„Russische Jungs spielen jetzt Dsjuba und nicht Messi“

Der Fußballkommentator des russischen Senders „Perwy kanal“ Pavel Sanosin darüber, was die Fußballmeisterschaft für Russland brachte

Pavel, vor der WM waren Sie sehr optimistisch, was die Leistung der russischen Nationalmannschaft angeht und waren damit in der absoluten Minderheit.

Pavel Sanosin: Ich darf daran erinnern, dass noch eine Woche vor der WM die National Elf mit Dreck beworfen wurden. Wahrscheinlich nur 5% der Russen, und ich auch, sagten, hey, das sind super Jungs. Aber ich bin grundsätzlich ein Optimist. Und wenn man Fan einer Mannschaft ist, muss man an sie glauben. Aber sogar ich bin Anfang Juni pessimistisch geworden, denn ich war mit der Sbornaja in Österreich und habe das Freundschaftsspiel gegen die Türkei gesehen. Das hat einen ziemlich traurigen Eindruck hinterlassen. Aber wie es sich herausstellte, waren diese Vorbereitungen darauf ausgerichtet, dass sich die Mannschaft eben zur WM richtig zeigt. Und es hat funktioniert. Natürlich war auch etwas Glück dabei, aber vor allem die Einstellung stimmte, diese allgemeine Begeisterung. Zum ersten Mal seit 10 Jahren nach der Europameisterschaft von 2008 gab es so was wie einen Zusammenschluss um die Mannschaft.

Und das passierte ziemlich schnell

Pavel Sanosin: Genau. Kaum fingen sie an zu gewinnen, gab diese 180 Grad Wendung. Die 95%, die über die Mannschaft geschimpft haben, brachen jetzt im unendlichen Jubel aus. Das ist sehr russisch, wir mögen keine Zwischentöne. Bei uns muss alles ganz oder gar nicht sein. So sind wir eben.

Die Euphorie war wirklich unglaublich. Aber was passiert danach?

Pavel Sanosin: Jetzt erleben wir eine Art Katerstimmung. Wenn man einen Monat lang ein Fest feiert, dann ist es schwierig danach zur Tagesordnung, zum normalen Leben überzugehen. Aber gestern fand z.B. der russische Super Cup statt, und zwar im ausverkauften Nowgoroder Station, wo auch das Spiel gegen Uruguay lief. Ich denke, diese Begeisterung bleibt noch einige Monate. Man hat noch nicht das Gefühl, dass es vorbei ist.

Was denken Sie, machen jetzt die Verantwortlichen ihre Hausaufgaben? Wird sich was im Nationalfußball in Russland verändern?

Pavel Sanosin: Ich denke nicht. Denn wir haben sehr gute Ergebnisse gezeigt. Bei einer Blamage hätte man vielleicht noch gewollt, etwas radikal zu ändern und nach Lösungen gesucht. Jetzt haben alle das Gefühl, dass alles bestens läuft. Die Zeit wird zeigen, ob wirklich alles gut ist oder das nur ein zufälliger Ausbruch war. Aber eins steht fest: wir haben Superstadien. Fast in jeder großen russischen Stadt gibt es die Möglichkeit, Fußball zu schauen. Und allein das soll uns nach vorne bringen.

Fußball schauen ist etwas Passives. Als Boris Becker 1985 Wimbledon gewann, begann  Deutschland Tennis zu spielen. Ist der Fußballfunke jetzt in die Massen übergesprungen? Gibt es generell Begeisterung für den Fußball in Russland?

Pavel Sanosin: Auf jeden Fall! Bei meinen Freunden, bei ihren Kindern, alle wollen jetzt Fußball spielen. Und russische Jungs spielen auf Bolzplätzen Dsjuba, Akinfejew und Tscheryschew, und nicht mehr Messi oder Ronaldo. Sie haben jetzt neue, russische Helden! Aber der Weg von einem Fußballverein zum Profifußball ist lang. Und solange man nicht so ein perfektes Förderungssystem wie in Deutschland hat, wird auch nichts gelingen. Ein solches System braucht viel Zeit, und wir warten ungern. Und auch hochkarätige Fachkräfte kommen nicht vom Mond, die muss man züchten, was auch sehr viel Zeit und Geduld kostet. Das ist nicht unsere Art, wir machen alles im Galopp. Aber vom Enthusiasmus werden wir noch lange zerren können.

Sie führten das Interview mit Artjom Dsjuba, als er in Tränen ausbrach.

Pavel Sanosin: Ein sehr emotionaler Moment. Er kam von der Dopingkontrolle und war sehr betrübt, wollte keine Interviews geben. Aber dann erkannte er mich, wir sind nämlich gut befreundet, kam auf mich zu und sagte: „Komm, Pascha ich möchte was sagen“. Und wir sendeten grade live. Ich stellte meine Frage, sah, dass sein Lächeln etwas nervös wirkte. Und dann fing er an zu reden, hatte einen Kloß im Hals und weinte los.
Hatten Sie mit Kollegen aus anderen Ländern während der WM Kontakt? Wie waren ihre Eindrücke von Russland?

Pavel Sanosin: Ja, natürlich. Mit Journalisten aus Frankreich, Bulgarien, anderen Ländern. Und natürlich mit ehemaligen berühmten Fußballern. Alle waren zuerst überrascht, dann begeistert und dann entstand eine wahre Liebe zur Fußballweltmeisterschaft und zu Russland als Gastgeberland. Ich bin stolz, dass wir in diesem Monat die Meinung über unser Land ändern konnten.

[Daria Boll-Palievskaya/WM-2018.RU]

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