachspielzeit seinen Lauf. Er erinnere sich an keinerlei Details. „Die Amnesie und die Unfähigkeit, über die Geschehnisse zu sprechen, ist Teil des Traumas“ heißt es in seinem Arztbericht. Noch heute hegt Failowatschkov für sich den Verdacht, dass sein extremer Ekel gegen meine Lieblingsbiersorte tief in seinem Unterbewusstsein verankert sei und etwas mit dem 4. Juli 2006 zu tun habe …

Ach was!, sage ich dazu nur.

Seit diesem schicksalshaften Tag Anfang Juli 2006 plagten ihn Ohnmachtsanfälle, Drehschwindel, Übelkeit und Migräneanfälle, wenn er an Public Viewing in einer Garage denke, behauptet er. Dieselben Symptome tauchten ebenso urplötzlich auf, wenn seine Frau sage, dass er die Garage aufräumen solle. Der Grund für diese Begleiterscheinung müsse auch irgendwie tief in seinem Unterbewusstsein verankert sein. Und überhaupt komme jetzt alles raus: Ich würde ihn nämlich seit Jahr und Tag beschuldigen, er hätte sich einer zugesagten Brasilien-WM-Reise im Jahr 2014 schmählich entzogen. Er schreibt mir dazu in einer herzerweichenden Nachricht (weil er doch den Blog hier mitverfolgt):

„Es war kein Wortbruch, Osvaldo. Letztlich war die Ursache einzig und allein das Garagentrauma vom 4. Juli 2006!“

Oha, das wusste ich nicht. Ich verzeihe ihm. Egal. Für ihn ist es mittlerweile jedenfalls ein Therapiefortschritt, dass er das Wort Public Viewing heute ohne nennenswerten Flashback aussprechen kann.

Apropos … Fast auf den Tag genau 16 Jahre nach den Ereignissen im „Restaurant Dalmacja Grill“ gewann Deutschland gegen Brasilien übrigens 7:1. Failowatschkov sagte mir, er habe das Spiel allein in einem Hotelzimmer in eben jener Großstadt gesehen, in der seine Psychose seinen Lauf nahm. Ich will ihm ja durchaus künftig beiseite stehen, meinem Freund – aber wenn es sicherer ist, dass Deutschland seine Spiele gewinnt, wenn er sich einschließt und früh zu Bett geht, … dann bin ich durchaus bereit, ihn bei seinen Aktivitäten zu unterstützen.

 

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