Tag 147 – Als Lahm seinem Gegenspieler durch die Beine krabbelte

Jetzt ist es also doch noch gekommen. Dieses ominöse Thema, das immer irgendwann kommt. Meine Frau hat mich mit einer Frage konfrontiert, auf die ich warte, seit feststeht, dass Russland die WM im Jahr 2018 ausrichtet:

„Wie sieht es eigentlich in Russland mit Gefahren aus? Ist Russland sicher?“

„Ganz sicher!“, antworte ich und bestärke meine Antwort durch einmaliges kurzes Kopfnicken, das irgendwie dann stufenlos und ungewollt in mehrfaches Achselzucken bei gleichzeitigem Kopfkratzen übergeht. „Ich werde wieder einen gesegneten Palmzweig mitnehmen, dann kann nix passieren“, erkläre ich ihr voller Überzeugung.

Palmzweige schützen bei Gefahren, die einem im Straßenverkehr durch oder in einem Auto drohen. Bei uns lauerte vor vier Jahren in Brasilien die Gefahr vor allem im Auto. Michel saß nämlich hinterm Steuer. Er war als Fahrer unseres Mietwagens eingeteilt. Blöd, dass Michel in Russland von vornherein nicht als Fahrer vorgesehen ist. Kein Wunder, denn in Brasilien wurde er schon nach kurzer Zeit von Norberto abgelöst, der zwar nicht wie Michel über einen internationalen Führerschein verfügte, aber im Zweifel selbst im schlimmsten Verkehr der Welt, vielleicht in Peking, die Übersicht behalten und mutig als Erster in eine Kreuzung einfahren würde. Sowas kann er, der Norberto.

Will mich dann vergewissern, dass Peking – warum mir das im Moment durch den Kopf gegangen ist, weiß ich gar nicht – auch tatsächlich die gefährlichste Stadt für Autofahrer ist. Fange also an zu vöge … ähh … zu googeln. So … Bei Wikipedia werde ich schon mal nicht bestätigt. Es gibt zwar viele Staus dort, aber das gibt es anderswo ja auch. Mmhhh … Im Peking-Artikel verweisen die auf Moskau … aha … dessen Straßennetz … sich wie Peking in Ringen entwickeln würde. Staus seien an der Tagesordnung und eine Verbesserung kaum in Sicht. Gut, denke ich mir, wir werden dann in Moskau wohl besser die U-Bahnen nehmen als Taxis. So viel steht fest.

So, jetzt hab‘ ich aber doch einen einschlägigen Artikel gefunden. Und es verschlägt mir fast die Sprache: Welches Land führt die Rangliste der gefährlichsten Länder für Autofahrer an? Ausgerechnet Russland. Rund 1000 Tote pro Jahr auf 1 Million Autos. Boah. Das ist schon eine Hausnummer. Am Besten nehme ich zwei Palmzweige mit. Geplant haben wir jedenfalls eine Autofahrt am 6. Juli. Von Wolgograd nach Norden, Richtung Saratow. Wer weiß … vielleicht ist es doch besser, ein Schiff zu nehmen?

Jetzt hat mich meine Frau aber doch neugierig gemacht. Was erwartet uns sonst noch zum Thema „Gefahren“? Gebe in der Suchmaske auf der Internetseite des Auswärtigen Amtes also „Russland“ und „Sicherheit“ ein. Und was passiert? Als erstes kommt da:

„Außenminister Maas vor seinem Abflug nach Toronto“

Boah. Das hört sich echt gefährlich an. Das hätte ich jetzt nicht gedacht. „Wo der auftaucht, verbreitet er Angst und Schrecken“, denke ich, „wie ein Kobold im Anzug“. Vor dem ist nichts sicher. Der ist so ähnlich wie wir. Nur, dass der das hauptberuflich macht.

In der Ergebnisliste folgt kurz darauf der „Organisationsplan des Auswärtigen Amtes“. Klicke den mal an, „da könnte was Gefährliches zu Russland drin stecken“, überlege ich. Das geöffnete Fenster bestätigt meinen Verdacht: Ganz oben steht „Bundesminister des Auswärtigen, Heiko Maas“. Er scheint tatsächlich eine echte Bedrohung für Russland zu sein. Und für alle andere vermutlich auch.

Konnte meine Frau nach einer halben Stunde dann beruhigen:

„Junge, Junge, dort scheint glücklicherweise nix los zu sein, der Ergebnisliste des Auswärtigen Amtes nach, dort ist tote Hose, brauchst dir keine Sorgen machen, absolut nicht, passt alles!“, rufe ich ihr gut gelaunt zu. Das schafft erstmal Vertrauen. Die „Reise- und Sicherheitshinweise“ standen nämlich erst an etwa 437. Stelle (von 661), musste mich geschlagene 30 Minuten und mehr als 40 Seiten durchklicken bei zehn angezeigten Ergebnissen pro Seite.

Als ich mir das näher anschaue (https://www.auswaertiges-amt.de/de/russischefoederationsicherheit/201536), wird mir dann doch etwas mulmig zumute. Muss sogar mehrfach laut schlucken. Auf der Internetseite des Auswärtigen Amtes steht zwar das Übliche, es wird hingewiesen auf „Anschläge mit zahlreichen Todesopfern, auch außerhalb der Kaukasusregion“, mit Erwähnung von Sankt Petersburg. Dort sind wir ja auch unterwegs. Also Obacht! Besondere Aufmerksamkeit sollte man bei Menschenansammlungen (zählen Stadien dazu?) und U-Bahnen (wollten wir nicht doch Taxis nehmen?) walten lassen. Wir machen das jetzt besser doch anders, wir nehmen Taxis statt U-Bahnen. Definitiv.

Das Folgende …

„In der Club- und Kneipenszene russischer Großstädte kommt es – wie in Großstädten in anderen Ländern auch – zu nächtlichen, z.T. alkoholbedingten Straftaten, die sich auch gegen ausländische Staatsbürger und Touristen richten können (z.B. Körperverletzungsdelikte, Überfälle mit sog. „k.o.-Tropfen“). Angemessene Wachsamkeit sowie die Nutzung registrierter Taxiunternehmen ist daher empfehlenswert.

… ist ja noch ok, aber … aber das hier geht zu weit, eindeutig:

„Während der FIFA-Fußball-WM 2018 ist mit verstärkten Sicherheitsmaßnahmen und Einschränkungen durch die russischen Behörden zu rechnen (u.a. Alkoholverbot an bestimmten Orten).“

„Alkoholverbot an bestimmten Orten“? Boah. Jetzt sind wir geliefert. Sind uns doch so schön am Vorbereiten, also am Eintrinken, hier in Deutschland, und das soll nachher alles umsonst gewesen sein? Wir wollen doch mit den Russen mithalten können. Alles geben. Immer. Zu jeder Tageszeit. Von Anfang an. Und jetzt werden wir offensichtlich ausgebremst, noch ehe wir eintrudeln können. Wo die uns noch nicht mal kennen? Was wird das nur, wenn wir erstmal da sind. Au weh … Müssen von vornherein eine Strategie am Mann haben.

Unsere Frauen würden uns nicht mehr ernst nehmen, wenn wir zitternd heimkommen und erzählen würden: „Es gab kein Bier in Russland.“ Unser Ruf wär ruiniert, total. Meine Frau würde sich von mir trennen, die Kinder würden in der Schule gemobbt, die Katze würde bei meinem Anblick einen Buckel machen und die Nachbarn würden nicht mehr zum Schwenken kommen. Nicht auszudenken. Das müssen wir verhindern. Hoffentlich fällt uns rechtzeitig eine durchschlagende Umgehungsmaßnahme ein.

Und außerdem – jetzt etwa doch keine U-Bahn nutzen? Stattdessen lieber in einem Taxi im Stau stecken? Also nur die Wahl haben zwischen Attentat in der U-Bahn und Stresspusteln im Stau?

Stelle mir das gerade vor: Norberto mit Stresspusteln. Die kriegt er immer, wenn er Hunger bekommt, aber nicht augenblicklich an Essen rankommt. „Das müssten aber viele sein, bei seiner Körperfläche“, male ich mir gedanklich aus, verwerfe das Bild aber sofort wieder. Ich möchte Norberto lieber in Erinnerung behalten, so wie ich ihn kenne.

Mit einem stressbepustelten Norberto ist nicht zu spaßen. Taxifahren in Moskau schließen wir also mal vorsichtshalber aus und tappen lieber in die U-Bahn.

Es folgen dann noch zig Seiten beim Auswärtigen Amt, die einem erklären, was man alles darf, was nicht, was man alles soll und nicht soll, alles kann und muss und nicht und auf gar keinen Fall und überhaupt und so weiter. Bestimmt ein halbes Buch voll. Ist mir zu viel. Verzichte auf die ganzen gut gemeinten Ratschläge. Wird schon gut gehen.

Gut gegangen ist das zumindest schon mal mit meiner Frau. Sie hat nicht mehr nachgefragt. Hab sie voll beruhigen können. „Gelingt mir nicht immer“, sinniere ich. Läuft aber ähnlich wie in Brasilien: Vortäuschen des Abschlusses einer Risikolebensversicherung und Ignorieren von Reisewarnungen.

Das darf sie nie erfahren. Au Mann.

Was gibt es sonst noch? Ach ja, der Lahm, der ehemalige Kapitän der deutschen Fußballnationalmannschaft, der wird jetzt Kommentator. Hat angekündigt, alles etwas anders machen zu wollen. Will exklusive Einsichten weit über den Sport hinaus geben und den Zuschauern „die Sicht des Spielers“ zeigen. Aha. Wie soll ich mir das vorstellen?

Erzählt er dann etwa, wie er mal seinem Gegenspieler dadurch entwischt ist, dass er ihm unter den Beinen durchgekrabbelt ist? Oder wie er überlegt hat, mal gegen Mats Hummels zu einem Kopfballduell hochzusteigen? Oder wie er mit dem Löw und dem WM-Pokal zusammen in einem Bett übernachtete? Oder erzählt er etwa, was er gedacht hat, während er Fußball gespielt hat? Vielleicht in etwa so:

„Jetzt schlag ich erst einen Haken nach links, dann lauf ich etwas geradeaus, dann stoppe ich ab und mache einen Haken rechtsrum, dann eine Drehung um die eigene Achse. Muss aber an den Ball denken. Den muss ich dabei haben, sonst sieht das blöd aus. Dann gucken, wohin mit dem Ball (falls ich ihn noch hab‘). Und immer dran denken, Philipp, keine zu großen Schritte machen, sonst stolperst du.“

Könnte so kommen, könnte lustig werden.

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