Tag 103 – Norbertos grandiose Idee

Liebe Osvaldos,

war jetzt eine zeitlang nicht mehr im Blog aktiv. Leider. Den Blog schreibe ich eben tageweise, von Tag zu Tag, ohne vorher etwas vorbereitet zu haben. „Häppchenweise“ würde Norberto an dieser Stelle wohl sagen.

Und wie das Leben so spielt, gibt es gute … und manchmal eben auch nicht so gute Zeiten. Bei mir war es so, dass ich in den letzten sechs Wochen wie gelähmt war. Und auf einmal nicht mehr schreiben konnte. Andere Dinge überlagerten alles. Unschöne, aber leider ziemlich wesentliche Dinge. Die sind noch nicht ausgestanden, aber es muss ja weiter gehen. Wird schon.

Ab heute probiere ich, mich wieder in den Blog reinzuknien. Ob es gelingt, weiß ich nicht.

Jedenfalls war heute Morgen Diane bei mir zu Hause. Endlich. Gestern Abend rief sie an und meinte, ab jetzt gehe es los. Diane ist meine Russisch-Sprachtrainerin (siehe Tag 44 und folgende).

Schon um 9 Uhr klingelte es. Zuerst zeigte sie mir die russischen Buchstaben. Die sehen total anders aus. Für mich ein bisschen wie Kunstwerke. Moderne Malerei. Malen kann ich ja gut. Und ziemlich fantasievoll obendrein. Ich traue mir sogar, innerhalb kürzester Zeit völlig neue russische Buchstaben zu kreieren. Wenn dem Putin als Präsident auf Lebenszeit mal nix mehr einfällt, vielleicht kann er mir dafür einen Auftrag verschaffen. Der würde sein blaues Wunder erleben.

Jedenfalls gibt es da Buchstaben, die sehen aus wie ein Haus. Die Russen sagen aber „D“ dazu.

Damit wir gemeinsam von Anfang an wissen, von was ich spreche, vor welchen Herausforderungen wir stehen, hier mal das kyrillische Alphabet:

Von idyllisch, wie früher mal vermutet, keine Spur. Da sind so viele Fallstricke drin, ich weiß echt nicht, ob ich das jemals hinkriege. In Schreibschrift sehen die Buchstaben – ich sage lieber Oeuvres dazu, Französisch habe ich nämlich auch nie kapiert – nochmal anders aus als in Druckschrift. Gesprochen werden die dann gaaanz anders. Man muss also, will man Russisch richtig lernen, eigentlich gleich vier Klippen auf einmal umschiffen:

Das Aussehen der Druckbuchstaben, die Schreibschriftbuchstaben, die Aussprache. Und dann natürlich noch das, um was es eigentlich beim Erlernen einer Sprache geht: die eigentlichen Wortbedeutungen.

Diane gab zu Bedenken, dass es nach wie vor in Russland noch sehr viele Hinweisschilder geben würde, die in Schreibschrift gehalten seien. Das würde aber zurückgehen. Meine Hoffnung ist ja, dass, wenn wir ab Juni in Moskau sein werden, es bis dahin nur noch Hinweisschilder in Druckbuchstaben geben wird. Vielleicht hängen die alle anderen ja bis dahin ab. Verlassen können wir darauf aber nicht.

Das wird uns alles noch ziemlich beschäftigen in nächster Zeit. Wer es selbst mal probieren will:

www.russischesalphabet.com/sprachkurs

Immerhin – heute hat mir Diane sage und schreibe 19 Buchstaben beigebracht. Aber nur in Druckschrift. Einfach sind a, e, o, k, m und t – die werden so ausgesprochen wie im Deutschen.

Damit könnte ich immerhin schon mal das Wort „Takt“ schreiben – und aussprechen natürlich auch. T – A – K – T. Das beste: Es hat sogar die gleiche Bedeutung wie im Deutschen: Takt. Fällt mir in Russland mal nix ein, sage ich einfach „Takt“. Das verstehen die dann auf Anhieb.

Und Diane gibt mir dann noch einen simplen, aber genialen Trick: Lässt man bei „Takt“ das „t“ am Ende weg, spricht man dann also „tak“, dann bedeutet das das gleiche, wie wenn man im Saarland unterwegs ist und man erstmal überlegen muss, wie es weitergeht, was als nächstes getan werden soll.

Im Saarland sagen wir dann nämlich immer kurzerhand „so“ zu allem. Mit einem langgezogenen „o“. Und genau das heißt „tak“ auch: nämlich „so“. Danach darf man erst ein paar Augenblicke lang nix sagen, muss einfach schweigen, sonst wirkt das „sooo“ nämlich nicht. Nicht so gut jedenfalls. Jeder schaut dann einen gespannt an, was als nächstes kommt. Meistens weiß man das dann selbst nicht so genau, bei mir ist das so jedenfalls. Aber das Eis ist dann erstmal gebrochen.

„So“ kann man überall und in jeder Situation einsetzen. Sehr treffend sogar. Auch in Russland. Einfach sagen: „Tak!“ – und schon beginnt das Schweigen. Alle werden dich wahrscheinlich fragend ansehen. Wie es dann weitergeht? Vielleicht einfach mit einem schlichten: „пить пиво?“

Wie das ausgesprochen wird? Keine Ahnung. Noch nicht zumindest. Aber Diane ist an mir dran. Bis Juni wird das schon.

Ach ja, was es bedeutet … dieses „пить пиво?“ … Es bedeutet (wörtlich übersetzt):

„Bier trinken?“

Was gab es heute sonst noch? Nun … heute spielten die Holländer und die Italiener zur Abwechslung mal eine große Rolle bei uns. Bei Michel, Lew, Norberto und mir. Normalerweise spielen die ja -wenn überhaupt – eine ziemlich untergeordnete Rolle. Von „spielen“ schon mal ganz abgesehen. So als Unqualifizierte. Warum die trotzdem eine Rolle spielten? Nun, das kam so:

Heute Morgen startete bei der FIFA der zweite Teil der zweiten Verkaufsphase – nach dem Motto „First come, first served“, was so viel bedeutet wie: кто успел, тот и съел. Zu Deutsch: Wer zuerst kommt, mahlt zuerst.

Ich hatte zuerst überlegt, „mahlen“ ohne „h“ zu schreiben, weil es ja um die russischen Buchstaben geht, die mich vorkommen wie Malerei. Aber die Redewendung stammt wohl eher aus dem Mittelalter, als sich die Bauern mit ihrem Getreide bei den Mühlen anstellen mussten, um das Korn dort zu mahlen. Wer als Erster zur Mühle kam, der wurde zuerst bedient

Heutzutage läuft das ja wieder mehr nach Faustrecht in Deutschland. Oder danach, wer am meisten… sagen wir mal … einem anderen etwas unbemerkt zustechen kann. Aber das ist eine andere Geschichte. Zum Glück stehen wir für die Tickets aber bei der FIFA an, dort geht das schneller

Dachten wir zumindest.

Wir brauchen jedenfalls noch vier Tickets für ein mögliches Achtelfinale mit deutscher Beteiligung: Als Gruppenerster wären wir am 3. Juli in St. Petersburg dran, als Gruppenzweiter bereits am 2. Juli in Samara. Unser Tipp: Wir treffen auf Brasilien. Oha. Das wäre was.

Kein Wunder, dass wir alles dransetzen müssen, um Tickets dafür zu ordern. Dieses Mal dürfte es bestimmt enger werden als beim letzten Aufeinandertreffen, dem legendären 7:1 im Halbfinale in Belo Horizonte bei der WM 2014

Der Online-Verkauf der FIFA begann jedenfalls um 10 Uhr. Norberto, Michel, Lew und ich, wir meldeten uns alle vier an, um die Chancen auf die begehrten Tickets zu erhöhen. Aber das war nicht leicht. Wir waren – wie so viele andere auch – in eine Warteschleife hineingeschickt worden. Und die dauerte. Eine Stunde. Zwei Stunden. Drei Stunden. Vier Stunden. Fünf Stunden. Ohne an die Reihe zu kommen. Endlich! Nach rund sechs Stunden war es so weit – der Zugang zur Glückseligkeit war eröffnet.

Aber es gab ein Problem, ein unlösbares: Alle Tickets vergriffen. Sowohl für St. Petersburg als auch für Samara.

Schöner Mist.

Müssen dann in Russland vor Ort versuchen, Eintrittskarten zu ergattern. Der Norberto ist da ganz stark drin. Der macht selbst in hoffnungslosen Situationen etwas klar.

Manchmal hat er sogar fantastische Ideen. Oft kommt das nicht vor. Das ist so ähnlich wie bei mir. Aber heute hatte er so einen lichten Moment. Leider zu spät. Sein Plan hätte dabei durchaus aufgehen können. Er machte – als es nach rund sechs Stunden bei der FIFA immer noch nicht recht vorwärts gehen sollte und wir alle bereits ziemlich verzweifelt waren – folgenden Vorschlag:

„Wir loggen uns bei der FIFA einfach neu ein. Ganz von vorne. Aber nicht auf Deutsch. Sondern auf Italienisch. Oder als Holländer. Die sind ja bei der WM nicht dabei und bewerben sich dementsprechend bestimmt nicht für Tickets. Dann sind wir innerhalb weniger Minuten an der Reihe.“

Was für eine grandiose Idee!

Hätte nicht für möglich gehalten, mal den Italienern oder den Holländern wegen Fußball zu Dank  verpflichtet zu sein. Aber wie auch immer: Norbertos Vorschlag kam letztlich zu spät. Alle verfügbaren Tickets waren weg.

Die Holländer und die Italiener können’s aber nicht gewesen sein.

 

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