Tag 110 – Von spektakulären Russen und blutleeren Amerikanern

Derzeit läuft in Berlin das Schach-Kandidatenturnier. Dabei ermitteln acht Spieler

(Spielerinnen sind nicht dabei, auch keine Spielerfrauen auf den Zuschauerrängen. Und im Gegensatz zu den meisten Fußballern und Politikern weiß kaum jemand, wie die aussehen. Ich habe ernsthafte Zweifel, ob die es jemals schaffen, in ein Panini-Album aufgenommen zu werden.)

Der Herausforderer des amtierenden Weltmeisters Magnus Carlsen aus Dänemark. Schach gilt weithin ja als langweilig. Selbst für den geneigtesten Zuschauer kommt sowas wie Spannung nur eher selten auf. Emotionen? Fehlanzeige. Habe zumindest noch nirgendwo gelesen (vom Sehen ganz zu schweigen), dass ein Schachspieler einem anderen an die Gurgel ging. Die haben sich voll im Griff. Obwohl die sich auch ärgern, wenn sie am Verlieren sind. Kann ich mir jedenfalls vorstellen. Ohne Ehrgeiz kommt man in der Schachwelt nicht weit. Bei mir war es so, dass ich zwar Ehrgeiz hatte, aber vollkommen talentfrei war.

Die ganze Zeit schon überlege ich: Wie könnte man Schach allgemeintauglich für die Massen machen, wie könnte man für Schach Begeisterung schaffen? Und ich glaube, ich, der Osvaldo, hätte da eine Lösung gefunden, nämlich: Indem mit modernen Messinstrumenten die Gedanken der Spieler aufgezeichnet werden. Durchgehend. Vom ersten „Das zahl ich Dir heim, warte nur!“ über „Mein Gott, ist der dumm. Hat nicht bemerkt, dass ich ihn mit diesem Zug in eine Falle locke.“ und „Ohh! Was bist Du für ein kleines Arschgesicht!“ bis hin zu „Für diesen Zug trete ich Dir nachher so fest in die Eier, dass Dir Hören und Sehen vergeht!“.

Meine Gedanken aus früheren, weniger erfolgreichen Partien möchte ich an dieser Stelle übrigens nicht wiedergeben. Darüber decken wir besser den Mantel des Schweigens. Es sollen ja auch Kinder den Blog lesen, habe ich mir sagen lassen.

Jedenfalls wären den Gedanken der besten Schachspieler der Welt keine Grenzen gesetzt. Wie bei einer Fahrt mit dem Auto könnten diese mit einer beliebig auswählbaren Stimme auf einem Navigationsgerät als Sprachaufzeichnung über Boxen in den Zuschauerraum übertragen werden. Damit sie für alle nachvollziehbar wären. Ich bin sicher: Die Hütte wäre voll. Gedanken von nach außen hin völlig beherrscht wirkenden, innerlich aber bis zum Bersten gespannten Menschen für alle Zuschauer hörbar machen. Das hätte was.

Als Stimme würde ich mir die des deutschen Schauspielers und Synchronsprechers Martin Semmelrogge einstellen. Der saß ja selbst schon ein paar Mal im Knast und würde das authentisch rüberbringen können. Er spielt übrigens mit in meinem Lieblingsfilm: „Bang Boom Bang – ein todsicheres Ding.“ Gleichzeitig auch der letzte Film des legendären Diether Krebs.

Zurück zum Schach. Zu früheren Partien zwischen dem legendären US-Amerikaner Bobby Fischer gegen den Russen Boris Spasski bei der Weltmeisterschaft 1972 hieß es in späteren Kommentaren, bei diesem Jahrhundertspiel sei damals sogar der Kalte Krieg entschieden worden. Es gibt erstaunlicherweise auch einen ziemlich guten und dramatischen Kinofilm zu den Partien zwischen diesen beiden „Soldaten“ namens „Bauernopfer – Spiel der Könige“. Sehenswert. Und Präsident Richard Nixon lud Bobby Fischer später sogar zu sich ins Weiße Haus nach Washington ein. Der Besuch fand allerdings nie statt. Vielleicht ist das der Grund, warum spätere amerikanische Präsidenten, nehmen wir mal den Bill Clinton, lieber Praktikantinnen zu sich ins Oral Office einluden. Die sind wenigstens gekommen.

Und dennoch: Schach hat was Majestätisches. Was Faszinierendes. Beim aktuell laufenden Kandidatenturnier in Berlin spielen zwei Amerikaner, drei Russen, ein Armenier, ein Aserbaidschaner und – erstmals – ein Chinese mit. Der Chinese, Ding Liren, hat als Hobby Fußball angegeben, Lieblingsmannschaft: FC Bayern München. Das macht ihn sympathisch. Oder auch nicht.

Die meisten Partien beim Schach enden bei großen Turnieren Unentschieden. Der Chinese hat von bisher 8 (von insgesamt 14) ausgetragenen Matches acht mal Unentschieden gespielt. Führen tut im Moment der Amerikaner Fabiano Caruana. Er spielt grundsolide, ohne Patzer, aber auch völlig mechanisch und blutleer.

Nicht so die drei Russen. Spektakuläre Angriffe über den Königsflügel mit unerwarteten, gewinnbringenden Turmopfern wechseln sich ab mit fatalen Fehlern unter enormer Zeitnot. Beim Schach hat man eben nicht unendlich Zeit zum Überlegen, sondern muss eine bestimmte Anzahl Züge innerhalb einer bestimmten Zeit absolviert haben. Ex-Weltmeister Wladimir Kramnik hat minutenlang einfach mal den Kopf auf den Tisch gelegt, als er bemerkte, dass er sich in eine verlorene Stellung begeben hat. Alexander Grischuk greift mit Aufsehen erregenden Zügen selbst in ausweglos erscheinenden Situationen an. Und Sergej Karjakin hält zum Erstaunen aller Zuschauer ein Remis, obwohl er stundenlang auf verlorenem Posten steht (Schachpartien können schon mal an die sieben Stunden und länger dauern). Und die Statements der Spieler in den anschließenden Pressekonferenzen sind allemal spannender als die von Fußball-Bundestrainern. Dass Karjakin gestern erklärte, dass er bei der Präsidentschaftswahl Putin gewählt habe und dass von ihm aus jeden Tag Wahltag sein könne, davon sehen wir einmal ab.

Kurz und gut: Die Russen sind herausragende Schachspieler und immer für eine Überraschung gut.

Wie würde ich mir das für die WM wünschen! Ein russisches Team, das atemberaubenden Fußball spielt, schnell und trickreich, bedingungslos kämpft und immer an sich glaubt. Sie müssten nicht einmal jedes Spiel gewinnen.

Aber sie könnten Sieger der Herzen werden. So wie die russischen Schachspieler.

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