Tag 113 – Handschnipserei am Hals (und der Tag beginnt)

Beim Russisch lernen bin ich nicht nur auf unterschiedliche Buchstaben, sondern auch auf andere Bedeutungen von Gesten gestoßen.

Möchte ich zum Beispiel ein bisschen das Landesinnere kennenlernen und abseits der üblichen Routen auf Tour gehen (die erste Woche bin ich ja alleine in Moskau und Umgebung unterwegs), dann darf ich beim Trampen nicht das bei uns typische Zeichen (Daumen hoch bei geballter Faust) benutzen, denn die meinen dann, ich wolle sie für ihr tolles Autofahren loben und ihnen bloß „gute Fahrt“ wünschen. Nein, wenn man mitgenommen werden will, muss ich die Hand und den Arm schräg nach unten ausstrecken.

„Das willst du doch nicht ernsthaft tun?“, meint meine Frau, als ich das Zeichen ein paar Mal vor ihren Augen übe und sie darüber aufkläre, was es bedeutet.

„Nee, natürlich nicht! Wie könnte ich! Würde mir nie in den Sinn kommen. Aber wissen muss man es. Für Notfälle.“

Was ich meiner Frau verschwieg: Ich hab‘ schon erlebt, dass Notfälle extra herbeigeführt wurden. Ein gutes Beispiel hierfür ist mein Freund Lew. Der lässt fast keinen Notfall aus, wenn es drauf ankommt.

Na ja, egal. Per Anhalter zu fahren ist in Deutschland ja ziemlich aus der Mode gekommen. Ich erinnere mich, dass wir früher nach dem Discobesuch in Gruppen zu drei, vier Leuten an bestimmten Streckenabschnitten sogar Schlange standen, um wieder heim zu kommen. Meine Kumpels und ich wohnten ja auf dem Land. Da war nix mit Abholen kommen durch die Eltern, wie das heute meist der Fall ist. Nee, nee. Wir gingen durch eine harte Schule. Trampen hat geprägt.

Bin gespannt, wie das in Russland ist. Werde es zwar nicht zwingend ausprobieren, aber … wenn sich eine Gelegenheit ergibt … manchmal muss man auch Gelegenheiten schaffen. So wie Notfälle. Wird schon gut gehen.

So, was haben wir noch an russischen Handzeichen und Gesten? Mmhhh … Daumen zwischen Zeigefinger und Mittelfinger durchstecken … erkläre ich jetzt besser nicht. Könnte es Euch aufmalen, damit ihr es euch vorstellen könnt. Aber … ich glaube, es geht auch so, oder? Und was es bedeutet? Weiß nicht. Es wird jedenfalls davor gewarnt – dringend! – es gegenüber fremden Personen anzuwenden.

Bei Konzerten liebe ich es ja, den Rockergruß zu machen. Also den Zeigefinger und den kleinen Finger von der Faust abspreizen, während der Daumen auf ihr bleibt. Sollte ausgestreckt in etwa der Kopfhöhe erfolgen. In Russland allerdings … könnte meine Lieblingsgeste durchaus auch falsch verstanden werden: Die Möglichkeiten reichen von „Du bist ein Gehörnter“ (Untreue) über „Hau ab, Satan!“ (Aberglaube sowie heiliges Zeichen im Buddhismus bei der Meditation, um Dämonen zu vertreiben) bis hin zum Erkennungszeichen der gewaltbereiten Mara-Gang Nord- und Mittelamerikas (dann muss die Hand aber nach unten umgedreht als „M“ gehalten werden). Wie auch immer: Passt Du nicht auf, bist du im Nu Mitglied einer Straßenbande.

Dann bliebe dir nur noch eine Möglichkeit, da wieder rauszukommen: Du musst sagen, du hättest dich verschrieben und hättest bei der Geste eigentlich den Daumen zur Seite abspreizen wollen. Denn das bedeutet in der amerikanischen Gebärdensprache „Ich liebe Dich“. Und schon befindest du dich womöglich inmitten einer 68er-WG. Ob das besser ist? Könnte beide Zeichen ja mal in Russland in einer Art Selbstversuch testen …

Als kleine Warnung zum Schluss, mehr oder weniger in die eigene Richtung: „Daumen nach oben“ steht nicht nur für „Trampen“ oder „Super!“, sondern für … mmhhh … ich weiß nicht, wie ich das jetzt sagen soll … ist mir doch etwas peinlich, dass ich das weiß … jedenfalls steht „Daumen hoch“ vor allem in Teilen des Morgenlandes für die „Frage nach Zustimmung zu gemeinsamen sexuellen Handlungen“. Nickt das Gegenüber, dann ist alles eingetütet. Das heißt … noch nicht ganz, ein Präservativ müsste noch übergezogen werden. So viel Zeit muss sein. Ja … ich glaube, so könnte man es formulieren.

Ich kann nur hoffen, dass ich in Russland nicht sämtlich vorhandene Gesten und Handzeichen durcheinander werfe. Sonst gerate ich in Teufels Küche – und das, obwohl meine Frau nicht einmal in der Nähe wäre.

Zu meiner neuen Lieblingsgeste könnte sich in Russland aber eine andere entwickeln: Finger-Schnipsen am Hals. Die ist im 19. / Anfang 20. Jahrhundert in der vielbeachteten russischen Schenken-Tradition entstanden und bedeutet: „Komm, lass uns einen hinter die Binde kippen!“. Nach kurzer Zeit ist man „podschofe“, also besäuselt. Schon wieder ein Wort auf Russisch gelernt. Läuft. Ein gewisser Oberst Rajewskij soll das übrigens erfunden haben. Aha. Ein Beamter, der säuft. Sowas aber auch. Na, egal.

Wenn jemand das Zeichen, also das Handschnipsen am Hals, überzeugend rüberbringt, kann man sich dem kaum entziehen. Ich schon gar nicht. Der Lew, da bin ich mir sicher, der würde das perfekt rüberbringen. Dem werde ich das bei Gelegenheit beibringen müssen, damit er es auf Zuruf oder Zuwinken von mir anwendet. Alternativ könnte ich auch nur kurz mit dem Kopf ruckartig von unten nach oben eine Bewegung in seine Richtung machen und dabei Augenkontakt aufnehmen. Das würde auch funktionieren, da bin ich sicher. Und so ganz nebenbei – mit dem „Kopf-ruckartig-nach-oben-werfen-und-dabei-Augenkontakt-aufnehmen“ hätten wir eine eigene, unverwechselbare Geste erfunden, nämlich die

„Geste zur Aufforderung zum Handschnipsen am Hals“.

Mit allem, was dann folgt.

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