Skandale ohne Konsequenzen: Warum in Russland „der gute Ruf“ nicht zähltFoto © Archiv Alexander Tsypkin

Skandale ohne Konsequenzen: Warum in Russland „der gute Ruf“ nicht zählt

Vor kurzem kam es in Russland zu einem Skandal. An einer Werbekampagne der Supermarktkette WkusWil „Rezepte für Familienglück“ nahmen Stammkunden teil, die über ihre Lieblingsprodukte erzählten. Auch ein lesbisches Paar war dabei. Dies war das erste Mal, dass LGBT von einer so großen russischen Marke unterstützt wurde.

Die Veröffentlichung der Anzeige mit dem lesbischen Paar löste einen Sturm in russischen Netzwerken aus. Einige Nutzer bezeichneten eine solche Werbemaßnahme als Propaganda für Homosexualität, verurteilten WkusWil und riefen zum Boykott des Supermarktes auf, während andere die Lebensmittelkette unterstützten und sie für ihren Mut und ihre Toleranz lobten. Der Artikel wurde schließlich zurückgezogen, und Vertreter von WkusWil entschuldigten sich bei allen, die sich von der Anzeige betroffen fühlten. Diese Haltungsänderung löste eine neue Welle der Empörung aus, wobei sich diejenigen, die den Supermarkt ursprünglich unterstützt hatten, nun gegen ihn wandten, seine Entscheidung als feige bezeichneten zu einem Boykott der Kette aufriefen. Doch es kam zu keinem Boykott.

Der Bestsellerautor Alexander Tsypkin ist der Frage nachgegangen, warum in Russland die Mechanismen von Ansehen, Ruf und Leumund nicht funktionieren. russland.NEWS druckt mit freundlicher Erlaubnis des Autors die gekürzte Version des Textes, der auf seiner Facebookseite veröffentlicht wurde.

„Sobald die epische Geschichte mit WkusWil passierte, explodierte mein Telefon regelrecht mit den Bitten um einen Kommentar. Natürlich wurde ich gefragt, was ich von der Entschuldigung halte, die WkusWi bei der galaktischen Bevölkerung und der Regierung für die Verwendung des grässlichen LGBT-Bildes in der Werbung durch die versehentliche und gar nicht böswillige Handlung der Marketingabteilung. Die Buße war öffentlich, mit praktisch der gesamten Belegschaft des Unternehmens, samt Angehörigen und Haustieren.

Ich habe einen Kommentar abgegeben und dann gesagt: „Lassen Sie uns in zwei oder drei Wochen auf dieses drängende Thema zurückkommen, wenn wir die wirklichen Konsequenzen dessen, was passiert ist, verstanden haben.“ Die Journalisten antworteten: „Auf jeden Fall! Wir können es kaum abwarten!“. Doch ich musste alle ärgern: „Sie werden mich nicht anrufen, denn in drei Tagen werden Sie sich nicht mehr an den Fall erinnern, und alle, die jetzt schwören, diesen Laden niederzubrennen, werden ruhig an der Kasse anstehen“. Wir haben die Gesellschaft der ultimativen Konsumentengleichgültigkeit geschaffen, und sie lebt nach ihren eigenen Gesetzen. Seitdem sind einige Wochen verfangen. Ich bekam nicht einen einzigen Anruf.

Warum nicht?

Ich beginne mit einer These. In Russland hat das Verbraucherverhalten nichts mit Reputation zu tun, oder besser gesagt, es gibt überhaupt keine Reputation als Markenwert, wenn es konkret um die Abstimmung mit dem Geldbeutel geht. Mit anderen Worten: Sowohl Homophobe als auch Schwule werden Produkte von WkusWil kaufen, wenn es für sie profitabel ist, und werden es nicht tun, wenn es für sie unprofitabel ist. Es macht absolut keinen Unterschied, was sie in den sozialen Medien sagen. Ähnlich verhält es sich mit Reaktionen auf Äußerungen oder aufgedeckte Geschichten aus der dunklen Vergangenheit von allen möglichen Prominenten.

In den USA wurde Kevin Spacey nur wegen des Gerüchts über sein unangemessenes Verhalten im letzten Jahrhundert aus der Filmbranche geworfen. Und das nicht, weil die Produzenten so hochmoralisch sind, sondern wegen des realen Risikos, dass sie verklagt werden oder das Publikum nicht ins Kino geht. In unserem Land kann man Tonnen schmutziger Kommentare über einen Schauspieler lesen, aber sie werden das Einspielergebnis des Films nicht beeinflussen. Ganz allgemein gilt dies sogar für politische Persönlichkeiten. Ich glaube nicht, dass unsere Wähler, wenn sie jemanden auf irgendeiner Parteiliste sehen, der weit davon entfernt ist, moralisch perfekt zu sein, diese Information als Motivation betrachten werden, dagegen zu stimmen.

Nun komme ich zur Erklärung dieses Phänomens.

  1. Der regelmäßige totale Wechsel des ideologischen Vektors in Russland entwertete jede Ideologie, und dies wird auf die Beurteilung der trivialsten Situationen extrapoliert. Wenn wir die ewige Verwirrung darüber haben, wer Stalin ist – blutiger Tyrann oder Retter des Vaterlandes, Verwirrung über den Status von Gorbatschow, Unklarheit über die Rolle von Lenin, warum dann eine Lanze darüber brechen, ob der Laden Schwule unterstützt oder nicht? Kurzum, es gibt nichts, woran man glauben kann, man glaubt nur an das Geld, und das ist bekanntlich bis zum Anschlag parfümiert.
  2. Zweiter Grund ist die „Netzwerk-Schizophrenie“. Menschen setzen ihren ganzen Eifer für starke Taten in Netzwerken ein. Sie liken einen Beitrag von einer Wohltätigkeitsorganisation, überweisen aber kein Geld. Sie stellen virtuelle Kerzen auf, ohne zu fragen, wie man trauernden Familien helfen kann. Sie kritisieren heftig die Regierung, gehen aber nicht zu den Wahlen, und so weiter. Menschen führen unterschiedliche Leben. Sie sind mutig und online prinzipientreu, aber offline träge und gleichgültig, weil es ihnen so vorkommt, als hätten sie schon alles Notwendige getan.
  3. Drittens – das Ultrakurzzeitgedächtnis. „Was für ein WkusWill?“, wird schon am nächsten Tag gefragt. Zu viele emotional bedeutendere Ereignisse passieren jeden Tag. Das Land ist groß, und so wie es bisher organisiert ist, passiert jeden Tag etwas. Man kann sich nicht an alles erinnern.
  4. Und zuletzt – eigenes niedriges Niveau von Moral und Bewusstsein. Unter dem gemeinsamen Mantra: „Leben und andere leben lassen“ kann man so viel interpretieren, dass Dante kalte Schweißperlen über den Rücken geflossen wären und er notgedrungen seiner Höllentour ein paar Runden hinzugefügt hätte.

Diese Liste habe ich ganz schnell und ohne Sorgfalt zusammengestellt. Sie kann bestimmt fortgesetzt werden.

Übersetzung aus dem Russischen

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