Pawel Durow bleibt in U-Haft: Frankreich bündelt internationale Klagen gegenüber Telegram

Pawel Durow bleibt in U-Haft: Frankreich bündelt internationale Klagen gegenüber Telegram

Die Pariser Staatsanwaltschaft hat ihre angekündigte Pressemitteilung im Zusammenhang mit der Verhaftung des Telegram-Gründers Pavel Durow veröffentlicht. Demnach wurden die Ermittlungen am 8. Juli eingeleitet. Die Untersuchungshaft des Geschäftsmannes endet nach französischem Recht am 28. August. Danach müssen die Ermittler ihn entweder freilassen oder das Gericht bitten, ihn zu verhaften.

In der von der Pariser Staatsanwältin Laura Beccuau unterzeichneten Pressemitteilung (.pdf),  geht es um folgende Anklagepunkte:

  1. Mittäterschaft beim Betrieb einer Online-Plattform mit dem Ziel, illegale Transaktionen in einer organisierten Gruppe durchzuführen.
  2. Weigerung, den zuständigen Behörden auf Anfrage Informationen oder Dokumente zur Verfügung zu stellen.
  3. Beihilfe zum Besitz pornografischer Darstellungen Minderjähriger.
  4. Beihilfe zur Verbreitung pornografischer Darstellungen Minderjähriger in einer organisierten Gruppe.
  5. Beihilfe zum Erwerb, zur Beförderung, zur Lagerung oder zum Verkauf von Betäubungsmitteln.
  6. Beihilfe zum Verkauf oder zur unerlaubten Weitergabe von Geräten, Werkzeugen, Programmen oder Daten, die dazu bestimmt oder geeignet sind, sich Zugang zu Datenverarbeitungssystemen zu verschaffen.
  7. Beihilfe zum organisierten Betrug.
  8. Bildung einer kriminellen Vereinigung zur Begehung eines Verbrechens oder Vergehens, das mit einer Freiheitsstrafe von mindestens fünf Jahren bedroht ist.
  9. Wäsche von Erträgen aus einer oder mehreren Straftaten als Mitglied einer organisierten Gruppe.
  10. Bereitstellung kryptografischer Dienste zum Schutz der Privatsphäre ohne beglaubigte Erklärung.
  11. Bereitstellung eines kryptografischen Werkzeugs, das über die Authentifizierung oder die Überwachung der Dateiintegrität hinausgeht, ohne vorherige Registrierung.
  12. Die Einfuhr eines kryptographischen Werkzeugs, das Authentifizierung oder Überwachung der Dateiintegrität bietet, ohne vorherige Registrierung.

In der Pressemitteilung der Staatsanwaltschaft heißt es, dass das Verfahren gegen Durow gegen Unbekannt eingeleitet wurde. Daraus kann geschlossen werden, dass noch keine Anklage gegen den Unternehmer persönlich erhoben wurde. Durow bleibt in Haft. Er wird derzeit verhört.

Um den spektakulären Fall beurteilen zu können, muss man dessen Geschichte in Russland, der EU, den USA und vielen anderen Ländern berücksichtigen. Von Anfang an verdankte Telegram seinen Erfolg der prinzipienfesten Haltung von Pavel Durow, niemals mit irgendwelchen Sonderdiensten zusammenzuarbeiten. Die Geheimdienste bezahlten ihn mit gleicher Münze – in allen wichtigen Ländern, in denen Telegram tätig ist, wurden Klagen gegen Durow erhoben.

Bis 2014 war Durow Miteigentümer und Leiter von Vkontakte, dem größten sozialen Netzwerk Russlands, das er gegründet hatte. Nach einem unübersichtlichen Konflikt mit den anderen Anteilseignern von Vkontakte verkaufte Durowseinen Anteil an die Mail.Ru Group von Alischer Usmanow und konzentrierte sich auf die Entwicklung des Messengers Telegram.

In einem Interview mit TechCrunch sagte er, er habe Russland verlassen und habe nicht die Absicht, zurückzukehren. Später behauptete er, er habe seine Anteile auf Druck des FSB verkauft, der von Vkontakte die Herausgabe der persönlichen Daten von Teilnehmern des ukrainischen Euromaidan verlangte, was Durow jedoch ablehnte.

Durow, der nie nach Russland zurückgekehrt ist, hatte 2017 einen neuen Konflikt mit dem FSB – bereits als Gründer von Telegram. Der FSB verlangte von dem Messenger die Herausgabe von Verschlüsselungscodes, um auf die Korrespondenz der Nutzer zugreifen zu können. Durow weigerte sich, woraufhin Roskomnadsor im April 2018 begann, Telegram in Russland zu sperren. Doch die Behörde war der Aufgabe nicht gewachsen. Der Dienst nutzte effektiv Methoden, um die Sperrung zu umgehen, er war kostenlos herunterzuladen, und die Zahl der Nutzer wuchs weiter.

Nach zwei Jahren erfolgloser Sperrung beschloss die Behörde 2020, alle Beschränkungen für Telegram aufzuheben. Die russische Zeitung RBK behauptete, dass die Diskussion über die Aufhebung der Sperrung auf der Ebene der Präsidialverwaltung geführt und vor dem Hintergrund der Nutzung des Dienstes zur Information über das Coronavirus intensiviert wurde.

Eine der Quellen von RBK formulierte die „Signale“ auch so: „Es wäre ein positives Beispiel dafür, dass wir gute Geschäftsleute haben, die in ihr Heimatland zurückkehren.“ Ein Zeichen für die sich erwärmenden Beziehungen zwischen Telegram und den russischen Behörden war die Teilnahme von Durows Stellvertreter Ilja Perekopski an einem Treffen zwischen Premierminister Michail Mischustin und Vertretern der Industrie.

Durow selbst hatte es jedoch nicht eilig, nach Russland zu fliegen. Der Telegram-Gründer nahm 2013 die Staatsbürgerschaft der Karibik-Insel St. Kitts und Nevis an, die es ihm ermöglicht, ohne Visum in die EU und das Vereinigte Königreich zu reisen“, wie er betonte. Im August 2021 veröffentlichten die französischen Behörden ein Dekret, das ihm die französische Staatsbürgerschaft verlieh, und 2022 erhielt er laut Forbes-Quellen einen VAE-Pass. Durowverbrachte die meiste Zeit in den Emiraten.

In den ersten Jahren nach dem Start von Telegram waren die europäischen Geheimdienste besonders besorgt über die mangelnde Bereitschaft von Telegram, „im Kampf gegen den Terrorismus zu kooperieren“. Im Jahr 2017 sagte Europol-Direktor Rob Wainwright, dass das Management des Messengers die Kommunikation mit ihnen nicht vollständig ignoriere, aber es gebe bei den Verhandlungen „nicht das gleiche Maß an Kooperation“ wie „mit Facebook, Twitter und anderen“.

Die britische Times schrieb, Telegram sei ein beliebter Messenger für junge ISIS-Sprecher geworden. Zwei Jahre später führten Europol und Telegram eine koordinierte zweitägige Operation gegen Konten durch, die mit der Terrorgruppe in Verbindung stehen, obwohl deren Anhänger weiterhin auf der Plattform präsent sind. „ISIS ist offensichtlich immer noch auf Telegram präsent, aber nicht mehr in so großem Umfang“, sagt Tim Squirrell vom Institute for Strategic Dialogue.

Eine Studie des niederländischen Senders NOS ergab, dass allein im Jahr 2023 rund 2,5 Millionen Drogenanzeigen auf Telegram gepostet wurden. Der niederländische Justizminister sagte, dass die Moderation der Plattform „in erster Linie in der Verantwortung von Telegram“ liege. Andere Plattformen sollten in der Lage sein, ihre Inhalte selbst zu bereinigen, aber im Falle von Telegram sei es „schwierig, mit dem Management in Kontakt zu treten und Maßnahmen zu vereinbaren“, betonte er. Die litauische Polizei erklärte Anfang des Jahres , sie habe Spezialeinheiten zur Überwachung von Telegram und anderen Apps eingerichtet, um das Wachstum des Online-Drogenhandels zu stoppen.

Im März beschloss der Oberste Gerichtshof Spaniens, Telegram aufgrund von Beschwerden von Medienunternehmen, deren Inhalte der Dienst ohne Genehmigung heruntergeladen hatte, in dem Land zu sperren, entschied jedoch einige Tage später , die Sperrung aufzuschieben, um die möglichen Folgen dieser Maßnahme für die Nutzer zu untersuchen.

Ende Mai 2024 berichtete Bloomberg über die mögliche Aufnahme von Telegram unter die strengeren Anforderungen des EU-Gesetzes über digitale Dienste (DSA) zur Bekämpfung von Fehlinformationen. Grund dafür war die Zahl der Nutzer: Die Europäische Kommission vermutete, dass der Messenger mehr als 45 Millionen aktive Nutzer in der EU hat (Telegram selbst behauptet, dass es nur 41 Millionen sind). Sollte dies zutreffen, sollte der Messenger den Status einer „sehr großen Online-Plattform“ (VLOP) erhalten. In diesem Fall wird Telegram verpflichtet sein, eine „Anlaufstelle“ für die Interaktion mit Behörden und Nutzern zu schaffen, Transparenz bei Entscheidungen zur Inhaltsmoderation gewährleisten, Daten mit der Europäischen Kommission und nationalen Behörden teilen, sowie Forschern Zugang zu den Daten der Plattform gewähren, um systemische Risiken zu erkennen und zu verstehen.

Die für die Regulierung von Telegram zuständige EU-Behörde ist die belgische Regulierungsbehörde für den Telekommunikations- und Informationsmarkt BIPT. Dort hat man noch nicht bestätigt, dass Telegram mehr als 45 Millionen monatlich aktive Nutzer in der EU hat, aber die Gespräche mit Telegram und Vertretern der Europäischen Kommission laufen.

Zurzeit dominiert WhatsApp weiterhin den Messenger-Markt in Europa. In Großbritannien, Deutschland und Frankreich beispielsweise wird dieser Messenger zwischen 80 und 90 Prozent der Bevölkerung genutzt. Telegram hingegen hat bisher nur bescheidene Zahlen vorzuweisen: In Großbritannien beträgt seine Verbreitung nur 3 Prozent und in den Niederlanden 8 Prozent. In Italien und Spanien ist die Situation etwas besser – dort wird Telegram zwischen 25 und 32 Prozent der Bevölkerung genutzt.

Ein Experten aus Russland vermutet, dass die Verhaftung von Pavel Durow in Frankreich ein Wendepunkt im Wachstum der Popularität von Telegram in Europa sein könnte, ähnlich wie es in Russland geschah: Telegram begann seinen Aufstieg, nachdem die russischen Behörden 2018 versucht hatten, es zu blockieren.“

Durow hat wiederholt über Versuche von US-Behörden gesprochen, ihn persönlich und Telegram-Mitarbeiter unter Druck zu setzen, um an Nutzerdaten zu gelangen. Im Jahr 2017 erzählte er, dass der Druck im Jahr 2014 begann. Jedes Mal, wenn er in die USA kam, wurde er von FBI-Agenten verhört. Zunächst stellten sie Fragen zu Vkontakte und seinen Beziehungen zu russischen Behörden, später interessierten sie sich mehr für Telegram.

Im Jahr 2016 kamen zwei FBI-Agenten zu seinem Haus, das Durow über Airbnb gemietet hatte, und boten ihm an, einen informellen Kontakt herzustellen, damit Telegram im Falle einer terroristischen Bedrohung bestimmte Nutzerdaten an die US-Geheimdienste weitergeben würde. Durow lehnte ab. Dann habe das FBI versucht, einen der Telegram-Entwickler zu bestechen. Die Agenten „überschwemmten“ ihn mit allgemeinen Fragen über die Architektur von Telegram und die Funktionsweise von Verschlüsselungsalgorithmen, „lobten“ ihn als Experten und baten ihn, das Gespräch vor Durowgeheim zu halten. Sie versuchten, mit dem Entwickler zu verhandeln, damit er heimlich Informationen über das Innenleben des Messengers, einschließlich der Einführung neuer Funktionen, weitergibt. Im Gegenzug versprachen sie, „Zehntausende von Dollar“ zu zahlen, behauptete Durow, aber der Entwickler lehnte ab: „Wir bezahlen sie sehr gut.“

In einem kürzlichen Interview mit dem Journalisten Tucker Carlson beschrieb Durow einen Versuch von US-Geheimdiensten, Werkzeuge in die Telegram-App einzubringen, um Sicherheitsfunktionen zu umgehen. Der Plan war, dies über einen der Telegram-Entwickler zu tun, der Durow bei seinem letzten Besuch in den USA begleitete (wann genau, hat er nicht angegeben).

In diesem Sommer wurde Telegram in Großbritannien beschuldigt, Extremisten eine Plattform zu bieten, die nach dem Mord an drei Mädchen in der nordenglischen Stadt Southport am 29. Juli 2024 randalierten.

Wie das britische Institute for Strategic Dialogue, das sich auf die Bekämpfung von Extremismus spezialisiert hat, schrieb, verbreiteten Extremisten über Telegram-Kanäle die migrantenfeindliche und antiislamische Information, dass es sich bei dem Angreifer um einen muslimischen Flüchtling handelte, der sich illegal im Land aufhielt. Es stellte sich heraus, dass der Verdächtige in Großbrittanien in einer Familie von Ruandern geboren wurde, die 2002 eingewandert war.Die Moderatoren von Telegram entfernten die extremistischen Kanäle erst nach einer Woche.

Seit Mitte Juli 2015 ist Telegram in China aus politischen Gründen vollständig blockiert. Angeblich nutzten „Menschenrechtsaktivisten den Dienst, um Angriffe gegen die Kommunistische Partei und die Regierung des Landes zu koordinieren“. Dieses Jahr entfernte Apple die App auf Wunsch Pekings aus dem chinesischen App Store.

Ein Gericht in Indien sperrte Telegram im Jahr 2022 und verpflichtete es, Daten über Kanäle offenzulegen, die urheberrechtsverletzendes Material verbreiten. Die Plattform wurde aufgefordert, Telefonnummern, IP-Adressen und E-Mail-IDs herauszugeben, die zum Hochladen illegaler Inhalte verwendet wurden. Telegram erwiderte, dass dies gegen seine Datenschutzrichtlinien und die Gesetze von Singapur verstoße, wo sich die physischen Server zur Speicherung der Nutzerdaten befinden.

Nach der Verhaftung von Durow in Frankreich wurde über die Ermittlungen gegen Telegram in Indien bekannt; Telegram könnte dort gesperrt werden, wenn sich die Vorwürfe der Erpressung und des Glücksspiels bestätigen.

Die indonesischen Behörden schränkten den Zugang zu Telegram im Jahr 2017 aufgrund der Aktivitäten von Terroristen und anderen lokalen Radikalen auf der Plattform ein. Die Behörden blockierten die Webversion des Messengers und bereiteten sich darauf vor, den Zugang zur mobilen App zu beschränken, aber Durow stellte sich unerwartet auf die Seite der indonesischen Regierung und versprach, ihren Forderungen nachzukommen. Der Eigentümer des Messengers meldete die Sperrung von Kanälen mit Terrorismusbezug und erklärte sich bereit, bei Bedarf zusätzliche Maßnahmen zu ergreifen und eine spezielle Gruppe von Moderatoren mit Kenntnissen der indonesischen Sprache und Kultur zu bilden. Nach einem persönlichen Treffen zwischen Durow und dem indonesischen Minister für Kommunikation und Informationstechnologie wurden schließlich alle Beschränkungen aufgehoben.

Im Jahr 2018 blockierten die iranischen Justizbehörden nach Russland auch Telegram, ohne auf die offiziellen Gründe einzugehen. Fest steht nur, dass Irans oberster Führer Ajatollah Ali Chamenei einige Tage vor Inkrafttreten der Entscheidung ankündigte, seinen Telegram-Kanal zu schließen, um „nationale Interessen zu schützen“ und „das Monopol“ des Dienstes zu beseitigen. Obwohl sowohl Facebook als auch Twitter in dem Land bereits gesperrt worden waren, existierten Chameneis offizielle Konten auf diesen Plattformen weiter und wurden aktiv mit Fotos des Ajatollahs und seinen Äußerungen gefüllt. Zum Zeitpunkt der Sperrung hatte Telegram 40 Millionen Nutzer im Iran. Im September 2021 berichtete das iranische Statistikzentrum, dass immer noch 45 Millionen Iraner Telegram nutzen und täglich 15 Milliarden Nachrichten austauschen.

Seit Herbst 2017 ist Telegram auch für Nutzer in Pakistan ohne VPN unzugänglich. Die lokalen Behörden blockierten es ohne Vorwarnung und haben noch keinen offiziellen Grund genannt. Vermutlich steht er im Zusammenhang mit terroristischen Aktivitäten.

Der Kreml äußerte sich gestern zurückhaltend. Präsidentensprecher Dmitri Peskow wusste nicht, was genau Herrn Durow vorgeworfen wird. Er sagte auch, dass PräsidentPutin den Milliardär noch nie getroffen hat. Auch die Europäische Kommission und das französische Außenministerium lehnten es gestern ab, die Verhaftung zu kommentieren, „um die Unabhängigkeit der Justiz nicht zu beeinträchtigen“.

 

COMMENTS