Russischer Botschafter ins polnische Außenministerium gerufen

Russischer Botschafter ins polnische Außenministerium gerufen

[Kommentar] Im vergangenen Jahr vertrauten Putin von aller Europäern am wenigsten die Polen. Sieben Prozent – ein Wert, der seit 2007 konstant geblieben ist. Und weiter fallen wird, wofür der russische Präsident mit einem Strauß von Botschaften über die Rolle Polens während der Ereignisse vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs selbst gesorgt hat.

Dafür, dass Putin erneut drastische Worte fand, wurde der russische Botschafter Sergej Andrejew ins polnische Außenministerium berufen. Putin hatte über damaligen polnischen Botschafter (1934 bis 1939), Jozef Lipski, gesagt, der Botschafter sei „ein Bastard/Drecksack, ein antisemitisches Schwein (сволочью и антисемитской свиньей), anders kann man es nicht sagen.“ Er soll Adolf Hitler ein Denkmal für die Umsetzung der Idee der Vertreibung von Juden nach Afrika versprochen haben.

Andrejew bestätigte den Termin im polnischen Außenministerium. „Ich hatte ein Gespräch mit dem Sonderbeauftragten des polnischen Außenministeriums für „Östliche Partnerschaft“ Jan Hofmokl. Das Gespräch war hart, aber korrekt. Hofmokl beschrieb die Position der polnischen Seite, und ich, ehrlich gesagt, auch die Position der russischen Seite“,

Die polnische Presseagentur (PAP) berichtete, dass „während des Gesprächs im Namen der polnischen Behörden heftig gegen historische Unterstellungen protestiert wurde, die wiederholt von Vertretern der höchsten Behörden der Russischen Föderation zum Ausdruck gebracht wurden. “

Wladimir Putin hatte am 24. Dezember vor Vertretern des Verteidigungsministeriums den polnischen Botschafter in Nazideutschland, Jozef Lipsky, mit Worten beschrieben, die auf internationalem Parkett selten zu hören sind. Der russische Präsident gehört zu denjenigen Führungspersönlichkeiten, in denen die Hassworte der Straße immer wieder durchflackern oder aufbrausen. Nun, warum dürfen Alpha-Menschen nicht auch gelegentlich wütend sein? Oder ein neues Hobby haben, wie das Medienportal The Bell vermutet: Putin scheint ein neues Hobby zu haben – die Rolle Polens in den Ereignissen, die zum Zweiten Weltkrieg führten, „aufzudecken“.  Er ist so von seinem Hobby eingenommen, dass er das Thema bei vier verschiedenen öffentlichen Auftritten innerhalb einer Woche zur Sprache brachte. Am 19. Dezember bei der Jahrespressekonferenz Putins. Am folgenden Tag während eines Gipfeltreffens der Führer von acht postsowjetischen Staaten, am 24. Dezember während eines Treffens im Verteidigungsministerium und schließlich am 25. Dezember bei einem Treffen mit russischen Wirtschaftsführern.

Putins Besessenheit scheint die Antwort auf eine Entschließung des Europäischen Parlaments vom September zu sein, in der es heißt, der Molotow-Ribbentrop-Nichtangriffspakt zwischen der Sowjetunion und Deutschland von 1939 habe den Weg für den Beginn des Zweiten Weltkriegs geebnet. Laut Putin tragen alle Europäische Demokratien, die 1938 das Münchner Abkommen mit Hitler unterzeichnet haben, die gleiche Verantwortung für den Krieg. Und Polen besonders, da es nach dem Münchner Abkommen ein Stück Tschechoslowakei annektiert habe. Diese EU-Entschließung „stellt Deutschland und die Sowjetunion fast auf das gleiche Niveau und deutet an, oder sagt sogar direkt, dass die Sowjetunion voll für den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs verantwortlich ist“, so Putin.

„Wir haben alles in den Akten. Gott sei Dank, wir haben genug Archivdokumente, die wir als Trophäen aus europäischen Ländern nach dem Zweiten Weltkrieg bekommen haben!“ Putin bezeichnet sie „Materialien aus den Archiven“ der Jahre 1938 und 1939, ging „aber nicht näher auf Einzelheiten ein“. Einen kleinen Blick auf seine Motive hinter der Offenlegung neuer Aktenbefunde gewährte er dennoch: „Wir haben genug Material, um zu verhindern, dass jemand die Erinnerung unserer Väter, unserer Großväter ruiniert. Und von allen, die ihr Leben auf den Altar des Sieges über den Nationalsozialismus legten.“

Damit schlägt Putin einen großen Bogen in die Gegenwart der russisch-polnischen Politik – in die Debatte über Zerstörungen an Denkmälern und Friedhöfen sowjetischer Erinnerungskultur. Putin vergleicht „Menschen dieser Art“, die derzeit Denkmäler für sowjetische Soldaten zerstören, mit den „Leuten“, die damals mit Hitler verhandelten.

Warum investiert Putin so viel Energie und Emotionen in diese Debatte? Geht es um eine Lehre aus der Vergangenheit, um die Eingliederung der Krim und die Ausgrenzung der Ostukraine zu rechtfertigen? Oder geht es um die Zukunft und die für Putin offene Frage der „natürlichen“ Westgrenze Russlands? Rüttelt Putin am bisher praktizierten Recht des Westens, unter dem Deckmantel des „Völkerrechts“ Korrekturen von Grenzen eines „starken Staates“ mit „historischer und nationaler Erfahrung“ zu verweigern? In dieser Kontroverse könnte die Essenz der politischen Lehre Putins stecken.

Ob Putin im Alter von 68 Jahren altersweise „große Gedanken“ über Geschichte, Zeit und andere existenzielle Fragen umtreiben? Der Politologe Kirill Rogow wies darauf hin, dass Putin nicht nur Polen kritisiert, sondern auch den Westen für die Anwendung des „internationalen Völkerrechts“ zur Festlegung territorialer Grenzen verurteilt.

Putin schlägt einen weiteren Bogen, indem den „starken“ mit dem „gedemütigten“ Staat verknüpft. Über den Vertrag von Versailles zieht es Putin an die Seite Deutschlands. Den hält er für Deutschland ungerecht und demütigend. Deswegen habe Deutschland versucht, seine „natürlichen historischen Grenzen wiederherzustellen“. In Putins Rede an die Staatsoberhäupter der GUS wird seine Sympathie für den deutschen Kampf gegen die Demütigung wie eine Rechtfertigung zukünftiger Korrekturen der Folgen aus der Demütigung „Ende der UdSSR“ geklungen haben.

Der Vertrag von Versailles verletzte/demütigte Deutschland – mit den bekannten Folgen. Das Münchner Abkommen legte den Grundstein zum Ende der Sowjetunion? Die Länder, die in solchen Situationen das Recht zur Definition neuer Grenzen nutzen, machen dabei Schnäppchen. Das will sich Putin nicht mehr länger unipolar vorschreiben lassen. Starke Staaten definieren ihre Grenzen von innen – wohl besonders starke gedemütigte Staaten. Das Recht des Stärkeren in einer multipolaren Welt gilt immer noch – eine klare Absage an jede Form der Weltregierung, egal ob sie in Form von Moral, Gewissen, Klima oder Sicherheit daherkommt.

Nach diesem Ausflug in deutsch-russische Gegensätze „man möge uns doch nicht mit Deutschland in Sachen Zweiter Weltkrieg vergleichen“ versus „uns geht es doch jetzt genauso wie Deutschland damals“ soll Putin selbst ausführlich zu Worte kommen: „In diesem Zusammenhang bitte ich Sie, sich ein paar Minuten Zeit zu nehmen, um zu den Ursprüngen zurückzukehren, die ich für sehr wichtig halte. Ich schlage vor, wie sie sagen, vom „Mittelfeld“ aus zu beginnen, wie sie sagen, aus den Ergebnissen des Ersten Weltkrieges, aus den Versailler Friedensbedingungen, die 1919 im Vertrag von Versailles niedergelegt wurden.

Für Deutschland wurde der Vertrag von Versailles zum Symbol eklatanter Ungerechtigkeit und nationaler Demütigung. Tatsächlich bedeutete es, Deutschland auszurauben. Ich werde Ihnen einige Zahlen nennen, weil sie sehr interessant sind.

Deutschland musste den Triple-Entente-Ländern (Russland hat den Kreis der Siegermächte verlassen und den Versailler Vertrag nicht unterzeichnet) eine astronomische Summe von 269 Milliarden Goldmark zahlen, das entspricht 100.000 Tonnen Gold. Zum Vergleich würde ich sagen, dass die Goldreserven im Oktober 2019 in den USA 8.130 Tonnen, in Deutschland 3.370 Tonnen und in Russland 2.250 Tonnen betragen. Und Deutschland musste 100.000 Tonnen bezahlen. Bei einem derzeitigen Goldpreis von 1.464 US-Dollar für eine Feinunze wären die Reparationen etwa 4,7 Billionen Dollar wert, während das deutsche BIP in den Preisen von 2018, wenn meine Daten korrekt sind, nur 4 Billionen Dollar beträgt.

Es genügt zu sagen, dass Deutschland die letzten 70 Millionen Euro erst am 3. Oktober 2010 zahlte. 

Ich glaube, und viele, darunter auch Forscher, sind sich einig, dass der sogenannte Geist von Versailles ein Umfeld für eine radikale und revanchistische Stimmung geschaffen hat. Die Nazis nutzten Versailles aktiv in ihrer Propaganda, um Deutschland von dieser nationalen Schande zu befreien, und der Westen gab den Nazis freie Hand für Rache.

Als Referenz kann ich sagen, dass der Mann hinter dem französischen Sieg im Ersten Weltkrieg, Marschall Ferdinand Foch, der französische Kommandeur, über die Ergebnisse des Vertrags von Versailles sprach und einmal eine berühmte Prophezeiung aussprach, zitiere ich: „Dies ist kein Frieden. Es ist ein Waffenstillstand für zwanzig Jahre.“ Er sollte damals Recht behalten. 

US-Präsident Woodrow Wilson warnte, dass es ein großer Fehler wäre, Deutschland eines Tages einen Grund zur Rache zu geben. Der international bekannte Winston Churchill schrieb, dass die Wirtschaftsartikel des Vertrages bösartig und dumm seien und eindeutig bedeutungslos seien.

Die Versailler Weltordnung führte zu vielen Konflikten und Meinungsverschiedenheiten. Sie basieren auf den Grenzen neuer Staaten, die von den Gewinnern des Ersten Weltkrieges willkürlich in Europa festgelegt wurden. Das heißt, die Grenzen wurden umgestaltet.“

Der Vorwurf, dass Stalin zusammen mit Hitler den Zweiten Weltkrieg begonnen hat, scheint unfair und vermessen. Der zweite Weltkrieg war ein Projekt von Hitler – Stalin träumte von einem anderen. Zwischen 1939 und 1941 entpuppte sich die UdSSR für viele Osteuropäer zweifellos als Aggressor-Land. Nach der Unterzeichnung geheimer Protokolle zum Molotow-Ribentrop-Pakt folgte die Aggression der UdSSR gegen sechs osteuropäische Staaten, von denen drei annektiert (baltische Staaten), und drei – Finnland, Polen und Rumänien – in wesentlichen Gebieten besetzt wurden. Dabei nicht von einer Allianz mit Hitler zu sprechen, widerspricht grundlegenden Tatsachen der Geschichte des modernen Europas der Moderne.

Putins jüngste emotionalen Eskapaden gegen Polen verzerren die Geschichte, womit er genau das tut, wessen er die September-Resolution des Europäischen Parlaments beschuldigt.

[hrsg/russland.NEWS]

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