Sommerurlaub auf Russisch: Das Datscha-PhänomenFotos © Daria Boll-Palievskaya 2019

Sommerurlaub auf Russisch: Das Datscha-Phänomen

Laut einer Statistik sind fast die Hälfte aller Stadtbewohner in Russland stolze Besitzer eines Ferienhauses. Und zwar neben einer Stadtwohnung. Wie passt das mit der Vorstellung über einen ziemlich niedrigen Lebensstandard in Russland zusammen, wo das durchschnittliche Gehalt unter 500 Euro liegt?

In Wirklichkeit handelt es sich um ein rein russisches Phänomen – um die Datscha. „Eine Datsche oder Datscha ist ein Grundstück mit einem Garten- oder Wochenendhaus, das der Freizeit und der Erholung dient und Hobbygärtnerei ermöglicht“, klärt uns Wikipedia auf.

Angeblich kann man die Spuren der ersten Datschen bis zu Peter dem Großen verfolgen, der seine treuen Diener mit Landgrundstücken beschenkte. Von Puschkin bis Gorki – in der russischen Literatur kann man viel über Datscha-Sitten und Bräuche lesen. Anton Tschechow hat sogar humoristische „Regeln für das Leben auf der Datscha“ zusammengefast. „Um Ihr Haus vor dem Eindringen von Verwandten und Freunden zu schützen, verbreiten Sie das Gerücht über Ihre Unzuverlässigkeit“, schrieb der russische Dichter.

Zu einem richtigen Massen-phänomen wurde das Wochenendhaus erst 1949. Damals verabschiedete der Ministerrat der UdSSR eine Resolution „Über die kollektive und individuelle Gartenarbeit und den Gartenbau von Arbeitnehmern und Angestellten“ und legte damit den Grundstein für Datschen für alle Sowjetbürger. In den 1950er Jahren erhielten die Stadtbewohner Grundstücke für den Gartenbau und den Bau von sommerlichen Plattenbauten. Vor allem in den 90ern Jahren des wilden Kapitalismus stellten Datschen für viele Menschen in Russland die einzige Überlebenschance dar: Man ernährte sich von dem, was man auf seinem Sommergrundstück anbauen konnte.

Heute ist es zum Glück anders. Lediglich ein Drittel der Russen (32 Prozent) nehmen ihre Datscha als Quelle für zusätzliches Einkommen wahr. Mehr als die Hälfte (56 Prozent) ziehen es vor, im Sommer auf die Datscha zu fahren, um Picknicks zu veranstalten oder gar nichts zu tun. Laut einer Studie des Allrussischen Zentrums für Meinungsforschung (WZIOM) hat sich die Zahl solcher Menschen in den letzten 14 Jahren fast verdoppelt — von 32 Prozent im Jahr 2005. Laut derselben Umfrage sind 14 Prozent der Russen in der Sommersaison in ihrem Landhaus zwei bis drei Mal pro Woche, 11 Prozent verbringen Zeit auf dem Land mehrmals im Monat, und nur 8 Prozent der Befragten leben auf den Datschen fast den ganzen Sommer.

Direktor für strategische Entwicklung von WZIOM Stepan Lwow sagte in einem Interview: „Die Art der Nutzung von Datschen war immer ein klarer Indikator des sozialen Wohlbefindens. Heute hat man keine Angst vor einem möglichen Mangel an Nahrungsmitteln, dafür gibt es andere Gründe für unsere anhaltende Liebe zum Zeitvertreib auf der Datscha. Das Ferienhaus bedeutet für Russen inzwischen ökologisches Obst und Gemüse, Entspannung, Erholung und Hobby“. Eine Umfrage von 2015 hat ergeben, dass 47 Prozent der Russen, die ein Grundstück besitzen, dort Gemüse und Obst für eigenen Bedarf anbauen. Gleichzeitig gaben 27 Prozent an, auf dieses angebaute Gemüse und Obst nicht verzichten zu können.

Laut Angaben einer Immobilienfirma sind 22 Prozent der Käufer von Ferienhäusern junge Leute unter 30. Bis heute gehört es bei vielen Familien zur Tradition: Großeltern verbringen den ganzen Sommer auf der Datscha und sind dazu „verpflichtet“, auf die Enkelkinder aufzupassen. Wieviel Jugendliche tatsächlich ihre Freizeit auf den Datschen ihrer Eltern oder Großeltern verbringen, kann man schlecht statistisch erfassen. Aber man braucht nur durch die Datscha-Siedlungen gehen um festzustellen, dass dort nicht nur Senioren ihre Freizeit verbringen. Auch etwas anderes stellt man bei so einem Spaziergang fest: eine Datscha ist sehr demokratisch: Inzwischen stehen neben uralten Holzhäuschen sowjetischen Baustils im desolaten Zustand bombastische Villen mit Swimmingpools, dessen Zäune höher sind als bei manch einem Gefängnis.

„Die Stadt diktiert uns den Tagesablauf und Dresscode. Auf der Datscha fällt das alles weg, man kann tragen, was man will, sich schlafen legen, wann man will“, erklärt die Psychologin Sofja Naratowa-Botschawer in einem Zeitungsinterview.

Die Datscha-Saison beginnt normalerweise Anfang Mai und dauert bis Ende August. In dieser Zeit kommt es in russischen Großstädten zu gigantischen Wochenendstaus. Bis zu vier Stunden brauchen die gestressten Stadtbewohner manchmal, um endlich bei ihren geliebten Datschen anzukommen. Entfernungen bis zu 70 Kilometer nehmen die Moskauer oder die Petersburger in Kauf, wenn sie ein Landhäuschen besitzen. Aber der Stress ist schnell vergessen, wenn man endlich da ist – auf seinen eigenen sechshundert Quadratmetern. Obligatorische Fleischspieße auf dem Grill, ein Gang in die selbst gebaute kleine Banja, frische Luft atmen, vielleicht Pilze sammeln oder in einem Waldsee schwimmen und natürlich die endlosen „russischen“ Gespräche über Gott und die Welt führen… Was will man eigentlich mehr vom Leben?

[Daria Boll-Palievskaya/russland.NEWS]

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