Die Russen haben ein geringes Maß an Vertrauen. Zu diesem Schluss kommen Wissenschaftler des Instituts für Soziologie der Russischen Akademie der Wissenschaften (IS RAS), die die Einwohner von fünf Regionen im Süden Russlands – Kalmückien, Karatschai-Tscherkessien, Krim, Region Rostow und Gebiet Krasnodar – befragten. Im Durchschnitt vertrauen nur zwischen 20 und 25 Prozent der Russen anderen Menschen.
Gleichzeitig ist das Vertrauen unter denjenigen, die ihre finanzielle Situation als gut einschätzen, doppelt so hoch: 50 Prozent. Dies entspricht den Ergebnissen der führenden Länder in Bezug auf diesen Indikator. In den Niederlanden und den skandinavischen Ländern liegt der Vertrauensgrad zum Beispiel bei über 60 Prozent.
Bei den armen Russen liegt der Vertrauensgrad jedoch nur bei 11 Prozent. Der Unterschied in Sachen Vertrauen zwischen Arm und Reich in Russland ist damit so groß, dass man meinen könnte, es handele sich um verschiedene Länder.
Darüber hinaus untersuchte der IS RAS den Grad des Vertrauens zwischen den verschiedenen Völkern Südrusslands. Am niedrigsten war das Vertrauen bei den Russen – nur 28 Prozent. Am höchsten war es bei den Türken mit 50 Prozent. Das Vertrauen der Armenier liegt bei 42,6 Prozent. Es stellt sich heraus, dass es auch nach diesem Parameter innerhalb Russlands quasi zwei Länder gibt – Russen und Nicht-Russen.
„Soziologen erklären diesen Unterschied mit der Armut und der Selbstwahrnehmung der „Unsicherheit“ der russischen Bevölkerung in Südrussland. Erklärungen aus Fokusgruppen:
„Wir haben Probleme in der interethnischen Sphäre aufgrund des depressiven Charakters der Gebiete… aufgrund des Mangels an Arbeitsplätzen, des Wassermangels, der schlechten Entwicklung von Wohnungsmarkt und Versorgungseinrichtungen, des Arbeitsmarktes und der wirtschaftlichen Spaltung der Bevölkerung. Hinzu kommen Landmangel in der Umgebung von Siedlungen, teure Pachtpreise für Grundstücke, Probleme bei der Bodennutzung und den landwirtschaftlichen Techniken. Die Vertreter slawischer Volksgruppen werden alt und gehen weg und die jungen Leute wollen in die Großstädte ziehen. Die Vertretung ethnischer Gruppen in der Kommunalverwaltung nimmt somit zu.
Doch im Gegensatz zu anderen Nationen reagieren die Russen auf diese Probleme nicht mit mehr Zusammenhalt, sondern eher mit mehr Rückzug („jeder für sich“)“, kommentiert der Journalist und Blogger Pawel Prjannikow dieses Phänomen auf seinem Telegramkanal „Deuter“.
Bereits 2013 zeigte die Studie „Verbraucherverhalten durch das Prisma von Vertrauen und Verantwortung“ des unabhängigen Meinungsforschungsinstituts Lewada-Zentrum, dass die Russen sich kaum einander vertrauen: Während das Bewusstsein und der Wohlstand zunehmen, nimmt das Vertrauen in die Mitmenschen ab. Und laut dem International Social Survey Programme stimmten 2008 in 29 Ländern durchschnittlich 45 Prozent der Befragten der Aussage „Menschen kann man vertrauen“ zu. In Russland waren es nur 27 Prozent.
Auf die Entfremdung oder Atomisierung der russischen Gesellschaft weist auch die Politologin Ekaterina Schulmann hin: „Die Atomisierung ist in der Tat eines der Hauptmerkmale der russischen Gesellschaft und hat in den letzten 20 Jahren nur noch zugenommen. Selbst in der ersten Hälfte der 90er Jahre, als alle gewohnten gesellschaftlichen Strukturen zusammenbrachen, war ein höherer Prozentsatz der Befragten der Meinung, dass man den Menschen grundsätzlich vertrauen kann“.
[hrsg/russland.NEWS]
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