„Sehr beängstigend“ – Moskau trotzt der Pandemie@ Irina Shymchak

„Sehr beängstigend“ – Moskau trotzt der Pandemie

Die Pandemie weitet sich allen Bemühungen zu trotz sie zu stoppen oder zumindest einzudämmen. Die Zahlen sind alarmierend. Nach offiziellen Angaben für die letzten 24 Stunden sind in Moskau 4.573 neue Fälle von Infektionen mit dem Coronavirus bestätigt. 90 Prozent der speziellen COVID-19 Kliniken sind schon belegt. Die Stadtregierung versucht eine Balance zwischen harten Maßnahmen und Bitten an die Moskauer.

Am 1. Oktober unterzeichnete der Moskauer Bürgermeister Sergei Sobjanin einen Erlass über die obligatorische Versetzung von Mitarbeitern ins Home-Office. Diese Maßnahme trat am 5. Oktober in Kraft. Unternehmen und Organisationen mussten 30 Prozent der Mitarbeiter in die Fernarbeit schicken. Dies betraf vor allem ältere Menschen und Menschen mit chronischen Krankheiten.

Und trotzdem werden jeden Tag Zehntausende Moskauer dafür bestraft, ohne Schutzmaske die Metro zu betreten. Es gibt sogar Statistiken, auf welchen Stationen man besonders viele Passagier erwischt. Insgesamt wurden von Mai bis Oktober fast 100.000 Passagiere in Moskauer Verkehrsmitteln wegen des Nichttragen von Masken und Handschuhen mit einer Geldstrafe von fast 480 Millionen Rubel belegt. Die Kontrollen werden verschärft. Bei meinen täglichen Fahrten durch die Stadt beobachte ich Polizei und Sicherheitskräfte in der Metro, wie sie Menschen ermahnen, Masken zu tragen und einigen auch Strafzetteln ausstellen.

Immer wieder fallen mir Schilder in Schaufenstern auf: „Zu vermieten“. Der Laden meiner Lieblingskette in der Nähe meiner Wohnung Brüder Karavajev – ein Bistro, wo man Leckeres auch zum Mitnehmen kaufen kann – hat geschlossen. „Ja, einige Filialen mussten wir schließen. Und ich glaube nicht, dass sie wieder aufmachen werden“, erklärt mir die Bedienung in einer anderen Filiale, während ich meine Salate, Frikadellen und verschiedene Brotsorten einpacken lasse. „Wir bekommen auch nicht alle Produkte, die wir benötigen“.

Doch Pandemie hin oder her, Menschen wollen ausgehen, das ungewöhnlich warme Wetter in diesem Herbst genießen. Die Temperaturen stiegen am 14. Oktober auf 20 Grad, was acht Grad über der Norm liegt. Da ich meinen Test auf COVID-19 bestanden habe, kann ich der Versuchung nicht widerstehen, etwas aus dem immer so reichen und bunten Kulturangebot der russischen Hauptstadt auszusuchen. Ich entscheide mich für die Helikon Oper, eins der schönsten Operntheater das ich kenne. Die Oper „Aschenputtel“ des zeitgenössischen Komponisten aus Aserbaidschan Leonid Weinstein hat ihre russische Prämiere in Moskau gefeiert. Die soziale Distanz muss auch im Theater eingehalten werden: Man muss Masken und Handschuhe tragen. Ein wunderschönes Bühnenbild, leichte Musik, tolles Ensemble … Doch das sonst immer ausverkaufte Theater bleibt halb leer. Wie überlebt man als Theater in dieser Zeit, will ich vom Intendanten der Helikon Oper Dmitry Bertman wissen? „Sehr schwer. Es ist beängstigend für das Publikum, beängstigend auch für Artisten auf der Bühne. Aber wir haben einen großen Vorteil. Da unser neues Gebäude erst vor fünf Jahren gebaut wurde, verfügen wir über ein sehr modernes Lüftungssystem. Wir können die gesamte Luft in zehn Minuten erneuern, also wir nehmen sie von der Straße und tauschen sie in zehn Minuten vollständig aus. Und das rettet uns wahrscheinlich. Alle unsere Künstler sind auf COVID-19 getestet. Bisher ist nur ein Musiker krank geworden, und wir haben das gesamte Orchester ausgewechselt.“ Doch wie war es für die Künstler während der Quarantäne ohne Zuschauer zu sein? „Wir haben viele Produktionen online gezeigt und neue Videos von unseren Aufführungen aufgenommen. Wir sind unserem Publikum sehr dankbar, das es uns nicht verraten hat und treu geblieben ist. Dank Online sind wir mit unseren Zuschauern in Kontakt geblieben. Laut Gesetzgebung dürfen wir nur 50 Prozent unserer Sitzplätze veräußern, aber alle Karten sind immer ausverkauft“, erklärt Bertman.

Am nächsten Tag lese ich in der Zeitung, dass Moskauer nur mit einem Personalausweis eine Theaterkarte kaufen können. Ihre Dokumente werden am Eingang nochmals überprüft.  Die Entscheidung sei vor dem Hintergrund der aktuellen epidemiologischen Situation getroffen worden. Die Maßnahme soll den Besuch von Bürgern über 65 Jahren in öffentlichen Räumen einschränken. Doch bis jetzt ist diese Maßnahme nicht in Kraft. Noch nicht …

Nach der Opernvorstellung gehen wir essen. Das Restaurant Ugoljok liegt auf einer der schönsten Straßen Moskaus, in der Nähe von der Helikon Oper und dem Konservatorium. Entsprechend hoch sind auch die Preise. Hier verkehrt gut betuchtes Publikum, das sich für Kunst und Kultur interessiert. Wir dürfen nur zwei Stunden bleiben und natürlich Masken tragen. Unser Kellner führt uns ausführlich in die Tiefen der komplizierten Speisekarte ein, empfiehlt einen passenden Wein (ein deutscher Riesling) und rät mir davon ab, zum Steak noch eine Beilage zu nehmen. Er behält in allen Punkten Recht. Der Laden ist bis auf den letzten Tisch voll. Wenn die Kellner keine Schutzmasken trügen, würde man hier nichts von der Krise merken.

Moskau trotzt dem Coronavirus weiter. Und ich glaube, dass diese Stadt diesen Kampf gewinnen wird.

[Daria Boll-Palievskaya/russland.NEWS]

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