Tag 116 – In der Höhle des Löwen oder: Aus einer Niederlage einen Sieg machen

Am Wochenende haben wir mehrere Entscheidungen getroffen:

Die Transsibirische Eisenbahn (TransSib) ist nun fest gebucht: Am 28. Juni, 18 Uhr, von Kasan nach Moskau, 793 Kilometer, 6 Uhr in der Früh Ankunft. Ausnahmsweise mal „First Class“. Wenn schon die legendäre TransSib, dann richtig. Macht man ja höchstens einmal im Leben. Mit Bett, Klimaanlage, einer Auswahl an einheimischen Zeitungen (gut, dass ich Russisch am Lernen bin und schon fast die kyrillischen Buchstaben ihren deutschen Pendants zuordnen kann) sowie einer Mahlzeit in einer Zweier-Kabine. Bettwäsche ist auch dabei. Lew hatte die ursprünglich schon auf der Kofferliste notiert. Wär ja ein Ding gewesen – ein Koffer nur mit Bettwäsche für eine einzige Übernachtung. Nochmal gut gegangen. Lew kann durchatmen.

Ich werde übrigens immer zu Norberto ins Zimmer geschickt, wenn es eine Zweier-Belegung gibt. Außer mir würde es mit ihm keiner aushalten, hat mir Michel mal gestochen. Für mich ist das kein Problem. Norberto und ich, wir ergänzen uns optimal. Seit Norberto sein nächtliches Getöse mittels … sagen wir mal … mittels technischer Schlafhilfen abgestellt bekommen hat, ist er nachts friedlich. Das wissen die anderen nur noch nicht. Kürzlich wäre er nachts aber fast erstickt, als der Netzstecker einen Wackelkontakt hatte und die Luftzufuhr eingeschränkt wurde.

Ich werde in Russland nachts gut auf ihn aufpassen müssen, versprochen. Tagsüber natürlich auch. Da ist er ob seines „Essensdurstes“ ja auch in ständiger Gefahr, weil er den Kopf verliert, sobald er Hunger bekommt. Ich muss ihn so gesehen rund um die Uhr im Auge behalten.

Etwas skeptisch macht mich der Hinweis in der TransSib-Buchungsbestätigung:

„Das Essen ist nicht unsere Verantwortlichkeit.“

Oha, sage ich da nur. Ist der russische Ex-Spion, der Skripal, vor kurzem nicht vergiftet worden? Was, wenn die Geheimdienste rausbekommen, dass es Putins Töchter auf vier adrette Fußballfans aus Deutschland abgesehen haben und sich womöglich in deren Familien einheiraten wollen? Wenn das mit aller Macht verhindert werden soll, sind wir reif. Dann wird das Essen zur Gefahr. Hoffentlich kriege ich Norberto im Fall der Fälle rechtzeitig gestoppt. Wenn Essen nur in erahnbarer Nähe ist, ist er bereits auf dem Sprung und hängt sich eine Serviette um den Hals. Na ja, wird schon.

Eine weitere Entscheidung traf unser Kapitän Michel im Alleingang: Er teilte mit, dass wir St. Petersburg fest buchen und nicht abwarten werden, wie die Gruppenphase ausgeht. Konkret bedeutet das, dass wir auf ein mögliches Achtelfinale mit deutscher Beteiligung in Samara verzichten (falls wir also nur Gruppenzweiter werden). Haben ja ohnehin noch keine Karten für das Spiel.

Wir werden also auf jeden Fall St. Petersburg unsicher machen. Kann aber vorkommen, dass wir dann statt mit Fans aus Deutschland mit ganz vielen Mexiko- und Brasilien-Anhängern zusammen feiern. Hätte was. Wir würden bestimmt verlacht werden. Fans aus Deutschland zur falschen Zeit am falschen Spielort. Haha!

Dabei wäre das gar nicht so schlimm: Uns geht es zwar um Fußball, aber nicht nur. Wir möchten mit Fans aus aller Welt zusammenkommen. Das steht im Vordergrund.

Ein beeindruckendes Erlebnis hatten wir im Oktober 2015, EM-Qualifikation Irland gegen Deutschland (damals atmete Norberto nachts noch ohne Stromanschluss). Es war mit großem Abstand das schlechteste Spiel, das ich live je gesehen habe. Grottenkick wäre noch eine Beschönigung. Am Ende gewann Irland mit 1:0.

Tags darauf machten wir einen Ausflug zu den „Cliffs of Moher“, den bekanntesten Steilklippen Irlands, und übernachteten dort in der Nähe in Galway, der Partystadt Irlands. Abends besuchten wir (wir waren zu viert unterwegs) diverse Pubs. In der ersten Kneipe, in die wir vorsichtig wie auf Zehenspitzen eintraten, gab es unvermittelt lautes Gelächter. Nachdem sich die Iren nach mehreren Minuten wieder gefangen hatten, stießen sie Fangesänge an. Was sie genau sangen, wissen wir nicht, aber es waren wohl Schmähgesänge.

Wir spürten auf einmal: Wir waren in der Höhle des Löwen gelandet. Ein Wunder war das nicht – einen Tag nach einem fantastischen Sieg über den amtierenden Weltmeister standen plötzlich vier alte Säcke vor ihnen, in voller Montur und einheitlich gekleidet in Deutschland-Trikots. Es war also nicht möglich, uns nicht als deutsche Fans zu identifizieren.

Wir haben dann irgendwann angefangen, ebenfalls irgendwelche Gesänge anzustimmen – hatten aber gegen die stimmgewaltige irische Übermacht nicht den Hauch einer Chance. War auch egal.

Es kam, wie es kommen musste: Tröstendes Schulterklopfen wechselte sich ab mit der Verköstigung diverser Flüssigkeiten und umgekehrt. Und dann wieder von vorne. Wie oft? Keine Ahnung. Bis wir irgendwann zu uns sagten, wir müssen dringend die Kneipe wechseln, sonst geht das nicht gut aus.

In der zweiten und dritten und vierten Kneipe wussten wir dann schon, was uns erwartet – und machten das Spiel jedes mal mit. Im Laufe des Abends lernten wir so immer mehr über irische Gepflogenheiten und wissen seither viel über Sitten und Gebräuche. Und Trinksprüche. Und dass sie die Engländer nicht mögen (mit Engländer meine ich in dem Fall nicht den Universalschraubenschlüssel).

Nur eines wussten wir am Ende der Nacht nicht mehr, nämlich ob wir tags zuvor gewonnen oder verloren hatten. Gewonnen hatten wir jedenfalls die Herzen der irischen Pubbesucher. Und natürlich auch der Pubbesucherinnen, die – wenn man sie nicht ausdrücklich bremste – ihren Mixgetränkekonsum im Minutentakt so forcierten, dass unsereins Probleme bekam, es ihnen nachzutun. In Deutschland unvorstellbar.

Es imponierte den Iren jedenfalls, auch bei Niederlagen das Trikot seines Teams mit Stolz zu tragen. Es wurde ein sehr beeindruckender Abend.

Schade, dass Irland bei der WM in Russland nicht dabei ist. Aber dass wir die irischen Fans seither lieben, liegt auf der Hand.

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